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Kommentar: 30 Jahre danach: Der eskalierende und unversöhnliche Konflikt um die "totalitäre" Vergangenheit | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Kommentar: 30 Jahre danach: Der eskalierende und unversöhnliche Konflikt um die "totalitäre" Vergangenheit

Oksana Myshlovska Genf) Von Oksana Myshlovska (Universität Bern und Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung

/ 6 Minuten zu lesen

Während in der Ukraine ein kritischer "europäischer " Ansatz ein Überdenken der sowjetischen Vergangenheit erreichen sollte, wurde ein ganz anderer Maßstab angelegt, um die Vergangenheit zu bewerten, die als "wahrhaft ukrainisch" bezeichnet wurde.

Sieben Jahre nach dem Euromaidan demonstrieren Ukrainische Nationalisten in Odessa. (© picture-alliance/dpa, TASS | Arkhip Vereshchagin)

Dekommunisierung

Die Präambel des Gesetzes "Über die Verurteilung der totalitären Kommunistischen und National-Sozialistischen (Nazi) Regime in der Ukraine und das Verbot von Propaganda für ihre Symbole", welches das ukrainische Parlament im April 2015 als Teil von vier Gesetzen zur Dekommunisierung verabschiedete, verweist auf etwa ein Dutzend internationaler Erklärungen von den Vereinten Nationen, dem Europarat, der OSZE oder dem Europaparlament, die die Verbrechen totalitärer Regime verurteilen. Im selben Monat veröffentlichte das Ukrainische Institut für die Nationale Erinnerung (UINM), die führende Institution hinter den Gesetzen zur Dekommunisierung, praktische Empfehlungen zur Bedeutung des Tages der Erinnerung und Versöhnung und des Tages des Sieges mit dem Ziel "im europäischen Geist der Erinnerung und Versöhnung" eine neue Tradition zu beginnen. Für das UINM bedeutete dies ein neues Verständnis des Großen Vaterländischen Krieges (d. h. des Zweiten Weltkrieges), die Überwindung sowjetischer historischer Mythen und einen ehrlichen Dialog über die komplexe Vergangenheit, einen Perspektivwechsel von der Geschichte der Kriegsführung, des massenhaften Heldentums und des "sowjetischen Patriotismus" zu einer Geschichte von Individuen und den Verzicht auf Kriegsfeierlichkeiten zugunsten von Gedenken. (UINM 2015)

Die Gesetze zur Dekommunisierung bezogen ihre Rechtfertigung aus einem breiten internationalen Konsens, der sich über die letzten Jahrzehnte unter den Begriffen "transitional justice (Vergangenheitsarbeit)" und "Umgang mit der Vergangenheit" entwickelt hat, und der den selbst-kritischen Umgang mit den dunklen Seiten der nationalen Vergangenheit, den Fokus auf Menschenrechtsverletzungen durch Staaten und wiedergutmachende Gerechtigkeit für die Opfer staatlicher Gewalt umfasst. (Hayner 2011) Im europäischen Kontext beinhaltet dies auch die Annahme des Holocaust als negativen Gründungsmythos mit der Erinnerung an die Opfer. (Assmann 2013)

Während in der Ukraine ein kritischer "europäischer" Ansatz ein Überdenken der sowjetischen Vergangenheit erreichen sollte, wurde ein ganz anderer Maßstab angelegt, um die Vergangenheit zu bewerten, die als "wahrhaft ukrainisch" bezeichnet wurde. Ein weiteres Dekommunisierungsgesetz "Über den rechtlichen Status und die Ehrerweisung für die Kämpfer der ukrainischen Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert" verordnete einen "ehrenden" Ansatz für Organisationen, die im Namen einer alternativen, als "wahrhaft ukrainisch" definierten Staatlichkeit gegen die Sowjetunion gekämpft hatten. Gleichzeitig stand die Förderung eines neuen Verständnisses der sowjetischen Vergangenheit im Widerspruch zu einer überwiegend positiven öffentlichen Wahrnehmung der Sowjetunion und einer entsprechend negativen Wahrnehmung der Dekommunisierung in der südlichen und östlichen Ukraine.

Zwei rivalisierende Erinnerungsgemeinschaften

Die Gesetze zur Dekommunisierung von 2015 sind nur die jüngste Episode in der Schlacht der nationalen ukrainischen Erinnerung über die Frage, wer zur ukrainischen politischen Gemeinschaft gehört. Die Schlacht selber ist die Folge vergangener Konflikte und der politischen Gemeinschaften, die aus ihnen hervorgingen.

Von 1944 bis 1956 führten das sowjetische Regime und der nationalistische Untergrund in der Westukraine einen extrem brutalen Kampf – auf beiden Seiten mit massenhaften Verletzungen des Kriegsvölkerrechts, der Bekämpfung ziviler Ziele und ausgrenzenden, den Feind delegitimierenden Narrativen. Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit führten in der Sowjetunion zur abschließenden Beseitigung "ausländischer Elemente" und zur Schaffung eines neuen Gründungsmythos auf Grundlage des Kampfes gegen den deutschen Angriff, der Zugehörigkeit und Ausschluss definierte. Im Unterschied zu den Säuberungen vor dem Krieg kam es während und nach dem Krieg auch zu Deportationen ganzer ethnische Gruppen, der Einführung einer dauerhaften Verbannung und der Unentschuldbarkeit von Verbrechen gegen das sowjetische Vaterland. (Weiner 2001) Über 180.000 Krimtataren und mehr als 200.000 Angehörige des nationalistischen Untergrundes mit ihren Unterstützern und Familienangehörigen wurden dauerhaft aus der sowjetischen Gemeinschaft ausgeschlossen.

Die Perestroika erlaubte es dann unterdrückten Erinnerungen und radikalen politischen Visionen öffentlich sichtbar zu werden. Etliche zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien entstanden in der Westukraine in den frühen 1990er Jahren, die sich selbst als "national-patriotisch" bezeichneten und sich auf das Erbe des nationalistischen Untergrunds bezogen. Sie verlangten die Anerkennung des "nationalen Freiheitskampfes" der 1930er bis 1950er Jahre auf der nationalen Ebene, Dekommunisierung, ein Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), die Lustration sowjetischer Funktionäre, die an Repressionen beteiligt waren, und den Austritt der Ukraine aus allen Bündnissen mit Russland.

In Reaktion auf diese Forderungen radikalisierte sich die KPU und die mit ihr eng verbundene Organisation der Veteranen aus Krieg und Arbeit (OVU), die 1986 auf der Unionsebene und 1987 in der Ukraine mit dem Ziel gegründet wurde, als soziale Basis der Kommunistischen Partei zu dienen und die nach eigenen Angaben in der Ukraine etwa 10 Millionen Mitglieder hatte. KPU und OVU mobilisierten, um den sowjetischen Gründungsmythos zu bewahren. Die OVU gründete das Zentrum zur Verteidigung der Wahrheit über den Großen Vaterländischen Krieg und setzte sich für ein im April 2000 verabschiedetes Gesetz ein, das die "heilige Pflicht" des Staates festschrieb, eine respektvolle Haltung gegenüber dem Großen Vaterländischen Krieg und seinen Veteranen zu garantieren. 2005–06 schuf die OVU dann ein Anti-Faschistisches Komitee.

Die rivalisierenden Gemeinschaften gerieten so in einen eskalierenden Konflikt um die nationale Erinnerung, wobei sie den Staat zunehmend drängten, über Rechtsakte die Gegenseite zu delegitimieren und die eigene Wahrheit und die eigenen Helden zu schützen. Beide Seiten haben ihre identitätsschaffenden Narrative auf die Verbrechen der Gegenseite bezogen, um so deren Ausschluss aus der politischen Gemeinschaft zu legitimieren und eine "Pflicht zum Hass" anstelle von Vergebung kultiviert.

Institutionalisierung und Internationalisierung

Der Konflikt um die Erinnerung wurde weiter institutionalisiert und ausgeweitet, als 2004/05 die großen politischen Parteien begannen, sich mit rivalisierenden Erinnerungsgemeinschaften zu verbünden. Viktor Juschtschenko unterstützte die Forderungen der "national-patriotischen" Organisationen und die Partei der Regionen unter Viktor Janukowitsch übernahm die Agenda der KPU und ihrer sozialen Basis. Während der Präsidentschaft von Juschtschenko wurde 2006 das UINM gegründet – mit dem Auftrag die Verbrechen des sowjetischen Regimes und "die wahre Geschichte des ukrainischen Volkes", die die Sowjetunion nicht umfasste, zu erforschen. Außerdem wurden eine Reihe von Rechtsakten verfasst, die die Verbrechen der kommunistischen Phase verurteilten und die "Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit" ehrten. Die rivalisierende Erinnerungsgemeinschaft, die mit der Partei der Regionen kooperierte, schuf solche Organisationen wie die "Russischsprachige Ukraine" (2008) und das Anti-Faschistische Forum (2011), förderte die Veröffentlichung von Publikationen über die Verbrechen des nationalistischen Untergrunds und eine Reihe von Gesetzen auf der nationalen Ebene sowie auf der Krim und in südlichen und östlichen Regionen zur Verteidigung "der Wahrheit über den Großen Vaterländischen Krieg" und gegen die "Glorifizierung des Nazismus".

