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Kommentar: Zum 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Chronik: 1. bis 30. April 2024 Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. 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Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. 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Kommentar: Zum 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit

Jewgenij Zacharow Von Jewgenij Zacharow (Charkiwer Organisation für Menschenrechte)

/ 5 Minuten zu lesen

Bei Reformen in der Ukraine geht es immer um die Frage: "Respektiert der Staat die menschliche Freiheit, dient er zumindest der Linderung menschlichen Leidens oder bleibt er unbeteiligt?"

Polizeibeamte begleiten die Teilnehmer einer Pride-Demonstration in Kiev. (© picture-alliance)

Der 24. August 1991 fühlt sich wie ein Feiertag an (obwohl es sinnvoller wäre den 1. Dezember zum Unabhängigkeitstag zu erklären). Es geschah das, wovon viele Generationen von Ukrainern geträumt hatten. Hunderttausende Ukrainer starben im 20. Jahrhundert während der militärischen Konfrontationen und im Gulag für die Verwirklichung dieses Traums. Der Austritt der Ukraine aus der UdSSR bedeutete den Zusammenbruch des bösen Imperiums und den Beginn eines neuen Abschnittes in der Geschichte der Ukraine.

Die Freude über den Feiertag wird durch ein Gefühl der starken Bitterkeit und Angst um die Zukunft getrübt, weil man sieht, wie sich die Ukraine nach 30 Jahren der Unabhängigkeit zu einem der ärmsten Länder Europas mit der höchsten Sterblichkeitsrate entwickelt hat. Der Unterschied zwischen Arm und Reich wächst, die Auswanderung und die Zahl der Arbeitsemigranten nimmt zu, die Gesellschaft wird immer grausamer und das Vertrauen der Menschen zueinander sinkt. Zu den Hauptproblemen des Landes gehört der katastrophale Mangel an Menschen mit modernem Denken, die in der Lage sind, etwas Neues zu schaffen.

Könnte es anders sein? Erschöpft von den enormen Verlusten in den beiden Weltkriegen, im Kampf gegen die totalitären Regime Deutschlands und der UdSSR und infolge der künstlichen Hungersnöte 1921–1923, 1932–1933 sowie 1946–1947, geschwächt durch massive politische Repressionen, der kirchlichen Unterstützung beraubt (die ukrainischen autokephale orthodoxe und griechisch-katholische Kirchen wurden zerstört und verboten), konnte das ukrainische Volk keine massenhafte antikommunistische Bewegung bilden (wie in Polen) und keine neue Elite vorbereiten, die sich von der alten wesentlich unterscheiden würde und die sowjetische Nomenklatura ersetzen konnte (so wie in Polen, Tschechien und Ungarn). Wie Wladimir Bukowski richtig feststellte: der Kommunismus in der UdSSR wurde nicht besiegt, sondern fiel unter seinem eigenen Gewicht zusammen.

Erinnern wir uns daran, dass die kommunistische Mehrheit im ukrainischen Parlament 1991 einen Kompromiss eingegangen ist, indem sie die Unabhängigkeit nur erklärt hat, um die sowjetische Macht zu behalten. Die Ukraine bekam die Unabhängigkeit durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, war aber darauf gar nicht vorbereitet. Sie passierte einfach – jenseits unseres Verständnisses der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse und so bekamen wir unerwartet (wer hätte geahnt, dass wir das noch erleben werden? – nur ganz wenige!) eine neue historische Situation: ein Land ohne politische Nation, wo in den Köpfen der Menschen im Westen und Osten des Landes verschiedene falsche Mythen saßen, in dem die meisten Leute orientierungslos waren und nicht wirklich verstanden, was passiert war.

In 30 Jahren sind wir seitdem der echten Unabhängigkeit viel nähergekommen. Es gibt drei Generationen, die nach 1991 geboren wurden. Die Jugend ist viel aufgeschlossener. Sie sind zum größten Teil ukrainische Patrioten, für die die UdSSR schon lange Geschichte ist. Es ist eine starke Zivilgesellschaft entstanden, die 2004 und 2013–2014 massiv gegen Ungerechtigkeit und Willkür des Staates rebelliert und gewonnen hat. Im Jahr 2014 gab es eine beeindruckende Mobilisierung von Freiwilligen, als 80 % der Ukrainer die Armee, die zu diesem Zeitpunkt handlungsunfähig war, sowie die Verwundeten, Kranken und Vertriebenen unterstützten. 20 % der Ukrainer tun es heute noch. Das kreative Potenzial der ukrainischen Gesellschaft ist riesig.

Die Bedrohung unserer Unabhängigkeit ist heute jedoch noch größer als 1991. Die russische Führung, unterstützt durch die imperialistischen Ambitionen der meisten Russen, will den Austritt der Ukraine, unsere euro-atlantischen Bestrebungen nicht akzeptieren und lässt uns nicht in Frieden leben und droht mit einer Eskalation des bewaffneten Konflikts. Nur eine wirklich freie und demokratische Ukraine kann in diesem Duell das autoritäre und paternalistische Russland besiegen.

