2016 hielt Arsenij Jazenjuk, ehemaliger ukrainischer Premierminister (2014–2016), eine Rede in Berlin, in der er betonte, dass die Ukraine im Donbas die Freiheit Europas verteidige. Wenn die Ukraine gegen Russland unterliege, werden russische Panzer weiter Richtung Westen rollen, warnte er. Das Publikum des politischen Berlins schüttelte den Kopf und viele wussten mit dem Pathos und den warnenden Worten wenig anzufangen.
Jetzt ist es zwei Wochen her, dass Russland – für viele vollkommend überraschend – in die Ukraine einfiel und einen brutalen Krieg auf dem europäischen Kontinent auslöste. Trotz Warnungen des Westens an Russland, unzähliger diplomatischer Bemühungen (siehe Dokumentation in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.) und harter Sanktionen. Seitdem flohen mehr als zwei Millionen Ukrainer:innen aus dem Land, mehrheitlich Richtung Europa. Dazu sind weitere Millionen innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Das UN-Flüchtlingskommissariat spricht von der am schnellsten wachsenden Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Bis zu sieben Millionen Ukrainer könnten nach Einschätzungen der EU in den kommenden Monaten das Land verlassen.
Täglich erreichen uns Bilder und Videos aus der gesamten Ukraine, die das Leid und die Zerstörung dokumentieren. Täglich spreche ich mit Familie, Freunden und Kolleg:innen in der Ukraine und höre zutiefst beunruhigende Lageberichte und immer stärker werdende Hilferufe. Städte wie Charkiw, Tschernihiw und Vororte von Kyjiw stehen fast täglich unter Beschuss. Selbst strategisch unbedeutende Orte wie Uman, Schytomyr und Bila Zerkwa wurden in den letzten Tagen aus der Luft und von Lenkraketen angegriffen. Einige Städte sind komplett eingekesselt und stehen wie Sumy oder Mariupol unter permanenten Beschuss, wo heute [09.03.2022] eine Bombe ein Geburtskrankenhaus traf.
Früh zeichnete sich ein Bild eines russischen Angriffskrieges ab, wie wir es bereits aus Grosny oder Syrien kennen. Wichtige zivile Infrastruktur, wie Krankenhäuser, Schulen, Wasser- oder Kraftwerke werden systematisch angegriffen und zerstört. Es kommen geächtete Waffensysteme in dicht besiedelten Metropolen zum Einsatz, die nur den Zweck haben, maximale Zerstörung anzurichten – von einer "Sonderoperation" gegen militärische Ziele keine Spur. Gerade in der belagerten Hafenstadt Mariupol erinnern die Bilder und Videos an eine mittelalterliche Belagerung mit Mitteln des 21. Jahrhunderts. Dort wird bewusst eine humanitäre Katastrophe herbeigeführt. Mehr als 300.000 Bürger:innen der Stadt verbleiben bis heute ohne Lebensmittel, Wasser, Strom, Gas oder Heizung. Ihnen wurde die Flucht versagt und "humanitäre Korridore" bisher stets beschossen oder vermint. Der Vize-Bürgermeister Serhij Orlow sprach am 9.3.2022 bei einem Briefing für Journalisten von mehr als 1.200 zivilen Opfern. Es seien aber so viele Tote, das man nicht mehr mit dem Zählen hinterherkomme, geschweige denn mit dem Bestatten. Der Bürgermeister von Tschernihiw berichtete davon, dass die zivilen Opfer in Schützengräben bestattet werden müssen, da der Zentralfriedhof unter Dauerbeschuss stünde. Das alles passiert nicht irgendwo, sondern in Europa.
Wie auch Jazenjuk warnten viele, vor allem mittel- und osteuropäische Politiker:innen und Expert:innen, schon lange vor Putins rücksichtsloser Politik. Seit Jahren kritisierten große Teile Europas zudem Deutschlands Alleingang in Gasfragen und den Bau von Nord Stream 1 und 2, was die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas noch vergrößerte. Kaum jemand im politischen Berlin wollte den warnenden Worten Glauben schenken. Zu sicher war man sich der besonderen deutsch-russischen Beziehungen und gab sich dem Glauben hin, dass Deutschland der Ausgleich mit Russland gelingen würde. Jetzt zeigt der russische Angriffskrieg gerade uns Deutschen schmerzhaft unsere Fehler der Vergangenheit auf. Wir müssen verstehen, dass Putin einen rücksichtslosen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und ihr Bestreben, Teil der europäischen Familie zu sein, führt – und dabei vor nichts zurückschreckt.
Trotz der nominell haushohen militärischen Überlegenheit leistet die Ukraine, inklusive der Zivilbevölkerung, den russischen Streitkräften einen beeindruckenden Widerstand. Heute kämpfen die Ukrainer geeint, wie fast noch nie in ihrer Geschichte, für ihre Freiheit und ihr Recht auf Selbstbestimmung, und damit für Werte, die die Grundlagen unserer europäischen Ordnung bilden. Nach dieser von Russland hervorgerufenen Zeitenwende kann nicht einmal mehr ausgeschlossen werden, dass Putin nicht auch noch Georgien, Moldawien, das Baltikum oder Polen angreift. Deswegen gilt es umso mehr, dass wir die Ukraine bei ihrem Kampf um Freiheit unterstützen. So pathetisch es klingen mag, aber die Ukrainer:innen verteidigen in Charkiw, Mariupol und Odesa nunmehr auch unsere europäische Freiheit. Fällt die Ukraine, gelangt eine junge europäische Demokratie in die Hände eines rücksichtslosen Despoten, der gerade auch sein eigenes Land zunehmend in eine Diktatur verwandelt.
Die tapferen Bürger:innen der Ukraine, die sich dem mit all ihrer Kraft entgegenstellen, benötigen umfassende diplomatische, ökonomische und ja, auch militärische Unterstützung. Anstatt ein paar Panzerfäuste und Luftabwehrraketen zu liefern, von denen einige aus verrosteten NVA-Beständen stammen, sollte Deutschland alles dafür tun, um die Ukrainer:innen zu befähigen, sich effektiv zu verteidigen und den russischen Vormarsch zu stoppen. In der Ukraine werden deutsche Bedenken zum möglichen Transfer von MiG-29 Kampfflugzeugen von Polen über US-Stützpunkte in die Ukraine, oder die Skepsis eines schnellen Ausstieges von russischem Öl und Gas fassungslos wahrgenommen. Die bisherigen Hilfsleistungen können somit nur der Anfang sein. Die Ukraine benötigt massive Unterstützung mit Diesel und Treibstoff sowie ungebundene Kredite in Milliardenhöhe, um ihre Versorgung aufrecht zu erhalten. Das Überleben der Ukraine ist in unserem ureigenen Interesse. Deswegen sollten wir in der jetzigen Situation alles daransetzen, die Ukraine uneingeschränkt mit allen Mitteln zu unterstützen und Russland für seinen Völkerrechtsbruch zur Rechenschaft zu ziehen und solange zu isolieren, bis es den Krieg in der Ukraine stoppt.