Zusätzlich wurde der Konflikt internationalisiert. 2005 führte Russland in der UN-Vollversammlung eine jährliche Abstimmung für eine Resolution gegen die Glorifizierung des Nazismus ein, die sowohl die Gleichsetzung von Kämpfern der Anti-Hitler Koalition und Kollaborateuren mit dem Nationalsozialismus als Teilnehmer an nationalen Befreiungsbewegungen sowie die Entweihung oder Demontage von Denkmälern für Kämpfer gegen die Nazis verurteilte. Gleichzeitig brachten die mittelosteuropäischen Staaten in einer Reihe von internationalen Organisationen Erklärungen ein, die Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsetzten und die Verbrechen totalitärer Regime verurteilten.

Resümee

Zum Zeitpunkt des dreißigsten Jahrestags des Auseinanderbrechens der Sowjetunion ist die Welt zunehmend segmentiert und fragmentiert. Auf der nationalen und der internationalen Ebene sind parallele Welten entstanden, mit eigenen Rechtsakten die "das radikale Andere" verurteilen. Dies führt zu gegenseitiger Radikalisierung, Mobilisierung und bewaffneten Konflikten. Dieser kurze Beitrag möchte zeigen, dass dies ein fundamentales Versagen der internationalen und nationalen Institutionen darstellt, die als Ort des Dialogs und des Ausgleichs von Interessen und Erinnerungen dienen sollten.

In den frühen 1990er Jahren diente das ukrainische Parlament als die wichtigste Institution für einen Dialog, der die Annahme des einzigen auf Kompromissen basierenden Gesetzes zwischen den rivalisierenden Erinnerungsgemeinschaften ermöglichte. Seitdem funktioniert der Dialog nicht mehr, da die Gemeinschaften sich auf die Schaffung rivalisierender Institutionen und Rechtsakte konzentrierten.

Das zentrale Prinzip der Radikalisierung war der exklusive Fokus auf die Verbrechen der rivalisierenden Erinnerungsgemeinschaft und die Verteidigung der eigenen Wahrheit. Hier liegt auch der Ausweg: Forschung und Vermittlungsprozesse, die übergreifend die Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen beider Seite in den Blick nehmen und das nationalistische und das sowjetische Modell der politischen Gemeinschaft mit ihrer "Pflicht zum Hass" in ihren historischen Kontext stellen. Das bedeutet, den kritischen "europäischen" Ansatz, der genutzt wurde um die Dekommunisierung zu legitimieren, auf alle Aspekte der Vergangenheit anzuwenden und Orte für einen Dialog zu stärken, der es erlaubt, übergreifende politische Gemeinschaften zu schaffen.

Übersetzung aus dem Englischen: Heiko Pleines

Im Text erwähnte Literatur

  • Assmann, Aleida (2013): Europe’s Divided Memory, in: Blacker, Uilleam, Aleksandr Etkind, and Julie Fedor (Hg.): Memory and Theory in Eastern Europe. New York: Palgrave Macmillan, S. 25 –42.

  • Hayner, Priscilla (2011): Unspeakable Truths: Transitional Justice and the Challenge of Truth Commissions. New York: Routledge.

  • UINM (2015): "Pamyatayemo! Peremahayemo! Do Dnya pamyati ta prymyrennya ta Dnya peremohy nad natsyzmom u Druhiy svitoviy viyni", 15 April, Externer Link: https://uinp.gov.ua/

  • Weiner, Amir (2001): Making Sense of War: The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution. Princeton: Princeton University Press.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Oksana Myshlovska arbeitet an der Dozentur Osteuropa der Universität Bern. Sie ist derzeit außerdem Gastlektorin für internationale Geschichte und Politik am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf.