Einleitung
Junge Nationalstaaten zelebrieren ihre Unabhängigkeitstage gern. Jedes weitere Jahr wird als Beweis ihrer Lebensfähigkeit gedeutet. Die Summe der Erfolge soll die Legitimation des jeweiligen Staatswesens erneuern und bestätigen. Ein Jubiläum der Staatsgründung scheint daher fast immer eine Laudatio, eine Art Festschrift zu verlangen, die als Gattung bestimmten Konventionen folgt und seine Grenzen hat.
Als Vertreter der Kulturwissenschaften, die sich spätestens seit Benedict Anderson, Eric Hobsbawm, Stuart Hall oder Homi Bhabha auf die Dekonstruktion nationaler Mythen und Narrative spezialisiert haben, tut man sich bei einem solchen Anlass besonders schwer. Ganz abgesehen von den üblichen Fallen der Generalisierung und zeitlicher Distanz – wenn heute immer noch über das Erbe des Römischen Reiches oder der Habsburgermonarchie gestritten wird, kann über die flüchtigen 30 Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit etwas Bestimmtes gesagt werden?
Im Falle der Ukraine ist eine ausgewogene Bilanzierung auch durch den Krieg kompliziert. Als Ukrainist fühlt man sich geradezu verpflichtet, Apologien, Lob- und Verteidigungsreden zu halten, für das "Verstehen" der inneren Widersprüche und Fehler – gerade angesichts der äußeren Bedrohung – zu werben. Kann man sich von diesen zahlreichen Einschränkungen und Verpflichtungen beim ukrainischen Staatsjubiläum befreien, ohne die Gebote des Anlasses, aber auch die Ethik der Wissenschaft zu verletzen? Wäre hier vielleicht die offene Gattung eines Miniessays, einer Skizze angemessen?
Krieg als Zerreißprobe
Bei einem Rückblick auf die letzten dreißig Jahre stelle ich fest, dass sich meine Einschätzung gewandelt hat. Während Ende 1980er – Anfang der 1990 der eigene Nationalstaat in der Euphorie des Aufbruchs als der einzige mögliche Ausweg aus dem repressiven sowjetischen System erschien, ist die momentane Bilanz nüchterner. Vielmehr: Der Ausbruch des Krieges im Donbas und seine Folgen werfen einen tiefen, tragischen Schatten auf die jüngste ukrainische Geschichte; eine schwere Hypothek, die nicht nur knapp zwei Millionen Binnenflüchtlinge, tausende zerstörte Schicksale und Landschaften, sondern auch der stete Migrationsstrom und dramatische Bevölkerungsrückgang belegen. Erst jetzt, 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion sind seine Dimensionen oder zumindest die latenten Gewaltpotentiale seiner Desintegration zutage getreten. Dabei wäre es zu einfach, die Annexion der Krim und die darauffolgende "hybride" Kriegsführung ausschließlich als Folge der autoritären Transformation Russlands und nicht auch als Ergebnis der Widersprüche zu sehen, die die unabhängige Ukraine von innen auf diese Zerreißprobe stellten.
Aus der sicheren Distanz einer zentraleuropäischen Universität drängt sich der Eindruck auf, dass der Konflikt im Osten, vor allem die Entstehung des prorussischen Separatismus – die Träume von einem "russischen Frühling" vs. ukrainische Vision von "Europas Bollwerk" – aus großen Enttäuschungen und Erschütterungen entstanden, denen beide Gesellschaften – sowohl die ukrainische als auch russische – ausgesetzt waren. Die absurd-anachronistischen Slogans einer remilitarisierten "russischen Welt" (z. B. "Na Berlin!") genauso wie diejenigen einer wehrhaften Ukraine ("Slava Ukrajini! Herojam slava!", "Smert’ voroham!" etc.) veranschaulichen allzu deutlich, dass für die Lösung der Widersprüche der neuen postsozialistischen Situation beide Seiten eher totalitäre Traditionen der Vergangenheit als das intellektuelle Potential der (Post)Moderne mobilisierten.
Unter diesem Gesichtspunkt ist der Krieg im Osten – trotz unterschiedlicher Rollen bei seiner Genese und Eskalation – ein tragischer Höhepunkt des Scheiterns beider Gesellschaften angesichts immenser Herausforderungen, die neue nationale Grenzziehungen und der Übergang vom maroden Sozialismus zum räuberischen Kapitalismus brachten. Herausforderungen, denen auch die internationalen Verträge und Rechtsordnungen nicht gewachsen waren. Dabei bin ich fest überzeugt, dass die Zukunft des jungen ukrainischen Staates im Moment von der Friedensfrage entschieden wird. Und ungeachtet Putins Launen oder der westlichen Solidarität wird der Friedensprozess davon abhängen, ob man sich des eigenen Beitrags zu diesem Konflikt bewusst wird.
Preis des Friedens
Ich gehe davon aus, dass dieses Bewusstsein auch einen Raum für Kompromisse öffnen würde, die keineswegs populär sind, und von radikalen Kräften im Land sofort als Verrat angeprangert würden. Wäre das Schicksal der Zivilbevölkerung in den separatistischen Gebieten nicht grundsätzlich die oberste Priorität? Und gibt es einen Preis, der für ihr Wohl zu hoch wäre? Die zentralen Stolpersteine des Friedensprozesses – die Durchführung der Wahlen nach einem Kompromissszenario, die Anerkennung der konstitutiven Rolle der russischen Kultur und Sprache für die ukrainische Identität, aber auch eine militärische Neutralität der Ukraine sind sie tatsächlich als Wege in die oder eher doch aus der Apokalypse des Krieges zu sehen? Und wäre ein friedlicher, selbst anfangs unter dem russischen Einfluss stehende Donbas nicht besser als ein offenes Pulverfass im Herzen Europas? Die Ukraine mahnt gern europäische Solidarität an, aber fühlt sie keine Verantwortung für das Risiko einer neuen verheerenden Konfrontation? Der kurze und blutige Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien wirkt wie eine makabre Inszenierung dessen, was im Falle einer Konflikteskalation im Donbas passieren würde. Und er veranschaulicht die fatalen Folgen einer Selbstüberschätzung auch für eine Demokratie.
Ohne Zweifel setzt eine langfristige Friedensstiftung ein großes Vertrauen in einen Nachbarn voraus, das seine aggressiven Interventionen scheinbar restlos zerstört haben. Aber ist das Bild Russlands als Dämon der ukrainischen Geschichte nicht eine gefährliche Vereinfachung? Und hätte eine vernünftige ukrainische Außen- und Innenpolitik Russlands Interessen nicht schon immer auf dem Schirm haben müssen – nicht in einer idealen Welt, sondern in dieser komplexen und widersprüchlichen, von Supermächten und Einflusssphären bestimmten? Das Gleiche gilt auch für den Dialog mit der Opposition – muss ihre Stimme a priori ignoriert und als "Moskaus Hand" verdammt werden? Die massiven Probleme in vielen Lebensbereichen verleiten leicht zur Hexenjagd: die (neoliberalen) "Europäer" jagen den "homo sovieticus", die Zivilgesellschaft gegen Oligarchen und umgekehrt.
Ja, die Aktionäre des ukrainischen Staates haben oft diametral entgegengesetzte Meinungen. Eine davon zu wählen, selbst in der totalen Überzeugung der eigenen Rechtschaffenheit, bedeutet (Bürger)Krieg. Das Aushalten dieser Widersprüche und Annährungsversuche würden dagegen ein großes Selbstvertrauen, Offenheit und den Glauben in die integrative Kraft der eigenen Überzeugungen und Ideale brauchen. Paradoxerweise scheinen auch die Erben des Euromaidans – trotz ihres Selbstbewusstseins als Europas "neues Blut" und Verteidiger der Menschenwürde – es nicht zu besitzen. Man sehnt verzweifelt den Frieden herbei, ohne aber an seine Kraft wirklich zu glauben.
Eine noch größere Herausforderung
Aber kann sich die tief traumatisierte ukrainische Gesellschaft auf irgendwelche Kompromisse überhaupt einlassen und sich dabei einer schmerzhaften Aufarbeitung der eigenen Rolle im Konflikt stellen? Dies würde sicherlich einer gründlichen Revision eines idealisierten Bilds der ukrainischen Nationalbewegung und liebgewordener Geschichtsmythen bedürfen. Außer dem mangelnden Selbstvertrauen scheint es für aufstrebende ukrainische Eliten noch andere Versuchungen zu geben. Neben dem kriegsbedingten Patriotismus und Nationalstolz stammen sie auch von den Sonnenseiten der Unabhängigkeit – es sind die zahlreichen Errungenschaften, die die Freisetzung privater Energien, die Einführung der Rede-, Presse- und Schaffensfreiheit brachte. Streift man durch die glitzernden Shoppingmalls der ukrainischen Städte, pausiert man beim Einkaufen in tollen hauseigenen Cafés der Lebensmittelkette "Silpo" oder sitzt man auf den großzügigen Terrassen der boomenden Innenstädte von Lwiw, Kyjiw, Odessa oder Dnipro – mit ihren gemütlichen kosmopolitischen Interieurs, Dutzenden Kaffee- und Kuchensorten, blitzschnellem Internet, verweilt man in den prallen Buchläden der "Є"-Bücherei, kauft ukrainische Schuhe, Bettwäsche oder nutzt die komfortablen Services des ukrainischen Onlinebankings, so glaubt man die Vorteile der Unabhängigkeit zu kennen.
Und diese kurze Liste müsste noch um Tausende kleiner Details ergänzt werden – von genuinen Bemühungen um Dezentralisierung, Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas, Schutz der Minderheiten, Ideen über gesellschaftliche Inklusion bis zu neuen Gesichtern in der Politik und Diplomatie, aufstrebender ukrainischer Musik-, Film- und Tourismusbranche, Eurovision-Festivals, Reisefreiheit, boomender IT-Branche und schließlich ukrainischer Lebenslust. Mit einem Wort: Es sind diese Errungenschaften, die die junge ukrainische Zivilisation der Gegenwart ausmachen und ein Versprechen ihrer Zukunft darstellen könnten.
Aber werden sie tatsächlich (nur) von Russland bedroht und nicht von der Korruption und ideologischen Doppelstandards? Muss man dafür tatsächlich mit der Waffe in der Hand kämpfen und sterben? Oder ist es nicht genau umgekehrt, dass gerade der Krieg das Land unweigerlich an den Rand eines wirtschaftlichen und militärischen Ruins führt? Anlässlich des 30-jährigen Staatsjubiläums betonte der Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bedeutung des tausendjährigen Kulturerbes als solides Fundament des jungen Staats, aber lehrt nicht gerade der Zusammenbruch der großen und alten kontinentalen Reiche – der Habsburger oder Romanows – dass Jahrhunderte von Tradition von einem vierjährigen Krieg zerschmettert werden können? Und trifft dies nicht auf die Legitimität moderner Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung und zunehmend fluider Grenzen und Loyalitäten besonders zu? Die multiple Zugehörigkeit und die Grenzlage der Ukraine sind ein Reichtum und Segen, werden aber in den Händen ungeschickter Politiker und einer desorientierten Gesellschaft zum Fluch.
Resümee
Obwohl die Entfesselung der privaten Initiativen den Mangel in den ukrainischen Einkaufsstraßen beseitigte, schuf sie neue und tiefe Gräben innerhalb der ukrainischen Gesellschaft. Genauso wie die Abschaffung von Zensur nicht zwangsläufig zu einem nachhaltigen Sieg von liberal-demokratischen und humanistischen Traditionen führte. Die prallen Früchte des ukrainischen Unternehmergeistes, die Tüchtigkeit und die Lernbereitschaft der Ukrainer*innen dürfen die gewaltigen Unterschiede im Lebensstandard verschiedener Bevölkerungsschichten, Altersgruppen und sogar Berufsstände nicht verdecken. Die Einheit und Tränen der festlichen Militärparade in Kyjiw dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das beste Fundament für die gesellschaftliche Solidarität nicht der kriegsbedingte Patriotismus, sondern soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaat sind. Der gefeierte Auftritt einer trainierten Hundestaffel bei der Parade der Unabhängigkeit darf nicht von den Abgründen ablenken, die sich nicht nur in den Gräben des Donbas, sondern neben dem Majdan und seinen mondänen Konsumoasen – in den chronisch unterversorgten ukrainischen Krankenhäusern oder bettelarmen Rentnerhaushalten auftun. Im Gegensatz zu den militärischen Spürhunden, die (unwissentlich) ihr Leben für Menschen opfern, brauchen die Menschen in der Ukraine dringend ein anderes "Training": dasjenige der Erhaltung und des Schutzes ihres Lebens.