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Selenskyjs vs. Putins Rhetorik / Gesellschaftlicher Widerstand / Deutschlands Blick auf die Ukraine / Selenskyjs Erfolge / Ukrainische Verhandlungsposition / Russische Kriegsverbrechen (11.04.2022) Analyse: Zweierlei Spiegelungen. Putins und Selenskyjs rhetorische Strategien Analyse: Was mobilisiert den ukrainischen Widerstand? Analyse: Deutschland, die Ukraine, Russland und das Erbe des deutschen Kolonialismus in Osteuropa Analyse: Herausragende Leistung: Selenskyj als Präsident der geeinten Ukraine dekoder: Neutrale Ukraine – ein Ausweg aus dem Krieg? Dokumentation: Human Rights Watch: Ukraine: Apparent War Crimes in Russia-Controlled Areas Dokumentation: Internationale Hilfen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Chronik: 2. bis 10. März 2022

Analyse: Zweierlei Spiegelungen. Putins und Selenskyjs rhetorische Strategien Ukraine-Analysen Nr. 266

Ulrich Schmid Von Ulrich Schmid (Universität St. Gallen)

/ 10 Minuten zu lesen

Neben den militärischen Kampfhandlungen gibt es auch einen verbalen Schlagabtausch zwischen dem ukrainischen und dem russischen Präsidenten. Dabei unterscheiden sich Selenskyjs und Putins Rhetorik stark voneinander.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während einer Video-Ansprache in Kyjiw. (© picture-alliance/AP)

Zusammenfassung

Der Krieg in der Ukraine wird nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in den Medien ausgetragen. Einem nervösen, ja hasserfüllten Putin steht ein mutiger Selenskyj gegenüber, den einige Kommentatoren schon den »Churchill« des 21. Jahrhunderts nennen. Putin spiegelt westliche Vorwürfe an Russland zurück, während Selenskyj patriotische Narrative seiner internationalen Gesprächsparter aufnimmt und auf die aktuelle Situation in der Ukraine anwendet.

Putins "ewiges Russland" als Gegenbild zum "zerfallenden Westen"

Am 18. März 2022 versammelten sich mehrere Zehntausend Unterstützer Putins im Moskauer Luschniki-Stadion. Die Fernsehübertragung der bizarren Veranstaltung wurde mitten in der Rede des Präsidenten unterbrochen – angeblich wegen eines technischen Problems. Der wahrscheinlichere Grund waren die Buh-Rufe und Pfiffe, die aus dem mit Bussen herbeigekarrten und mit Handgeld ausgezahlten Publikum kamen. In seiner kurzen Rede zitierte Vladimir Putin aus dem Johannes-Evangelium: "Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt." Die russischen Soldaten würden "Schulter an Schulter" kämpfen und sich im Notfall wie ein Bruder vor die Kameraden werfen, um die feindliche Kugel auf sich zu nehmen. "Eine solche Einheit gab es bei uns schon lange nicht mehr." Putin hatte bereits in seiner Kriegserklärung vom 24. Februar 2022 zur inneren Geschlossenheit Russlands aufgerufen: "Ich rechne mit der konsolidierten patriotischen Position aller parlamentarischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte."

Es ist kein Zufall, dass Putin hier die Einheit des russischen Volkes beschwört. Russland ist aus seiner Sicht das Gegenbild des zerfallenden Westens, der sich in einer globalen McDonaldisierung auflöst. Der Liberalismus ist für Putin ein gescheitertes Gesellschaftsmodell, weil die universale Geltung der Menschenrechte die konservativen Werte der "einzigartigen russischen Zivilisation" einzuebnen droht. Seit 2020 sind nicht nur die "Ideale der Vorfahren" und der "Glaube an Gott", sondern auch die direkte tausendjährige Nachfolge der Russischen Föderation aus der Kiewer Rus in der Verfassung festgeschrieben (Art. 67, 2).

In Putins Wahrnehmung gehört die Ukraine zu Russland

In seinem Artikel "Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer" vom Juli 2021 hatte Putin eine religiöse Metaphorik eingesetzt und von der "Dreieinigkeit des russischen, des ukrainischen und des belarussischen Volkes" gesprochen. Wie die göttliche Trinität bilden die ostslawischen Völker eine höhere Einheit, die nach der "geopolitischen Katastrophe" von 1991 wiederhergestellt werden muss. Dass Putin sich selbst in diesem Prozess implizit eine messianische Rolle zuschreibt, gehört zu seiner geschichtsphilosophischen Verblendung. Die Einheit der Ukraine und Russlands beschwor Putin am 21. Februar 2022 ein weiteres Mal, als er die Anerkennung der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk ankündigte: "Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums. Es geht um unsere Leute, um Menschen, die uns nahestehen, unter ihnen sind nicht nur Kollegen, Freunde, Menschen, mit denen wir gemeinsam gedient haben, sondern auch Verwandte, wir sind mit ihnen über Bluts- und Familienbande verwoben." Putin behauptete, dass "die heutige Ukraine voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen wurde, genauer: vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Dieser Prozess begann im Grunde gleich nach der Revolution von 1917. Lenin und seine Mitstreiter gingen dabei äußerst rücksichtslos gegen Russland selbst vor, von dem Teile seiner eigenen historischen Gebiete abgetrennt und abgestoßen wurden."

Wie Riccardo Nicolosi kürzlich herausgearbeitet hat, bedient Putins Rhetorik drei Ebenen: eine sachlogische, die sich oft einer juristischen Argumentation bedient, eine historische, die ein ideologisches Narrativ präsentiert, und schließlich eine affektive, die das Publikum emotional ansprechen will. Die drei Ebenen lassen sich gut in Putins kurzer Ansprache vom 2. März 2022 beobachten. Putin versuchte hier verzweifelt, die verheerende erste Kriegswoche kommunikativ in den Griff zu bekommen: Auf der sachlogischen Ebene kündigte er die Zahlung von 12,4 Millionen Rubel (rund 105.000 Euro) an die Hinterbliebenen von gefallenen Soldaten an, auf der historischen Ebene unterstrich er noch einmal, er werde niemals seine Überzeugung aufgeben, dass die Russen und die Ukrainer ein Volk seien, und auf der affektiven Ebene kündigte er eine Schweigeminute für die Gefallenen an und beschimpfte die ukrainische Regierung ein weiteres Mal als "Neonazis". Putin wechselt bei seinen Auftritten oft zwischen diesen Ebenen hin und her. Allerdings wendet er selten die Strategien des sogenannten "schwarzen PR" an, die auf den staatlichen Fernsehkanälen allgegenwärtig sind.

Putins verzerrte Spiegelbilder

Ein zentrales Motiv ist in Putins Reden die Spiegelung westlicher Vorwürfe. So bezeichnete er am 24. Februar 2022 die USA und ihre europäischen Verbündeten als "Imperium der Lüge". Damit greift er einen rhetorischen Angriff des Westens an die Adresse Russlands auf und wendet ihn gegen seinen Gegner. Etwas Ähnliches gilt für das Motiv der militärischen Bedrohung. Ebenfalls in seiner Erklärung vom 24. Februar zeichnete Putin ein düsteres Bild eines NATO-Aufmarsches an Russlands Grenzen: "Es ist wohlbekannt, dass wir im Verlauf der vergangenen dreißig Jahre beharrlich und mit Geduld versucht haben, die Führungen der NATO-Staaten von den Prinzipien der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu überzeugen. Als Antwort auf unsere Vorschläge haben wir stets entweder zynischen Betrug und Lügen erhalten, oder es wurde Druck auf uns ausgeübt, man wollte uns erpressen. Und währenddessen wurde die Nordatlantik-Allianz ungeachtet unserer Bedenken immer weiter vergrößert. Die Militärmaschine ist in Bewegung, und, wie gesagt, sie steht schon an unseren Grenzen." Mit diesem Klagelied richtet er den westlichen Vorwurf der russischen Kriegstreiberei durch den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze gegen die NATO selbst, die nach der Osterweiterung Russland bedrohe. Ultimativ überhöht Putin die angebliche Kriegsgefahr aus der Ukraine mit dem infamen Argument, Selenskyjs Regierung bestehe aus Faschisten. Damit wandelt er sein zentrales historisches Legitimationsnarrativ ab, das den sowjetischen Sieg über Nazideutschland feiert. Genau so wie im "Großen Vaterländischen Krieg" die deutschen Nazis bekämpft wurden, müssen heute die angeblichen ukrainischen Neonazis vernichtet werden.

Putin wiederholt in seinen Reden gebetsmühlenartig sein eigenes ideologisiertes Geschichtsnarrativ, das exklusiv auf das "historische Russland" fokussiert. Er richtet sich dabei an das heimatliche Publikum und kümmert sich wenig um ein internationales Echo. Er nimmt Kritikpunkte des Westens an Russland auf und wirft sie mutatis mutandis zurück.

Selenskyj: Die Ukraine gehört zu Europa

Wolodymyr Selenskyj hingegen spiegelt in seinen Videoauftritten vor allem vertraute narrative Elemente aus der historischen Erfahrung seiner Zielgruppen. Er greift zentrale Ereignisse auf und verweist auf bekannte Zitate, die im Erwartungshorizont seines Publikums liegen. So wandte er sich in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 in einer Fernsehansprache an die russische Bevölkerung und versuchte sie mit einem Zitat des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko auf die Bewahrung des Friedens einzuschwören: "Meinst du, die Russen wollen Krieg?"

Am 1. März 2022 sprach Selenskyj in einer Videoschaltung vor dem Europäischen Parlament. Er appellierte an die europäische Einigkeit, in die er auch die Ukraine einschloss. Anschließend machte er die Ukraine europäischer als Europa selbst und erhob ihren Widerstand gegen Russland zum Maßstab europäischen Handelns. Die Ukraine habe bewiesen, dass sie europäisch sei. Es liege nun an Europa, zu zeigen, dass es ebenso europäisch sei und die Ukraine nicht im Stich lasse: "Dann wird das Leben über den Tod siegen und das Licht über die Dunkelheit." Er schloss mit dem Ausruf, das Europa mit der Ukraine viel stärker sein werde. Mit seiner Beschwörung der europäischen Einigkeit griff er die leitmotivische Formel der "immer engeren Union" auf, die bereits 1957 in Rom beschlossen wurde, 1983 und 1986 bekräftigt wurde und schließlich Eingang fand in die Präambeln der Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon.

Selenskyjs emotionale Rhetorik kontrastiert Putins aggressive Reden

Am 4. März sprach Selenskyj ebenfalls in einer Videoübertragung zu Demonstrierenden in Frankfurt, Bratislava, Vilnius, Prag, Paris und Tiflis. Die Ansprache dauerte nur zehn Minuten. Von diesen zehn Minuten widmete Selenskyj den gefallenen ukrainischen Soldaten eine ganze Schweigeminute und eine weitere für die zivilen Opfer. Anschließend wandte er sich an die "Völker Europas" und rief ihnen zu: "Schweigt nicht, geht auf die Straßen!" Möglicherweise spielte Selenskyj mit dieser Formulierung auf das Bild des deutschen Historienmalers Hermann Knackfuß an, das den Titel "Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter" trägt. Kaiser Wilhelm II. hatte dieses Gemälde im Jahr 1895 dem Zaren Nikolaj II. geschenkt, um ihn vor der "gelben Gefahr" aus dem Osten zu warnen. Selenskyj brandmarkte nun Russland selbst als "asiatisch" – die Barbarei des Ostens wurde durch die emotional aufgeladenen Schweigeminuten noch verstärkt. Selenskyj wiederholte seine manichäische Formel und kündigte einen Sieg über die russische Armee, des Lichts über das Dunkel, des Guten über das Böse und der Freiheit über die Unfreiheit an. Seine Rede beschloss er mit einer Umkehrung des Beitritts der Ukraine zur Europäischen Union und erhob die Ukraine zum wahren Verteidiger der europäischen Werte. Er sagte: "Wenn wir fallen, fällt Europa. Ich hoffe, dass Europa ebenso standhaft bleibt wie die Ukraine. Jeder von euch ist heute ein Ukrainer."

Selenskyj greift geschickt historische Zäsuren auf, um Verbindungen zur Ukraine herzustellen

Am 8. März 2022 sprach Selenskyj vor dem britischen Unterhaus. Er griff das vielleicht bekannteste Zitat aus der englischen Literatur auf und sagte: "Die Frage ist für uns nun: Sein oder Nichtsein. Oh nein, diese Shakespeare-Frage. Diese Frage konnte während der ersten dreizehn Tagen des Kriegs gestellt werden, aber nun kann ich Ihnen die Antwort geben. Es ist definitiv ja, Sein." Selenskyj fuhr fort mit einem weiteren berühmten Zitat, diesmal von Churchill, der vor dem Unterhaus am 4. Juni 1940 zu entschiedenem Widerstand gegen die deutschen Angreifer aufgerufen hatte. Selenskyj wiederholte fast wörtlich die Formulierungen des britischen Premierministers: "Wir werden bis zum Ende kämpfen, zu See, in der Luft. Wir werden für unser Land kämpfen, was immer der Preis sein wird. Wir werden in den Wäldern, in den Feldern, an den Ufern, in den Straßen kämpfen." Damit rief Selenskyj den britischen Churchill-Mythos auf und lenkte diese historische Energie auf seine eigene Person.

Am 16. März wandte sich Selenskyj an den amerikanischen Kongress. Er verglich die Schläge gegen die Ukraine mit den Angriffen auf die USA in Pearl Harbor im Jahr 1941 und am 11. September 2001. Er sagte, die Ukrainer würden genau diese Erfahrung jeden Tag teilen. Er hob diese Parallele sogar explizit hervor: "In Ihrer großen Geschichte haben Sie Seiten, die ihnen erlauben, die ukrainische Geschichte zu verstehen. Verstehen Sie uns heute." Seine politische Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine kleidete er in ein berühmtes Zitat von Martin Luther King: "Ich habe einen Traum, diese Worte kennen Sie alle. Heute kann ich sagen, dass ich eine Not habe. Ich muss den Himmel schützen." Mit der emotionalen Verbindung von Tragödien und Pathos entsprach Selenskyj dem amerikanischen Erwartungshorizont.

Am 17. März sprach Selenskyj vor dem Deutschen Bundestag. Er erinnerte in seiner Rede an die Berliner Luftbrücke der westlichen Alliierten. "Wir können keine Luftbrücke bauen, denn von unserem Himmel fallen nur russische Bomben." Selenskyj zog einen impliziten Vergleich zwischen dem Naziregime und Putin. Er behauptete, erneut wolle man in Europa ein ganzes Volk vernichten. Durch die russische Invasion sei eine neue Mauer mitten in Europa entstanden, die Freiheit von Unfreiheit trenne. An den Bundeskanzler Scholz richtete er die Aufforderung: "Zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient." Damit spielte er auf den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan an, der diese Formulierung am 12. Juni 1987 an Gorbatschow richtete. Selenskyj übersetzte damit den gewünschten EU-Beitritt der Ukraine in die Sprache der deutschen Wiedervereinigung. Anschließend ging er noch einen Schritt weiter und erinnerte Deutschland an seine "historische Verantwortung" aus dem Zweiten Weltkrieg. Er rief zur deutschen Hilfe an die Ukraine auf, damit "nicht etwas passiert, wofür man wieder eine lange Aufarbeitung braucht".

