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Kommentar: Zwischen korporativen Interessen und neuen Inseln der Veränderung – Lokalwahlen im Donbas 2020 | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Zwischen korporativen Interessen und neuen Inseln der Veränderung – Lokalwahlen im Donbas 2020

Samuel Goda Wilfried Jilge Valerij Novikov

/ 12 Minuten zu lesen

Die Lokalwahlen sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur lokalen Selbstverwaltung. Reformorientierte Akteure erhoffen sich von der Dezentralisierung u. a. Impulse für eine Demokratisierung »von unten« und einen Beitrag zur Überwindung oligarchisch-klientilistischer Strukturen. Wie sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Lokalwahlen zu bewerten?

Anfang November 2020: Eröffnung eines Checkpoints im ukrainischen Schtschastja. Die Stadt liegt an der Grenze zu den Separatistengebieten der Ostukraine. (© picture-alliance, Photoshot )

Die ukrainischen Lokalwahlen vom 25. Oktober 2020 bilden ein wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer echten lokalen Selbstverwaltung im Sinne der von der Ukraine im Jahr 1997 ratifizierten Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung. Mit den durch die Wahlen etablierten Organen der kommunalen Selbstverwaltung sind neu gebildete, leistungsstarke Gemeinden entstanden, die durch die Reform deutlich mehr Vollmachten und Zuwendungen für eigene Aufgaben erhalten. Reformorientierte zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten sowie Politikerinnen und Politiker erhoffen sich von der Dezentralisierung u. a. Impulse für eine Demokratisierung "von unten" und – für die Region des Donbas besonders wichtig – einen Beitrag zur Überwindung oligarchisch-klientilistischer Strukturen.

Eine weitere Besonderheit dieser Wahlen war die Anwendung eines neuen Wahlrechts, dass auch die Wählerinnen und Wähler vor Herausforderungen stellte. Kern der Neuerungen bildete die Einführung eines Verhältniswahlrechts mit offenen Parteilisten bereits in Gemeinden mit 10.000 und mehr Einwohnerinnen und Einwohnern, womit in diesen Gemeinden die Möglichkeit einer Selbstaufstellung und Wahl von unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten ausgeschlossen und den Parteien eine zentrale Rolle zugewiesen wurde. Diese "Parteipolitisierung" der kurzfristig, d. h. nur wenige Monate vor dem Wahltag beschlossenen Wahlgesetzgebung war auch deswegen problematisch, weil in der Ukraine Parteien auf lokaler Ebene bis auf wenige Ausnahmen kaum über solide Strukturen verfügen. In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten des Donbas (kurz: RKG des Donbas) begünstigte dies die in der Region gut verankerten Nachfolgeparteien der ehemaligen regionalen Machtpartei der Partei der Regionen (Partija rehioniw/PR ). Diese konnten die mit der Stärkung der Rolle der Parteien verbundene Ideologisierung besser nutzen als die Konkurrenz. Dank ihrer massiven ökonomischen Ressourcen sowie ihrer lokalen und landesweiten Medienmacht konnten sie erfolgreich ihre Wählerschaft mobilisieren, indem sie nationale Themen bespielten (z. B. allgemeine Forderungen nach Frieden, Wiederherstellung der Beziehungen zu Russland und Propagierung antiwestlicher Stereotypen), die mit der Entwicklung der Gemeinden im Rahmen der lokalen Selbstverwaltung kaum etwas zu tun hatten.

Gemäß den Berichten der Wahlbeobachtungsorganisationen "Komitee der Wähler der Ukraine" und "OPORA" entsprach die Wahl am Tag der Abstimmung den Standards freier und demokratischer Wahlen. Sowohl landesweit als auch in den RKG Teilen des Donbas fand ein intensiver politischer Wettbewerb statt. In Bezug auf die RKG des Donbas wird das Bild jedoch durch die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission (ZWK) vom 8.8.2020 über die Unmöglichkeit der Durchführung von Wahlen in 18 Gemeinden in den RKG der Gebiete Donezk und Luhansk getrübt. Hauptgrund für die ZWK war die aufgrund des russisch-ukrainischen Konfliktes nicht ausreichend gewährleistete Sicherheit in den betroffenen Gebieten. Der massive Eingriff in die verfassungsmäßigen Rechte von etwa 500.000 betroffenen Wahlberechtigten war äußerst problematisch, da der Entscheidung weder ein transparenter Entscheidungsprozess noch eine nachvollziehbare Begründung zugrunde lagen. Ebenso fehlte es an einem Katalog klar definierter Kriterien, auf dessen Grundlage eine begründete Beurteilung der Sicherheitslage hätte vorgenommen werden können. Kaum nachvollziehbar war die Nichtdurchführung von Wahlen in den größten Städten der RKG des Gebiets Luhansk Lysytschansk und Sewerodonezk. Dort wurden in einer weitaus schlechteren Sicherheitslage die Lokalwahlen 2015 und sämtliche nationale Wahlen nach der Maidan-Revolution problemlos durchgeführt.

