Wladimir Putin macht kein Geheimnis aus seiner Absicht, die GUS-Staaten in "befreundete" Vasallenstaaten eines in seiner Vorstellung "wieder auflebenden Russland" zu verwandeln. Die ersten Weckrufe erfolgten 2003, als der Kreml die Republik Moldau und die Ukraine drangsalierte. Moskau stationierte in der Straße von Kertsch Militäringenieure, um die Demarkationslinie zu verschieben und die Schifffahrtsrouten zwischen dem Asowschen Meer und dem Schwarzen Meer unter seine Kontrolle zu bringen. Die Konfrontation mit der Ukraine mündete in einem Rahmenabkommen, das eine gemeinsame Kontrolle und eine bilaterale Zusammenarbeit im Asowschen Meer festlegte.
Heute wird dieses Abkommen von Russland dazu eingesetzt, den internationalen Handel und die Fischerei der Ukraine zu behindern, wobei offen gegen die Bestimmungen des Abkommens verstoßen wird, die zu allgemein formuliert sind und somit Raum für unterschiedliche Interpretationen lassen. Ungeachtet der Anstrengungen, die von 2003 bis 2014 von verschiedenen ukrainischen Regierungen angestellt wurden, ist Russland nie bereit gewesen, diese Unklarheiten zu beseitigen.
Die erste Lehre für ausländische Staatschefs, die mit Russland zu tun haben, lautet: Putin betrachtet Abkommen, die gegenseitige Verpflichtungen beinhalten, lediglich als Instrument, um Schwachstellen bei seinem Gegenüber zu entdecken. Er wartet dann auf den richtigen Moment, um aus dem Abkommen eine Falle zu machen.
2003 war es auch, als Dmitrij Kosak, ein enger Vertrauter Putins, den Versuch unternahm, in Moldau eine "Föderalisierung" durchzusetzen, nämlich als "friedliche Lösung" für den jahrzehntelangen Konflikt zwischen der Republik Moldau und der international nicht anerkannten "Transnistrischen Moldauischen Republik", einer von Russland kontrollierten und gesteuerten Enklave. Damals wurde dieser Plan sogar von den in Moldau regierenden Kommunisten abgelehnt, die darin mit der proeuropäischen Opposition übereinstimmten.
Kosak ist heute der Vertreter Russlands bei den Verhandlungen im Normandie-Format. Er verlangt, dass die Ukraine einen "Sonderstatus" der russisch besetzten Gebiete im Donbas anerkennt, die von der Propaganda des Kremls seit 2014 als "Volksrepubliken" bezeichnet werden. Die Kernstücke dieses "Sonderstatus" ähneln sehr dem "Sonderstatus" von Transnistrien und der "Autonomie der Gagausen", die Kosak 2003 in Moldau durchzusetzen versuchte.
Die zweite Lehre, die zu ziehen ist, besagt, dass Russlands Vorschläge für einen Kompromiss oder Ausgleich auf den ersten Blick zwar vernünftig erscheinen mögen, mittelfristig jedoch für die andere Seite kontraproduktiv sind.
Russland verfolgt allein das Ziel, die Wahrnehmung des Gegenübers in Bezug auf "Sicherheit" und "Interessen" so zu beeinflussen, dass Moskau die rechtliche und kognitive Entscheidungsmacht erlangt und darüber entscheidet, wann seine Sicherheit und seine Interessen bedroht sind oder verletzt werden.
2008 marschierte Russland unter dem Vorwand einer Schutzverantwortung in Georgien ein: Putin behauptete, es geschehe ein "Völkermord" am "südossetischen Volk". Diese Aggression gegen Georgien ist weder verurteilt noch bestraft worden. Nach diesem Krieg hat Russland die besetzten Teile Georgiens als "unabhängige Staaten" und als "Verbündete" anerkannt, wobei postuliert wurde, dass dies die Grundlage für Schutzmaßnahmen darstellt, wann immer Russland diese für nötig erachtet.
2014 brachte der Kreml einseitige Beschuldigungen vor, es habe in der Ukraine ein "verfassungswidriger Staatsstreich" stattgefunden und es geschehe ein "Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung", um die Halbinsel Krim sowie Teile der ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk zu besetzen. Heute droht Russland mit der Anerkennung seiner im Donbas errichteten Marionettengebilde als "unabhängige Staaten" und mit der Legitimation seiner offensichtlichen militärischen Aufrüstung und des Aufmarsches in der Region.