Am 20. März 2022 trat Selenskyj vor der Knesset auf und verglich die Not der Ukraine mit dem Schicksal der Juden in Nazideutschland. Er verwies darauf, dass der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, der 24. Februar, im Jahr 1920 der Gründungstag der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands gewesen war. Er zog eine Verbindung zwischen den ukrainischen Flüchtlingen und den vertriebenen Juden im Zweiten Weltkrieg. Er prangerte die aggressive Sprache des Kremls an, der angeblich eine "Endlösung" für die "ukrainische Frage" fordere. Dieser provozierende Vergleich kam allerdings nicht bei allen Knesset-Abgeordneten gut an. Einzelne Parlamentarier warfen Selenskyj vor, den Holocaust zu relativieren und die Kollaboration von Ukrainern mit den Nazis zu verschweigen.

Fazit

Mit gemischtem Erfolg greift Selenskyj also historische Narrative seines Zielpublikums auf und will durch sprachliche Parallelen und direkte Zitate die Lage der Ukraine erklären. Durch dieses Vorgehen versucht er, die Empathie der internationalen Gemeinschaft zu wecken und die Ukraine auf die jeweilige nationale Agenda zu setzen. Allerdings ist Selenskyj mit seinem Appell an die NATO, den Himmel über der Ukraine zu schließen, nicht durchgedrungen. Dafür hat er sich aber aufgrund seines mutigen Verharrens in der Hauptstadt Kyjiw im In- und Ausland einen Heldenstatus erworben, den er auch programmatisch durch Auftritte in militärischen Hemden und T-Shirts unterstreicht.

Putin präsentiert sich in seinen Ansprachen hingegen als Staatsmann in Anzug und Krawatte, der in seiner Kommandozentrale vor zahlreichen Bildschirmen sitzt. Er signalisiert damit Autorität und Entschlossenheit. Dieses Image schließt auch die Demütigung hochrangiger Regierungsvertreter ein. So kanzelte Putin in einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar den Leiter des Auslandgeheimdienstes Sergej Naryschkin ab. Besonders pikant ist die Tatsache, dass die peinliche Szene in einer Aufzeichnung verbreitet wurde. Es handelte sich also um einen geplanten Kommunikationsakt. Ein weiteres Beispiel für die symbolische Selbsterhöhung bietet Putins Ankündigung vom 27. Februar, die russischen Nuklearstreitkräfte in Kampfbereitschaft zu versetzen. Putin ließ diesen Eskalationsschritt von Fernsehkameras filmen – im selben Raum saßen mit versteinerten Mienen der Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Generalstabschef Waleri Gerassimow. Damit waren alle drei Instanzen der russischen Befehlskette anwesend, die einen russischen Atomschlag auslösen können. Putin signalisierte, dass die schweigenden Militärs auch nicht Widerstand leisten würden, wenn er tatsächlich nukleare Waffen einsetzen würde. In seiner Gefühlskälte wirkt er unnahbarer als Selenskyj, der sich auch auf Selfies mit seinem Verteidigungsminister Oleksij Resnikow ablichtet. Solche Kontraste verstärken die westliche Wahrnehmung eines Kampfes zwischen David und Goliath, bei dem ein finsterer Kriegsverbrecher auf einen mutigen Verteidiger trifft. Den rhetorischen Kampf hat Selenskyj für sich entschieden. Ob ihm auch ein Sieg auf dem militärischen Schlachtfeld gelingt, steht auf einem anderen Blatt.

Stand: 01.04.2022

Weitere Inhalte

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seit 2011 koordiniert er ein internationales Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine (Externer Link: www.uaregio.org).