Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kommentar: 30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. März 2024 10 Jahre Krim-Annexion / Donbas nach der Annexion 2022 (21.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Dokumentation: Reporters Without Borders: Ten years of Russian occupation in Crimea: a decade of repression of local independent journalism Dokumentation: Europarat: Crimean Tatars’ struggle for human rights Statistik: Repressive Gerichtsverfahren auf der Krim und in Sewastopol Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Öffentliche Meinung zur Krim und zum Donbas Chronik: 22. Februar bis 10. März 2024 Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Kommentar: 30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit

David R. Marples Von David R. Marples (University of Alberta)

/ 7 Minuten zu lesen

Während einer Demonstration machen die Demonstrierenden eine Pause vor dem ukrainischen Parlament. (© picture-alliance/dpa, TASS | Irina Yakovleva)

Politikmüde

Als die Ukraine vor 30 Jahren ein Referendum über ihre Unabhängigkeit abhielt, stimmten 90 % dafür. Selbst auf der Krim, und separat in der Stadt Sewastopol, stimmten 54 % bzw. 57 % mit ja. Heute, wo die Krim von Russland besetzt ist und der östliche Teil des Donbas unter der Kontrolle durch Russland unterstützter Kämpfer steht, findet sich die Ukraine in einer schwierigen Lage. Der Präsident, Wolodymyr Selenskyj, ist deutlich weniger beliebt als zum Zeitpunkt seiner Wahl 2019 und keine der Parteien im Parlament ist beliebt. Es gibt auch eine gewisse Apathie. Wie ein Ukrainer aus Cherson in sozialen Medien prägnant kommentierte: "Die Intensität des politischen Konfliktes ist stark zurückgegangen – alle sind einfach nur müde."

Sie sind der politischen Umwälzungen müde, von denen sie seit der Unabhängigkeit zwei durchlebt haben: die Orange Revolution nach den umstrittenen Wahlergebnissen 2004, die Moskaus Favorit, Viktor Janukowitsch, vor seinem national-demokratischen Gegner Viktor Juschtschenko sahen, und den Maidan bzw. die Revolution der Würde, die mit Protesten gegen denselben Janukowitsch begann, als er sich Ende 2013 weigerte ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben und die im Februar 2014 mit dem Tod von etwa 100 Protestierenden durch Scharfschützen eskalierte, gefolgt vom frühzeitigen Abgang Janukowitschs – er floh aus Kiew und tauchte letztendlich in Russland wieder auf, dem Verlust der Krim und dem Krieg in der Ostukraine, der immer noch weitergeht.

Sie sind auch der reichen Oligarchen müde, die die Ukraine unter sich aufteilen und sie zu ihrem persönlichen Vorteil ausbeuten, während der Lebensstandard für die Mehrheit der Bevölkerung sinkt. Jeder Präsident hat sich mit ihrem wachsenden Einfluss beschäftigt und mit der überwältigenden Korruption, die Fortschritte verhindert. Bisher konnte kein Präsident auf eine stabile Mehrheit im Parlament zählen.

Die Ukraine sieht sich so mit Fragen konfrontiert, die 1991 nicht gelöst wurden. Kurz gesagt: Die Ukraine erhielt die Unabhängigkeit ohne große Vorbereitung und als Folge des Auseinanderbrechens der Sowjetunion im Zuge des gescheiterten Putsches in Moskau im August 1991 und der gezielten Kampagne des russischen Präsidenten Boris Jelzin zur Entmachtung seines sowjetischen Gegenparts Michael Gorbatschow.

Die Lage im Jahr 1991

1991 dominierten die Kommunisten noch das Parlament, aber sie waren zerstritten. Die Spaltungen waren schon zwei Jahre vorher nach dem Rücktritt und vermutlichen Selbstmord des langjährigen Parteichefs Wolodymyr Schtscherbytskyj offensichtlich geworden. Sein Vertreter Wolodymyr Iwaschko entschied sich für Gorbatschow in Moskau zu arbeiten und trat schon nach einigen Monaten zurück. Sein Nachfolger, Stanislaw Hurenko, ein Hardliner wie Schtscherbytskyj, erhielt wenig Unterstützung und die Reformer im Parlament, angeführt vom früheren Parteisekretär für Ideologie, Leonid Krawtschuk, begannen eine Neuorientierung.

Alle großen Probleme, mit denen sich die Ukraine 2021 konfrontiert sieht, waren schon 30 Jahre früher sichtbar: Die Krim fiel unter den Einfluss separatistischer und pro-russischer Politiker; die Bergleute im Donbas waren frustriert nachdem ihre Streiks 1989 und 1990 erfolglos geblieben waren und einige Politiker verlangten mehr Autonomie für die Region; Russland erwies sich als schwierig. Jelzin war bereit mit der ukrainischen Führung zu kooperieren, um Gorbatschow und die Kommunistische Partei zu entmachten, aber die Frage einer unabhängigen Ukraine wurde vertagt. Zumindest erwartete Jelzin, dass die Ukraine ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten werden würde.

In der Ukraine gab es keinen wirklichen Wandel in der politischen Führung. Nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 24. August 1991 wurde die Ukraine immer noch von Kommunisten oder früheren Kommunisten regiert. Aufgrund der langen Tradition der Opposition, insbesondere in der Westukraine, hätte man erwarten können, dass die politische Elite jetzt aus denen bestehen würde, die unter dem sowjetischen Regime gelitten hatten: ehemalige politische Gefangene, Dissidenten, Deportierte. Aber am 01. Dezember 1991 wurde Krawtschuk in der ersten Runde mit 62 % der Stimmen zum Präsidenten gewählt, während der ehemalige Dissident Wjatscheslaw Tschornowil, der für die Ruch (Volksbewegung der Ukraine) kandidierte, mit 23 % deutlich abgeschlagen war. Ein weiterer Dissident, Lewko Lukjanenko, Vorsitzender der Ukrainischen Republikanischen Partei, erhielt als Drittplatzierter gerade einmal 5 %. Spätere Wahlen wurden von Vertretern der alten Eliten aus Politik, Verwaltung und Management bestritten. 1999 kam der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Petro Symonenko, in die zweite Runde der Präsidentenwahl, wo er gegen Leonid Kutschma verlor, der in der Sowjetunion als Manager bis ins Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Ukraine aufgestiegen war.

Wirtschaftlich war die Ukraine 1991 eng mit den sowjetischen Partnern verbunden und sie war stark abhängig von russischen Energielieferungen. Im gesamten Jahr 1991 gab es in Kiew Sorgen vor einer russischen Intervention. Es gab aber auch Optimismus, insbesondere außerhalb der Ukraine. Die Deutsche Bank zum Beispiel sah die Ukraine unter allen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als denjenigen mit dem größten wirtschaftlichen Wachstumspotential. Die zentrale Sorge der USA bezog sich auf die Atomwaffen auf ukrainischem Territorium. Die große ukrainische Diaspora in Kanada und den USA bot auf viele Weise Hilfe an: Forschungsprojekte, Rechtsreformen, Finanzberatung und vor allem kompetente Fachkräfte. Viele zogen damals in die Ukraine. Im Rückblick waren die Erwartungen und der Optimismus nicht nur naiv, sie zeigten ein fundamentales Missverständnis bezüglich des Charakters des Staates von 1991.

Kommunistisches Erbe

Die Ukraine wurde unabhängig, weil das Zentrum in Moskau kollabierte. Aber in den späten 1980er Jahren was es Moskau, in der Person des umtriebigen und regen Gorbatschow, das für die Ukrainische Sowjetrepublik, die im Würgegriff kommunistischer Hardliner steckte, die beste Chance auf Wandel bot. In der sowjetischen Führung hatten Männer, die in den Industrieregionen der Ukraine aufgewachsen waren und loyal zur Sowjetunion standen, für viele Jahre eine dominante Rolle gespielt – von Nikita Chruschtschow, der seine frühe Karriere weitestgehend in der Ukraine verbrachte, bis zu Leonid Breschnew, der bis 1982 die Geschicke der Sowjetunion bestimmte. In weiten Teilen der Ukraine blieb diese kommunistische Mentalität erhalten. 1991 war sie weiterhin dominant, was auch immer die Rhetorik von Politikern in Kiew oder Lwiw suggerierte. Sie konnte nicht über Nacht geändert werden.

Bei einer Tour auf dem Dnepr im Jahre 1991 – und sogar noch 2011 – würde das Boot irgendwann in einer Schleuse landen, die mit dem steigenden Wasser den Blick auf die größte Lenin-Statue der Welt in all ihrer Majestät freigeben würde. Selbst für den Nationaldichter Taras Schewtschenko gab es nichts in ähnlicher Größe. Die großen Industriestädte im Osten waren nach Kommunisten benannt worden: Woroschilowhrad (seit 1992 Luhansk), Dniprodserschynsk (seit 2016 Kamjanske), Dnipropetrowsk (seit 2016 Dnipro) und früher Stalino, welches bereits Chruschtschow 1961 in Donezk umbenannte. Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Kommunisten nach der Unabhängigkeit an der Macht blieben. Die informellen Clans von Donezk und Dnipropetrowsk kämpften in den 1990er Jahren um die politische Vorherrschaft: Pawel Lazarenko, Julia Timoschenko und Viktor Janukowitsch waren die bekanntesten Namen – sie übernahmen die Leitung der Regierung und das Präsidentenamt. Alle stiegen mit Hilfe ihrer Geschäftsverbindungen und Seilschaften auf.

Obwohl die Ukraine gut mit Bodenschätzen ausgestattet war und berühmt war für ihre Landwirtschaft, waren die wirtschaftlichen Defizite unübersehbar. 1991 war der Anteil der Ukraine an der landwirtschaftlichen Produktion der Sowjetunion kleiner als ihr Anteil an der sowjetischen Bevölkerung. Die Kohleproduktion sank drastisch, da die leicht zugänglichen Vorkommen zunehmend erschöpft waren. Die Stahlwerke hatten dringenden Modernisierungsbedarf. Die Arbeiter waren protestfreudig. Es gab regelmäßige Streiks und die Umweltbewegung hatte nach der Tschernobyl-Katastrophe den Ausbau der Atomenergie verhindert. Ein Jahr vor der Unabhängigkeit verhängte die Regierung ein Moratorium für den Bau neuer Atomreaktoren. Das Erbe von Tschernobyl gewann mit der Dezentralisierung und der schwindenden Aufmerksamkeit Moskaus in der Ukraine an Bedeutung.

Selbstfindung

Letztendlich war es 1991 nie ganz klar, ob die ukrainische Bevölkerung genau wusste, wer sie war und wie sie eine neue Identität entwickeln würde. Die Hungersnot von 1933 war für Intellektuelle ein Thema, nach dem es Jahrzehnte zensiert worden war, aber die Erinnerungen wurden in den meisten Regionen nicht formuliert. Die großen Säuberungen unter Stalin wurden in den Medien diskutiert, aber wieder einmal war die Initiative von der Führung aus Moskau gekommen. Die Ukraine hatte eine ältere Geschichte: die Zeit der Kosaken, der große Hetman Bohdan Chmelnyzkyj, und Iwan Mazepa, aber es gab große Meinungsunterschiede und Narben bezüglich des Zweiten Weltkriegs, insbesondere in der Westukraine, wo es bittere Partisanenkämpfe gegen die sowjetische Herrschaft gegeben hatte. Das heroische sowjetische Narrativ der Roten Armee und der sowjetischen Partisanen war hingegen in den meisten anderen Regionen der Ukraine vorherrschend.

Die letzten 30 Jahre sind für die Ukraine nicht erinnerungswürdig gewesen. Sie haben Elend, Konflikte und Desillusion gebracht – in einer Umfrage erwog jeder Dritte die Emigration. Andererseits haben sie eine gewisse Einheit, mehr Klarheit über die nationale Identität und einen Wandel der Haltung gegenüber Russland (negativer) und dem Westen (positiver) gebracht. Anders als ihre direkten Nachbarn im Norden und Nordosten hält die Ukraine demokratische Wahlen ab, hat eine freiere Presse, und trotz einiger Ausrutscher hat sie ihren Platz auf der Weltbühne eingenommen. 30 Jahre sind die längste Zeit der Unabhängigkeit in der ukrainischen Geschichte. Das ist für sich genommen schon ein nicht zu vernachlässigendes Ergebnis, wie schon die Nationalhymne zeigt: "Noch ist die Ukraine nicht gestorben".

Übersetzung aus dem Englischen: Heiko Pleines

Fussnoten

Weitere Inhalte

David R. Marples ist Professor an der Fakultät für Geschichte der Universität von Alberta in Kanada. Sein Forschungsschwerpunkt ist die osteuropäische Geschichte im 20. Jahrhundert.