Die ukrainische Regierung hingegen verwendet weiterhin alte sowjetische Praktiken, die uns in die "russische Welt" zurückziehen. Die Strafverfolgungsbehörden arbeiten noch immer nach sowjetischen Standards. Korruption ist in der Tat ein Ersatz für den Markt und zeigt, dass Wirtschaft und Staat eng miteinander verbunden sind und Gewinne nur durch die Nähe zum Staat erzielt werden können. Die Korruptionsbekämpfung ist ausschließlich repressiv, also destruktiv. Aber komplexe Probleme lassen sich nicht mit einfachen Methoden lösen. Der Populismus der Regierung und der Versuch, sich auf die Wünsche des "Volkes" zu stützen, wird das Land in eine Sackgasse führen. Schließlich will "das Volk" möglichst viele Beamte inhaftieren, Oligarchen erschießen, den Reichen Geld nehmen und es an die Armen verteilen, alle "Kaukasier" und Migranten aus dem Land ausweisen.

Die größte Bedrohung liegt also in uns selbst. Wir waren nie in der Lage, einen zivilisierten modernen Staat zu schaffen, der eher ein Subjekt als ein Objekt der Weltpolitik wäre. Danylo Skoropadskys alter Satz, dass "die ukrainische Demokratie halbgebildet, ungezügelt, undiszipliniert und unkonventionell ist", ist bis heute aktuell. Egal welche neue politische Partei die Ukrainer gründen, wird diese wieder dieselbe KPdSU, jede neue Strafverfolgungsbehörde ist wieder der alte KGB. Wir lassen zu, dass Behörden unverantwortlich und unkontrollierbar handeln. Wir müssen endlich verstehen, dass sich ohne die notwendigen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interne Widersprüche anhäufen und das Land auseinanderreißen werden, wie es bei der UdSSR der Fall war. Entweder wird die Ukraine nach und nach ein wirklich freies und demokratisches Land oder sie verliert ihre Unabhängigkeit.

Das wichtigste ist, sich für die Freiheit zusammen zu schließen, die die nationale Idee der Ukrainer ist. Der "Virus des Ungehorsams", der Wunsch nach freiem Handeln im eigenen Schicksal, ist eines unserer bestimmenden Merkmale. Dieses "Virus" löste den Aufstand im stalinistischen Gulag aus (Ukrainer waren Organisatoren der Aufstände in Norilsk, Kengir und anderen Städten), inspirierte die Menschen in den 1960er Jahren, die in Lagern saßen für das Recht, die Dinge beim Namen zu nennen. Ungehorsam führte im Herbst 2004 und 2013 endlich Menschen auf den Maidan und bewegte 2014 Freiwillige, sich für die Verteidigung des Landes gegen die russische Aggression einzusetzen.

Die Verabschiedung einer neuen Verfassung mit der Freiheit des Volkes als Grundwert muss die Grundlage aller Veränderungen werden. Eine funktionierende, vollwertige Landreform und die Förderung von IT und anderen Technologien, insbesondere die Schaffung eines ukrainischen Silicon Valley, sollten die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen. Es ist notwendig, gesetzwidrige Handlungen der Strafverfolgungsbehörden wie SBU und NABU sowie des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats zu unterbinden. Wir brauchen eine echte, keine fiktive Reform der Gerichte und der Strafverfolgungsbehörden. Aber all dies ist nur möglich, wenn wir die alten sowjetischen Praktiken überwinden.

Egal, worüber wir sprechen – Reform von Polizei oder Staatsanwaltschaft, Folter beim Geheimdienst oder Korruptionsbekämpfung, Rückzahlung von Schulden an die Beschäftigen von Staatsbetrieben oder Umgang mit Migranten und Bewohnern der besetzten Gebiete – wir beantworten immer die Frage: respektiert der Staat die menschliche Freiheit, dient er zumindest der Linderung menschlichen Leidens oder bleibt er unbeteiligt? Diese Frage trennt wie ein Lackmustest den Trend zur Achtung europäischer Werte von dem konservativen Trend zur Bewahrung sowjetischer Rudimente.

Es scheint, dass Gott über die Ukraine wacht. In den extremen Momenten dieser 30 Jahre geschah jedes Mal etwas, das uns gerettet hat. Aber Gott hilft nur denen, die sich selbst helfen. Ist es nicht an der Zeit, sich selbst besser zu helfen?

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jewgenij Zacharow ist Direktor der Charkiwer Organisation für Menschenrechte. Er war Mitglied der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion. Außerdem ist er Mathematiker, Menschenrechtsaktivist, Journalist, Schriftsteller und Verleger.