Bei der Entscheidung stützte sich die ZWK vor allem auf die Schlussfolgerungen des vom Präsidenten ernannten Chefs der Militärisch-zivilen Administration (WZA) der Gebiete Luhansk und Donezk, obwohl die ZWK weder über Kompetenzen noch Ressourcen verfügt, die Schlussfolgerungen der WZA zu verifizieren. Der WZA wurden damit in einer Schlüsselfrage kaum begrenzte Vollmachten eingeräumt, ohne dass sie formal die Verantwortung für entsprechende Entscheidungen trägt. Damit besteht die Gefahr, dass der Zentralmacht politische Motive unterstellt werden. Es ist völlig verständlich, dass unter Bedingungen eines andauernden Konflikts der Sicherheit in den Gemeinden der Frontgebiete große Bedeutung beigemessen wird. Die Aussetzung des Wahlrechts erfordert jedoch eine transparente Begründung und intensive Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern, wenn deren Vertrauen in die staatlichen Institutionen nicht untergraben werden soll. Nachvollziehbar ist auch die Sorge, dass Erfolge der prorussischen Parteien in frontnahen Gebieten das Aktionsfeld des Kremls für hybride Attacken zur Destabilisierung der Ukraine erweitern. Wahlerfolge nicht genehmer oppositioneller Kräfte können aber kein Grund für die Aussetzung des Wahlrechts sein. Zumal der Wahlkampf zeigte, dass der Effekt einer solchen Maßnahme zweifelhaft ist: Die prorussische Oppositionsplattform nutzte die umstrittene Entscheidung der ZWK, um ihre antiukrainische Propaganda zusätzlich zu unterfeuern, wonach der angeblich gescheiterte Staat (failed state ) Ukraine noch nicht einmal Wahlen in den von ihm kontrollierten Gebieten gewährleisten könne. Mittel- bis langfristig bremst die mit der Aussetzung von Wahlen einhergehende Einführung einer militärisch-zivilen Verwaltung in den betroffenen Gemeinden die durch die lokale Selbstverwaltung angestoßene Demokratisierung, darunter Aktivitäten und Initiativen der Bürgerinnen und Bürger, das Entstehen alternativer politischer Kräfte sowie die Kontrolle der lokalen Autoritäten durch die Bürgerinnen und Bürger. So werden für die Region charakteristische paternalistische Verhaltensweisen zementiert.

Die Wahlbeteiligung war in der ganzen Ukraine ausgesprochen niedrig (36,88%) und lag etwa 10% unter dem Wert von 2015 (46,5%). Dies gilt insbesondere für von der Ukraine kontrollierten Teile des Donbas, wo die Wahlbeteiligung erstmals niedriger war als in der Westukraine, die diesmal die höchsten Werte zu verzeichnen hatte. Das Gebiet Donezk erzielte mit 31,67% den landesweiten Negativrekord (Gebiet Luhansk: 38,12%), was besonders ins Gewicht fällt, da die Zahl der Wahlberechtigten im Gebiet Donezk um ein Mehrfaches über der Zahl im Gebiet Luhansk liegt.

Die niedrige Wahlbeteiligung lässt sich sicher auch durch landesweit beobachtete Faktoren, wie z. B. die Sorge um die eigene Gesundheit aufgrund der Corona-Pandemie, erklären. In den RKG des Donbas spielte aber eine Rolle, dass ein bedeutender Teil der Wählerschaft von der Politik des Präsidenten Selenskyj und der weitgehend mit ihm identifizierten Regierungspartei Diener des Volkes (Sluha Narodu , kurz: SN) besonders enttäuscht war, zumal hier die Erwartungen in den Präsidenten und die neue Partei auch im Landesvergleich außergewöhnlich hoch waren: Bei der Parlamentswahl 2019 erreichte SN in den RKG des Donbas gute Wahlergebnisse und konnte in einzelnen Wahlkreisen sogar stärkste Kraft vor den traditionell starken Nachfolgeparteien der PR werden. Vieles spricht dafür, dass ein Teil dieser ehemaligen SN-Wählerschaft der Wahl fernblieb, da sie die alten Klans nicht mehr wollte, SN aber am Wahltag schon keine wählbare Alternative mehr darstellte. Begünstigt wurden solche Tendenzen durch das Versäumnis der SN-Parteiführung, rechtzeitig Organisationsstrukturen aufzubauen und attraktive Kandidaten zu präsentieren.

Gleichzeitig hat sich SN selbst in den Augen der Wählerinnen und Wähler disqualifiziert, indem die Partei fragwürdige Absprachen mit den Nachfolgeparteien der PR traf und somit selbst den Klientelismus praktizierte, dessen ein Teil der Wähler überdrüssig war. In der der wichtigen Stadt Rubischne (Gebiet Luhansk) beispielsweise landeten Mitglieder des Managements der Firma Sorja , die von Jurij Bojko, einem der Parteiführer der prorussischen Oppositionsplattform – Für das Leben (Opposizionnaja Platforma  – Sa Schisn , kurz OPSSch) kontrolliert wird, auf der Liste von SN. Der von SN aufgestellte Kandidat für das Bürgermeisteramt gehörte ebenfalls zum Management von Sorja . Offensichtlich versuchte Bojko – einer der "grauen Kardinäle" in der Region – mittels der "Marke" SN von ihm kontrollierte Kandidaten in den Gemeinderat zu bringen und so seinen Einfluss in der Stadt zusätzlich zu festigen. Schließlich wurde das Nichtwählen von einem defizitären Pluralismus in der Region begünstigt: Strukturen alternativer proeuropäischer Parteien sind an vielen Orten des Donbas noch schwach entwickelt, was sich wiederum zugunsten traditioneller Parteien lokaler "Feudalherren" auswirkt. Zugleich ist die Wahl von unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten in Gemeinden mit 10 000 oder mehr Einwohnerinnen und Einwohnern versperrt. Vielen Wählerinnen und Wähler glaubten daher, keine Wahl zu haben und blieben am Tag der Abstimmung daheim.

Nach bisher vorliegenden (teilweise vorläufigen) Wahlergebnissen konnte die wichtigste prorussische Partei OPSSch, die u. a. von Juri Bojko und dem wichtigsten prorussischen Politiker und engen Freund Putins Wiktor Medwedtschuk geführt wird, nicht den überwältigenden Sieg erringen, den sich die Parteiführung und der Kreml erhofft hatten. Die OPSSch konnte bei weitem nicht in allen Gemeinderäten die Mehrheit erringen und in vielen Gemeinden nicht den Bürgermeister stellen. Gleichwohl erreichte die Partei sehr solide Resultate, die ihr auch künftig einen großen Einfluss in der Region garantieren. Beispielsweise stellt sie sechs der 19 (von denen 17 gewählt sind) in den Städten zu wählenden Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und hat noch die Chance, sich mit ihrem Kandidaten in der wichtigen Stadt Slowjansk in der Stichwahl durchzusetzen. Noch besser sieht es in den vier Städten des Gebiets Luhansk aus: Hier gewannen zwei Kandidaten des OPSSch, während eine gewählte Bürgermeisterin unter Einfluss regionaler "Kuratoren" der Partei steht. In Rubischne schließlich gewann der von der Partei Unser Land (Nasch Kraj ) aufgestellte Amtsinhaber, der noch unlängst Mitglied der OPSSch (und davor der PR) war. Bemerkenswert ist, dass mit den Bürgermeistern in Kreminna und Rubischne Kandidaten gewählt wurden, die laut ukrainischen Journalistinnen und Journalisten und Expertinnen und Experten während des "Russischen Frühlings" offen mit der "Russischen Welt" sympathisiert und mit den Separatisten kooperiert haben sollen.

Die Partei Scharij (Partija Scharij /PS) des Bloggers Anatolij Scharij konnte laut der bisher vorliegenden Ergebnisse in die Stadträte von Mariupol und Kramatorsk (Gebiet Donezk) einziehen. Die PS ist weniger Partei als vielmehr eine Ein-Mann-Show Scharijs. Scharij reproduziert in seinen Blogs antiukrainische oder gegen den ukrainischen Staat gerichtete Propaganda des Kremls oder prorussischer Ideologen der "Russischen Welt" in der Ukraine (z. B. Herabsetzung der Westukrainer als "Mischlinge" und nicht vollwertige Ukrainer). Seine Partei kann nur dank der Unterstützung des prorussischen Medienimperiums von Wiktor Medwedtschuk existieren, der die PS einmal als "ideologischen Bündnispartner" der OPSSch bezeichnete. Der OPSSch dient die PS gleichsam als Ansprechpartner für den Teil junger Leute, die mit der Situation in der Ukraine unzufrieden sind, aber nicht offen prorussisch eingestellt oder direkte Anhänger des OPSSch sind.

Auch wenn die OPSSch nicht triumphierte, konnten die örtlichen "Feudalherren", die aus dem Erbe der PR und den mit ihr verbundenen korporativen Interessengruppen hervorgingen, ihren Einfluss in der Region festigen. Die Grundlage von Macht und Einfluss dieser "Feudalherren" bilden die intransparente Verquickung von ökonomischer und politischer Macht sowie klientilistische, häufig korruptionsanfällige informelle Praktiken, mit denen Institutionen und Regeln unterlaufen werden. Repräsentiert werden sie nicht nur vom OPSSch, sondern auch vom ersten Erbfolger der PR, dem Oppositionsblock (Opposizionnyj Blok , kurz OB), von dem sich 2018 die OPSSch abspaltete. Der OB steht u. a. unter dem Einfluss des national bedeutendsten Oligarchen Rinat Achmetow und seines Geschäftspartners Wadim Nowinskyj.

Zum Erbe der PR kann man mit Einschränkungen auch die Partei Unser Land zählen, die vor allem im Gebiet Luhansk gute Wahlergebnisse erzielte. Unser Land ist weniger Partei als eine Gruppe um den aus der Region Luhansk stammenden Populisten Serhij Schachow, der durch virtuosen Einsatz von Wählerkauf Berühmtheit erlangte. Er konkurriert zwar mit Juri Bojko um Einfluss in der Region; gleichwohl erweisen sich Schachow und seine Leute aber als Produkte der von der PR über Jahre geprägten Kultur.

Und schließlich zählen zum Erbe der PR lokale Parteiprojekte, die den "örtlichen Fürsten" und ihrer Entourage den Einzug in die Gemeinderäte oder die Wahl zum Bürgermeister ebnen sollen. Ein Beispiel ist die bei diesen Wahlen ausgesprochen erfolgreiche Partei Ordnung (Porjadok ), die in sieben Stadträten des Gebiets Donezk (davon in zwei Räten mit Sitzmehrheit) vertreten ist und drei Bürgermeister stellt. Ein anderes Beispiel ist die Partei des Friedens und der Entwicklung (Partija Mira ta Roswytku /PMR), die nach bisherigen Angaben in mindestens zwei Stadträten vertreten ist und in der faktischen Hauptstadt des regierungskontrollierten Gebiets Donezk die Verquickung von ökonomischer und politischer Macht der "Korporation" verkörpert: Sämtliche Abgeordnete der Fraktion sind Mitarbeiter der ortsansässigen Neuen Maschinenfabrik Kramatorsk (Nowokramatorskyj Maschinobudiwnyj Sawod /NKMS). Die Parteien Ordnung und PMR gehören zum Orbit Rinat Achmetows und Wadym Nowinskyjs. Die politische Bedeutung von "gemeindekonstituierenden Fabriken" in der Region unterstreicht neben der PMR auch die Partei des Bürgermeisters von Mariupol. Einzelne Abgeordnete des Blocks Wadym Bojtschenko rekrutieren sich u. a. aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ortsansässiger Firmen Rinat Achmetows. Der wiedergewählte Bojtschenko war selbst Topmanager des zu Achmetows Firmenimperium zählenden Metallurgiekombinats Iljitsch .

Parteiprojekte wie Ordnung oder Frieden und Entwicklung imitieren Pluralismus, aber tatsächlich erweisen sie sich als Hüllen für "Feudalherren" aus dem Orbit des OB bzw. Rinat Achmetows oder Wadym Nowinskyjs. Sie sind auch Ergebnis eines Parteien-Franchising, dass durch die wahlgesetzliche Stärkung der Parteien auf unterster lokaler Ebene und Mängel im Gesetz über politische Parteien gefördert bzw. ermöglicht wird. Bürgerinnen und Bürgern war es praktisch kaum möglich, rechtzeitig vor der Wahl eine Partei zu gründen. Als Ausweg blieb die Erwerbung des Brands einer bereits registrierten Partei, die dann entsprechend umbenannt wird. Möglich ist das aber meist nur mit Geld und Beziehungen.

Die Kandidaten der oben genannten Nachfolgeparteien der PR setzten sich in der deutlichen Mehrheit der Städte des Donbas durch. Die Wahlen waren daher eine Bestätigung der anhaltenden Nachwirkung des Erbes der PR in der Region, wenn man die oben genannten Projekte zusammennimmt. Ungeachtet der Verflechtung ihrer Geschäftsinteressen muss man diese Parteien derzeit jedoch als eigenständige Akteure begreifen, die heute in einem scharfen Konkurrenzkampf stehen und um politische Macht und Kontrolle über finanzielle Ressourcen in der Region rivalisieren. Ihr Zusammenschluss ist nicht ausgeschlossen, wenn ihre Parteiführer darin eine Notwendigkeit sehen, um ihre Macht zu wahren. Die ideologischen Barrieren sind nicht hoch und ihre "Feudalherren" unterscheiden sich hinsichtlich ihrer politischen und ökonomischen Praktiken kaum. Beispielsweise unterscheiden sich die OPSSch und der OB nicht prinzipiell in ihrer Deutung des Konflikts mit Russland und der Minsker Vereinbarungen, auch wenn Repräsentanten des OB pragmatischer auftreten und sich als loyal zum Staat geben.

Trotz der oben aufgezeigten strukturellen Kontinuitäten zeigten die Lokalwahlen unter Teilen der Bevölkerung der Region einen wachsenden Wunsch nach Veränderung. In mittleren und kleineren Städten und sowie Siedlungsgemeinden und Dörfern konnten proeuropäische Parteien in die Räte einziehen, die traditionell keine breitere Basis in der Region haben. Darunter sind beispielsweise die der Stärkung der lokalen Selbstverwaltung verpflichtete Partei Kraft der Menschen (Sila Ljudej ), die liberale Reformpartei Holos (Stimme ) oder die Partei des ehemaligen Premierministers Hrojsman Ukrainische Strategie Hrojsmans (Ukrajinska Stratehija Hrojsmana ) oder die Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Poroschenko. Diese Parteien waren vor allem in strukturschwachen Gemeinden erfolgreich. Deswegen wäre es wichtig, dass künftige Programme zur regionalen Entwicklungen die strukturschwächeren Regionen des ukrainisch kontrollierten Donbas berücksichtigen, um den sich regenden Wunsch nach Veränderung nicht zu enttäuschen und das Vertrauen in die positiven Möglichkeiten der Selbstverwaltung zu stärken.

Auch wenn die Regierungspartei SN im Vergleich zu den Parlamentswahlen bei den Lokalwahlen deutlich schlechter abschnitt, wird sie in fast allen Räten der Region vertreten sein. Mit gewissen Einschränkungen illustriert auch die Wahl von SN den Wunsch nach Veränderung in der Region. SN war insbesondere dort erfolgreich, wo sie kompetenten Persönlichkeiten aus der örtlichen Zivilgesellschaft eine Plattform bieten konnte. Dies war der Fall in Slowjansk wo die Stadträtin Olha Altunina als von SN aufgestellte Bürgermeisterkandidatin zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten um sich sammeln und SN schließlich mit beachtlichen 16,12% in den Stadtrat einziehen konnte. Doch ob sich SN zu einer eigenständigen Kraft entwickeln kann, die der Gesellschaft in der Region ernsthafte politische Alternativen bietet oder sich mit lokalen "Feudalherren" und Vertretern korporativer Interessen arrangiert, ist derzeit noch nicht absehbar.

Der Grad des künftigen Einflusses lokaler "Feudalherren" in den von der Ukraine kontrollierten Teilen des Donbas hängt nicht nur von der politischen Führung des Landes, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern selbst vor Ort oder gesellschaftlichen Organisationen und Initiativen ab, die sich um ein Zusammenwirken zwischen der Bürgerschaft und den vor Ort politisch Verantwortlichen bemühen, um mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger Entscheidungen für die Entwicklung der Gemeinde auszuarbeiten. Insbesondere muss man die Bevölkerung breiter über Instrumente aufzuklären, die die Kontrolle der Handlungen der lokalen Autoritäten durch die Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Gleichzeitig muss an der Vervollkommnung der Gesetzgebung gearbeitet werden, die den Einbezug der Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse erleichtern bzw. fördern und so im Donbas die weitere Entwicklung der Demokratie in der kommunalen Selbstverwaltung erlauben würde.

Lesetipp

Yuliya Erner/Samuel Goda/Wilfried Jilge/Valerij Novikov: Influence of local elections on democratic and socio-economic development of government-controlled territory of Donbas. Oktober 2020, Externer Link: https://civilmplus.org/wp-content/uploads/2020/10/Publication_eng.pdf.

Fussnoten

Samuel Goda, University of Economics in Bratislava

Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker, Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)

Valerij Novikov, Head of the Luhansk Oblast Centre "Alternative" Alle drei Autoren sind Mitglieder der Expertengruppe "Lokalwahlen" der internationalen unabhängigen NGO-Plattform CivilM+ zur Beilegung des Konflikts in der Ostukraine.