Die Invasion der Ukraine hat eine heftige Debatte über die deutsche Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte ausgelöst. Ehemalige Vertreter der traditionellen Ostpolitik verwehren sich deswegen einer Generalabrechnung, Sigmar Gabriel beispielsweise spricht von "Externer Link: Wahnsinn, heute jeden zu diskreditieren." Die dahinterliegende Botschaft: Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein in der deutschen Russlandpolitik. Oder vielleicht doch?
Der Blick der osteuropäischen Nachbarn – seit 2004 EU-Mitglieder und genaue Beobachter deutscher Russlandpolitik – verrät viel und hilft, besser zu verstehen, zu welchem Zeitpunkt entscheidende Weichen gestellt oder eben nicht gestellt wurden. Wo und wann ist deutsche Russlandpolitik falsch abgebogen? Was wären alternative Handlungsoptionen gewesen? Vier historische Momente sind dafür beispielhaft.
Erstens, der Nato-Gipfel 2008 in Bukarest – ein potentieller historischer Scheideweg, der stattdessen jedoch zu einem politischen Schwebezustand wurde. Der Widerstand Deutschlands und Frankreichs gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens führte zu einem Kompromiss, der das Schlimmste beider Optionen vereinte: Die Länder könnten irgendwann Nato-Mitglieder werden – was jedoch keine zusätzliche Sicherheit bot und stattdessen das Risiko russischer Aggression mit sich brachte.
Kurz darauf brach der Krieg in Georgien aus, der eine Zäsur hätte sein können, es aber nicht war. Obwohl Merkel den baltischen Staaten versprach, dass es keine Rückkehr zu normalen Beziehungen mit Russland geben werde, hieß es kurz darauf aus Berlin, es bräuchte mehr, nicht weniger Zusammenarbeit mit Russland.
Für die ost- und mitteleuropäischen Staaten war der Georgien-Krieg Ausdruck russischer imperialer Politik – für Paris und Berlin eine durch georgische Leichtfertigkeit ausgelöste Eskalation. Das war ein typischer Fehler deutscher Russlandpolitik: Die militärische Bedrohung durch Russland zu unterschätzen. Der Georgien-Krieg wurde als Ausnahme statt als Regel gesehen. Nach dem Krieg hat Russland dann die umfassende Modernisierung seines Militärs begonnen – eine europäische Sanktionspolitik ist ausgeblieben.
Zweitens, arbeitete Berlin stattdessen an "Annäherung durch Verflechtung", das vom Auswärtigen Amt 2006 entwickelte Konzept für Russland. Aus Sorge, mit der von Polen und Schweden – nicht von Deutschland – vorgeschlagenen Östlichen Partnerschaft für die Nachbarländer werde EU-Russlandpolitik vernachlässigt, trieb Deutschland eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland voran. Diese operierte mit der Annahme einer Interessenkonvergenz: Auch Moskau wolle seine Wirtschaft und Gesellschaft modernisieren.
Zwar trugen ost- und mitteleuropäische Staaten die Modernisierungspartnerschaft teils mit. Sie gaben sich jedoch nicht der Illusion hin, dies könnte zu einem Wandel führen. Ihre Warnungen vor Russlands autokratische Entwicklung wurden von Berlin als historischer Determinismus bei Seite geschoben. Aus deutscher Perspektive war die Frage, welche Richtung Russland in Zukunft einschlagen würde, noch offen. Ein weiterer Fehler Berlins: Statt die Zivilgesellschaft in Russland ernsthaft zu fördern, setzte Deutschland auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Eliten, gekleidet in den Begriff der Modernisierung.
Dies änderte sich – drittens – erst mit der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine. Berlin legte seine Illusionen über Russland größtenteils ab und nahm eine Führungsrolle in Europa ein. Die polnischen und baltischen Nachbarn zeigten sich positiv überrascht: Zum ersten Mal war die gemeinsame Sanktionspolitik wichtiger für Berlin als die Sonderbeziehung zu Russland. Die Minsker Abkommen – so nachteilig sie für die Ukraine waren – brachten die Kämpfe vorläufig zum Stillstand. Als in den darauffolgenden Jahren jedoch deutlich wurde, dass Minsk-II nicht funktionierte, verpasste Berlin es, eine Alternative zu entwickeln – nämlich die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen, sich selbst zu verteidigen.
In der Annahme, Russland folge weiterhin einer vergleichbaren Logik in seiner Außenpolitik wie die eigene Logik, verfolgte Berlin eine Politik der Kompartmentalisierung mit Moskau – die Aufteilung von Bereichen der Kooperation und der Konfrontation. Das trug Anfang 2022 zu der Fehleinschätzung bei, der russische Truppenaufmarsch sei nur Verhandlungstaktik, da kein rationales Kosten-Nutzen-Kalkül für einen Angriffskrieg auf die Ukraine zu sprechen schien. Die ideologische Radikalisierung Putins und seines Regimes ist in der Analyse sträflich vernachlässigt worden.
Viertens wurde trotz aller Warnungen der ost- und mitteleuropäischen Nachbarn und der USA an Nord Stream II und dem Mythos festgehalten, Russland sei ein zuverlässiger Lieferant und Energie ein stabilisierender Faktor, selbst bei zunehmend leeren Gasspeichern. Die Annäherung durch Verflechtung hat bei den Energiebeziehungen funktioniert – und zu einer zu großen Nähe von Wirtschaft und Politik zwischen Deutschland und Russland geführt.
Es ist ein bedrückendes Bild deutscher Russlandpolitik. Besonders auffällig: Es war oft das Vermeiden von Entscheidungen, das Aus-dem-Weg-gehen bei unangenehmen Wahrheiten, das Beharrungsvermögen alter Denkstrukturen, das zu Fehlern geführt hat. Das hat auch mit politischen Kontinuitäten und mangelndem Austausch mit Fachexpertise zu tun. Es wurde angepasst, aber nicht verändert – "kompartmentalisiert", aber nicht strategisch neu gedacht.
Politiker taten sich schwer, der eigenen Wählerschaft reinen Wein einzuschenken über Russlands Entwicklung, und beschworen Folklore der Vergangenheit. Deutschlands Ansatz hat sich weiterentwickelt, aber langsam und graduell, und er hat damit nicht angemessen reagiert auf eine russische Politik, die sprunghaft und immer schneller abglitt in Diktatur und kriegerische Aggression. Das deutsche Weiterlaufen lassen stand im Gegensatz zum Putinschen Schlussstrich ziehen. Putin wollte mit aller Macht den Status Quo beenden. Deutschland unbedingt am Status Quo festhalten.
Olaf Scholz hat im Interview mit dem Externer Link: Spiegel die Literatur von Masha Gessen zitiert. Sie hat bereits in 2017 Russland als totalitären Staat beschrieben. Dieser Begriff tauchte in der deutschen Russlandpolitik damals noch nirgendwo auf. Nein, es war nicht alles falsch. Aber es sind oft die Fehler – mehr als das, was richtig gemacht wurde – die lange nachhängen.