Die dritte Lehre lautet: Russlands Diplomatie dient als Instrument zur Legitimierung des Einsatzes militärischer Gewalt und dazu, den betroffenen Ländern das Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen.
Dies alles erweckt den Eindruck, dass es nur wenige konventionelle Mittel gibt, mit denen in den Beziehungen zu Russland Berechenbarkeit, Gewissheit und Frieden erreicht werden können. Allerdings liefern uns einige Vorkommnisse in den ukrainisch-russischen Beziehungen Hinweise, wie dies tatsächlich unternommen werden könnte.
Der erste Hinweis erfolgte 1995 aus dem Stab des unlängst verstorbenen ersten Vorsitzenden des Geheimdienstes der Ukraine (SBU), General Jewhen Martschuk. Er hatte eine erfolgreiche Kampagne unternommen, um Russland von einem subversiven Vorgehen auf der Krim abzuhalten. Diese starken präventiven Maßnahmen und die Ausschaltung russischer Agenten auf der Krim zeigten, dass die Ukraine entschlossen ist, sich selbst zu verteidigen. Solange Russland noch nicht vollständig auf einen Konflikt vorbereitet ist, kann dieser verhindert werden, und man sollte früh radikale Maßnahmen ergreifen, um einen Konflikt abzuwenden. In der heutigen Zeit bedeutet das, dass die EU Mechanismen zur Verhängung scharfer Sanktionen und zur Verlegung schneller Einsatzkräfte in Richtung des potenziellen Konfliktgebiets beschließen muss, falls Russland militärische Vorbereitungen trifft. Die Ereignisse im Februar 2022 zeigen, dass nur die Aussicht auf eine totale Wirtschaftsblockade und eine starke militärische Unterstützung aus Europa Russland dazu bringen könnte, die Spannungen abzubauen, damit eine Konfrontation vermieden werden kann.
Der zweite Hinweis zeichnete sich 2009 ab, nachdem der russische Versuch, die Ukraine mit gestoppten Gaslieferungen zu erpressen, gescheitert war. Der Kreml musste damals akzeptieren, dass die Verträge zwischen der russischen Gazprom und der ukrainischen Naftohaz unter die Jurisdiktion eines unabhängigen Schiedsgerichts in Stockholm fallen. Das russische Interesse an stabilen Handelsbeziehungen mit dem Westen war derart groß, dass der Kreml 2016 sogar den Schiedsspruch zugunsten der Ukraine akzeptierte und die damit verbundenen Strafen 2019 zahlte.
Somit könnte eine stabile Lösung des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland dadurch erreicht werden, dass sie mit wirtschaftlichen Optionen für die größten russischen Unternehmen verknüpft wird. In dieser Hinsicht hat Deutschland die stärksten Hebel in der Hand, um im Donbas einen Frieden herzustellen. Deutschland kann nicht nur über das Schicksal von Nord Stream 2 entscheiden, sondern auch darüber, wie viel russische Energieträger auf den europäischen Markt gelangen. Anders gesagt: Es wäre vernünftig, Russland für eine echte Deeskalation mit einem Zugang zu den Öl- und Gasmärkten der EU zu belohnen. Andernfalls sollte Russland bei einer fortgesetzten Aggression mit Einschränkungen und verringertem Marktzugang bestraft werden.
Der dritte Hinweis , den wir aus den Erfahrungen der Ukraine schöpfen können, ist, dass Russland nicht die Oberhand gewinnen kann, wenn die Gegenseite geschlossen auftritt. 2014 hat die Ukraine trotz schwacher Verteidigungskapazitäten und einer dysfunktionalen Wirtschaft einer hybriden und offenen Aggression standhalten können, weil die meisten politischen und gesellschaftlichen Kräfte ihre Differenzen beiseiteschoben und zusammenarbeiteten. Das hat Odesa und Charkiw vor einer hybriden Besatzung bewahrt. Wenn also der Westen Russland wirklich abschrecken will, dann müssen die Mitgliedstaaten der EU und NATO ihre Differenzen vergessen und nach allen Wegen suchen, wie näheren und ferneren Nachbarn geholfen werden kann. Das gilt für die politischen Trennlinien innerhalb der größeren Zusammenschlüsse im Europäischen Parlament und in den Mitgliedstaaten der EU. Es betrifft auch die europäischen Sozialdemokraten und die anderen linken Kräfte: Immerhin bildete 1864 die Solidarität mit dem polnischen Aufstand gegen die russische Zarenherrschaft den Hintergrund für die 1. Internationale.
Stand: 14. Februar 2022 Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder