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Analyse: Wie die ukrainisch-ungarischen Beziehungen in die Krise gerieten – und warum sie nicht aus der Sackgasse kommen | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wie die ukrainisch-ungarischen Beziehungen in die Krise gerieten – und warum sie nicht aus der Sackgasse kommen

Dmytro Tuschanskyj

/ 14 Minuten zu lesen

Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn kriseln seit 2017. Beide Länder wissen nicht, wie sie ohne Gesichtsverlust aus der verfahrenen Lage kommen können. Die Gründe: Fragen zu ethnischen Minderheiten in der Ukraine und zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

September 2020 in Transkarpatien in der Westukraine: Die Außenminister der Ukraine und Ungarns, Dmytro Kuleba (l.) und Péter Szijjártó (r.), begleiten eine Lieferung von 50 Beatmungsgeräten an ein Krankenhaus in Uschgorod. (© picture-alliance, Photoshot )

Zusammenfassung

Ungarn gehört zu jenen Ländern, die im Dezember 1991 als erste die unabhängige Ukraine anerkannt haben und mit denen Kyjiw diplomatische Beziehungen aufnahm. Bis 2017 zeichnete sich das bilaterale Verhältnis weder durch große Freundschaft noch durch Feindseligkeit aus. Meist standen die Interessen der ungarischen Gemeinschaft im Zentrum, die im äußersten Westen der Ukraine entlang der Grenze zu Ungarn in der Region Transkarpatien lebt. Seit September 2017 jedoch, nachdem in der Ukraine ein neues Bildungsgesetz verabschiedet worden war, kam es zwischen Kyjiw und Budapest zu einem heftigen Konflikt, der längst über reine Debatten zur Frage der Unterrichtssprache der ungarischen ethnischen Minderheit hinausgewachsen ist. Es entwickelte sich die schwerste und tiefgreifendste Krise zwischen den beiden Nachbarländern, seit die diplomatischen Beziehungen aufgenommen wurden. Zudem reicht diese Krise weit über die bilateralen Beziehungen hinaus und wird regelmäßig auf NATO- und EU-Ebene erörtert. Sämtliche Versuche der letzten drei Jahre, den Konflikt zwischen Kyjiw und Budapest zu lösen, blieben ohne Erfolg. Es stellt sich die Frage: Können die Ukraine und Ungarn aus der jetzigen Sackgasse herauskommen, und wenn ja, wie genau?

Die Sackgasse

Ende Mai 2020 erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj auf einer Pressekonferenz aus Anlass der Vollendung seines ersten Amtsjahres, dass er bereit sei, mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ein Memorandum zu unterzeichnen, das den Konflikt der vergangenen drei Jahre beenden würde. Einen Monat später, Ende Juni, erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bei einem gemeinsamen Auftritt mit seinem ungarischen Amtskollegen Péter Szijjártó, dass das Memorandum bis Ende Juli bei einem persönlichen Treffen der beiden Staats- und Regierungschefs unterzeichnet werden könne.

Es schien, als sei der langwierige Konflikt gelöst. Schließlich hatte – nachdem Selenskyj Präsident geworden war – auch der ungarische Ministerpräsident persönlich und mehrfach erklärt, dass er ein Treffen mit dem ukrainischen Staatschef wünsche.
Nun ist Ende Oktober, aber das lang erwartete Treffen zwischen Selenskyj und Orbán hat immer noch nicht stattgefunden; das Memorandum ist nicht unterzeichnet und der Konflikt nicht beendet.
Der offizielle Grund, warum das Treffen von Selenskyj und Orbán noch nicht stattgefunden hat, ist der, dass zuerst die Sitzungen von zwei zwischenstaatlichen Kommissionen stattfinden sollen, der zu Fragen ethnischer Minderheiten und der über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. In Wirklichkeit aber stecken die Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn bereits seit langem in einer Sackgasse und beide Länder wissen nicht, wie sie ohne Gesichtsverlust aus der verfahrenen Lage kommen können.
Die letzten drei Jahre – seit September 2017, als das neue ukrainische Bildungsgesetz verabschiedet wurde, das den Beginn des ukrainisch-ungarischen Konflikts markiert – ist von jedem Treffen ein Durchbruch und eine Beendigung des Konflikts erwartet worden. Doch obwohl es regelmäßige Gespräche gab (so hat es trotz der Coronavirus-Pandemie allein in diesem Jahr vier persönliche Begegnungen der Außenminister gegeben), ist der Konflikt bis heute nicht beigelegt.

Auch sollte einen nicht in die Irre führen, dass Ungarn im Juni dieses Jahres den Beitritt der Ukraine zum Enhanced Opportunities Program (EOP) der NATO nicht blockiert hat. Denn noch beim letzten Außenministertreffen in Uschhorod hatte Péter Szijjártó erklärt, Ungarn werde sein Veto hinsichtlich der Ukraine-NATO-Kommissionen und einer Annäherung Kyjiws an die Allianz aufrechthalten. Im Oktober 2019 hatte Budapest erst im letzten Moment sein Veto gegen eine gemeinsame Erklärung der Botschafter der NATO-Staaten zur Ukraine zurückgenommen. Im Juni 2018 hatte Ungarn als einziger EU-Staat die Gewährung eines Milliardenkredits für die Ukraine nicht unterstützt. Und unmittelbar nach der Verabschiedung des erwähnten Bildungsgesetzes erklärte Budapest in Gestalt von Péter Szijjártó, dass das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU revidiert werden müsse.

Zweifellos hat die Schärfe des Konflikts zwischen Kyjiw und Budapest im Laufe des vergangenen Jahres erheblich abgenommen; die Ukraine und Ungarn sind heute einer Normalisierung der Beziehung näher als je zuvor seit Herbst 2017. Es wäre allerdings verfrüht, von einer tatsächlichen Normalisierung zu sprechen und auch ein persönliches Treffen zwischen Selenskyj und Orbán oder die Unterzeichnung des erwähnten Memorandums würden den ungarisch-ukrainischen Konflikt kaum lösen.
Für einen Ausweg aus der Situation muss man sich über die tatsächlichen Gründe des Konflikts und dessen Natur klar werden.

Der Ausgangspunkt

Der Konflikt begann formal, nachdem die Werchowna Rada am 5. September 2017 ein neues Bildungsgesetz verabschiedet hatte, das den Beginn einer umfassenden Bildungsreform in der Ukraine markierte. In Paragraph 7 dieses Gesetzes ist festgeschrieben, dass "die Sprache des Bildungsprozesses in den Lehranstalten die Staatssprache" ist, also das Ukrainische. Gleichzeitig behalten die ethnischen Minderheiten das Recht, bis zur vierten Klasse komplett in der Muttersprache unterrichtet zu werden, und von der 5. bis zur 11. Klasse in einzelnen Fächern auf Englisch oder einer der offiziellen Sprachen der EU, zu denen auch das Ungarische zählt.
In einem neuen Gesetz über die Sekundarbildung, das im Januar 2020 verabschiedet wurde, sind die Zeiträume genauer gefasst worden: Bis zur vierten Klasse sollen Kinder ethnischer Minderheiten obligatorisch das Ukrainische erlernen, doch können alle anderen Fächer in der Muttersprache unterrichtet werden. In der 5. Klasse soll der Anteil des ukrainischsprachigen Unterrichts mindestens 20 Prozent betragen und sich bis zur 9. Klasse auf 40 Prozent erhöhen. In den höheren Klassen (den Klassen 10 und 11) soll der Unterricht zu 60 Prozent in ukrainischer Sprache erfolgen.

Kyjiw hat diese Neuerungen von Anfang an mit einer notwendigen Integration von Gesellschaft (inklusive ethnischer Minderheiten) und ukrainischer politischer Nation begründet, und zwar angesichts der hybriden Aggression Russlands.
Die Ungarn und das offizielle Budapest haben dieses Gesetz als Versuch einer Assimilierung der ungarischen Minderheit wahrgenommen, als Angriff auf ihre Identität, Verletzung ihrer Rechte und Bruch der Verpflichtungen Kyjiws. Alle Erklärungsversuche der damaligen ukrainischen Bildungsministerin, Lilija Hrynewytsch, dass das Ziel gerade umgekehrt sei – verbesserte Ukrainischkenntnisse sollten die Rechte und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung von Kindern ethnischer Minderheiten in der Ukraine erweitern – zeigten keine Wirkung.

Auch die Venedig-Kommission des Europarats konnte den Streit nicht lösen. Diese hatte der Ukraine empfohlen, den Paragraphen 7 des Gesetzes hinsichtlich der ethnischen Minderheiten äußerst flexibel zu handhaben, die privaten Schulen auszunehmen und die Übergangszeit von 3 auf 5 Jahre bis 2022 zu verlängern. Kyjiw hat diese zwei Gesetzesänderungen im April 2019 durch das neue Sprachengesetz (hinsichtlich der Übergangszeit) und durch das Gesetz über die Sekundarbildung (hinsichtlich der privaten Schulen) im Februar 2020 verabschiedet. Offensichtlich hat das aber die Lage nicht verändert.

Das liegt auch daran, dass sich die Ursache der ukrainisch-ungarischen Krise nicht allein auf die Sprachenfrage beschränkt, sondern gegenwärtig sehr viele und höchst sensible Fragen der bilateralen Beziehungen umfasst: die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft und der Vergabe von ungarischen Pässen an ethnische Ungarn in der Ukraine, die Finanzspritzen von Ungarn in die Region Transkarpatien und der Einfluss Budapests in dieser Grenzregion, das Recht der ungarischen Gemeinden auf Autonomie und die konkrete Ausgestaltung dieser Autonomie, das Verwenden ungarischer Symbole in der Öffentlichkeit, die Schaffung eines "ungarischen Bezirks" in der Ukraine, die Repräsentation der ungarischen Minderheit in staatlichen Stellen, die europäische und euroatlantische Integration der Ukraine, der Einfluss Russlands auf die Politik Budapests und die Rolle Russlands beim Schüren des ukrainisch-ungarischen Konflikts, um nur einige zu nennen.

All diese Fragen haben sich über Jahre hinweg, auch schon vor September 2017, angesammelt und sind in den letzten drei Jahren eine nach der anderen an die Oberfläche getreten.
So stellt Budapest beispielsweise bereits seit 2011 ethnischen Ungarn im Ausland in einem vereinfachten Verfahren ungarische Pässe aus. Den letzten offen zugänglichen Informationen von Anfang 2015 zufolge haben bis dahin 94.000 ukrainische Staatsbürger einen ungarischen Pass erhalten (Externer Link: https://www.eurointegration.com.ua). Wegen der Ausstellung ungarischer Pässe verwies Kyjiw 2018 einen ungarischen Konsul des Landes, und Budapest als Reaktion darauf einen ukrainischen.

Kollision der Visionen

Hätte die Krise vermieden werden können? Möglicherweise. Gleichzeitig erscheint sie aber logisch und folgerichtig, und zwar nicht nur, weil weder Kyjiw noch Budapest sich bis in die jüngste Zeit sonderlich um die bilateralen Beziehungen gekümmert und in den letzten Jahren eher mit inneren Angelegenheiten beschäftigt haben. Mit Kyjiw und Budapest prallten 2017 zwei unterschiedliche Visionen souveräner Staaten aufeinander, mit unterschiedlichen Erwartungen aneinander und verschiedenen Verständnissen über den Status und die Rechte ethnischer Minderheiten.

Seit 2013 erfolgt durch die Revolution der Würde vor dem Hintergrund der russischen Aggression praktisch ein Neustart der ukrainischen Staatlichkeit. Dieser wird von tiefgreifenden Veränderungen sowohl im gesellschaftlichen Bewusstsein wie auch in den staatlichen Institutionen begleitet. Das Bildungsgesetz und die nachfolgenden Gesetze über die Sprache und die Sekundarbildung oder etwa die Dezentralisierungsreform und der neue administrative Aufbau der Ukraine sind Teil dieses Prozesses zur Weiterentwicklung eines souveränen Staates. Dieser Prozess wurde unter Petro Poroschenko begonnen und setzt sich, bislang jedenfalls, auch unter Wolodymyr Selenskyj fort.

In Ungarn haben Viktor Orbán und dessen Fidesz -Partei seit 2010 mit Hilfe der verfassungsändernden Mehrheit im Parlament die verfassungsrechtliche Landschaft des Landes praktisch auf sich zugeschnitten. Das Resultat wird meist als "illiberale Demokratie" bezeichnet. Orbán hat den Schutz der Rechte aller Ungarn – ganz gleich, wo sie leben – nicht nur zur verfassungsmäßigen Pflicht des Staates erkoren, sondern auch ins Zentrum seiner Innen- und Außenpolitik gerückt. Hierbei handelt es sich vor allem um ein Echo des Trianon-Vertrags, des Friedensvertrags nach dem Ersten Weltkrieg, durch den Ungarn rund ein Drittel seiner Bevölkerung und zwei Drittel seiner Territorien verlor. Für Orbán geht es aber auch um die Vision von einem modernen Ungarn, dessen Zukunft sowie die Geschlossenheit der ungarischen Nation. Was die ungarischen Gemeinden betrifft, die sich vor 100 Jahren jenseits der Grenzen des ungarischen Staates wiederfanden, so sollen diese Orbáns Vision zufolge das Recht auf den Gebrauch ihrer Muttersprache und auf muttersprachlichen Unterricht, auf eine doppelte Staatsbürgerschaft, auf eine Selbstverwaltung, kurzum auf verschiedene Arten der Autonomie haben – und zwar auch in territorialer Hinsicht –, um ihre Identität und gleichzeitig die Bindung zu ihrem Vaterland bewahren zu können. Das betrifft nicht nur die Ukraine, wo dem Zensus von 2001 zufolge rund 150.000 ethnische Ungarn leben, sondern auch andere Nachbarstaaten Ungarns. In der Slowakei etwa leben rund eine halbe Million Ungarn, in Rumänien sind es mehr als eine Million. Und während Bukarest eine doppelte Staatsangehörigkeit anerkennt, so ist das bei Bratislava und Kyjiw nicht der Fall.

Auch mit diesen Ländern hatte Ungarn schon vor Orbán mehrere ähnliche Konflikte wie aktuell mit der Ukraine. Im Unterschied zu den Erfahrungen mit der Slowakei oder Rumänien fiel die Krise in den ungarisch-ukrainischen Beziehung zeitlich mit der militärischen Aggression durch Russland zusammen. Hinzu kommt, dass Wladimir Putin unter dem gleichen Vorwand, nämlich dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, die Annexion der Krim unternommen und den Krieg im Donbas begonnen hat.

Die Hand des Kreml

In der Tat versucht der Kreml – folgt man russischen Zeitungsberichten – seit langem, destruktiv auf die ungarisch-ukrainischen Beziehungen einzuwirken: Seit 2014 wird in den Medien intensiv das Narrativ von einem ungarischen Separatismus in Transkarpatien verbreitet. Russlands Vorgehen beschränkt sich aber nicht auf mediale Fakes und Manipulationen: Sofort nach Verabschiedung des Bildungsgesetzes kam es in Transkarpatien zu einigen Provokationen, hinter denen die Hand des Kremls erkennbar ist.

Hierbei handelte es sich um den Versuch, das ungarische Monument am Werezkyj-Pass (ung.: Vereckei-hágó ) in den Karpaten zu zerstören, das an die ungarische Landnahme vor 1100 Jahren erinnert; um zwei Brandstiftungen im Büro der Ungarischen Kulturgesellschaft in Transkarpatien in einem Abstand von nur drei Wochen, sowie um Angriffe auf Autos mit ungarischen Nummernschildern in Berehowe (ung.: Beregszász ).

Die ukrainische Seite behandelte all diese Zwischenfälle offiziell als antiungarische Provokationen, hinter denen Russland stehe, obwohl in den meisten Fällen nicht ausreichend Beweise hierfür vorlagen. Bei einer dieser Provokationen liegt jedoch sogar ein Gerichtsurteil aus Polen vor, und zwar zum Fall des ersten Brandanschlags auf das Büro der Ungarischen Kulturgesellschaft in Uschhorod am 4. Februar 2018. Im März 2019 wurden die Brandstifter, drei polnische Rechtsextremisten, nicht nur zu Gefängnisstrafen verurteilt; bei den Ermittlungen kamen auch die Motive für den Anschlag ans Licht: Der Anschlag sollte ukrainischen Nationalisten in die Schuhe geschoben werden, um die Spannungen zwischen Ungarn und der Ukraine zu erhöhen. Der Organisator des Angriffs, Michał Prokopowicz, gab an, dass ihn der als rechtsextrem geltende deutsche Journalist Manuel Ochsenreiter mit dem Brandanschlag beauftragt habe. Ochsenreiter, gegen den die Berliner Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen des Verdachts der Brandstiftung aufgenommen hat, unterhält wiederum enge Verbindungen zu (rechten) Netzwerken in Russland, und gegen seinen engen politischen Weggefährten Mateusz Piskorski, der seit 2016 in Warschau in Untersuchungshaft sitzt, ermittelt die polnische Generalstaatsanwaltschaft wegen Spionage für den russischen Nachrichtendienst FSB. Der ukrainische Geheimdienst SBU vermutet, dass auch Ochsenreiter für den FSB arbeitet bzw. von diesem finanziert wird.

Die Motive Moskaus sind klar: Es soll gezeigt werden, dass in der Ukraine auf staatlicher Ebene nicht nur die Rechte der russischen ethnischen Minderheit verletzt werden, sondern auch die aller anderen. Weiterhin soll der Eindruck erweckt werden, dass es nicht nur im Donbas einen innerstaatlichen ethnischen Konflikt gibt, sondern auch unmittelbar an der Grenze zur EU.

Im Übrigen hat Russland sofort nach Verabschiedung des ukrainischen Bildungsgesetzes andere Länder, in erster Linie Ungarn, öffentlich zur Zusammenarbeit aufgerufen, um in dieser Frage Druck auf die Ukraine auszuüben. Wie sich herausstellte, gab es zwischen den Parlamentspräsidenten der beiden Länder, László Kövér und Wjatscheslaw Wolodin, einen offiziellen Briefwechsel aus diesem Anlass (Externer Link: http://duma.gov.ru/news/47179/).

Zweifellos wird Russland auch weiterhin versuchen, destruktiv auf die ungarisch-ukrainischen Beziehungen Einfluss zu nehmen, selbst dann, wenn diese sich normalisieren sollten. Darauf müssen sowohl Kyjiw wie Budapest vorbereitet sein, wobei Ungarn aktuell selbst nicht nur gern mit dem Kreml anbandelt – unter anderem auch in der ukrainischen Frage – sondern seine Zusammenarbeit mit Moskau vorantreibt. Zudem sympathisieren Orbán und Putin persönlich miteinander.

Wege aus der Sackgasse

Dies ist lediglich eine kurze Beschreibung der Komplexität und Vielschichtigkeit des ungarisch-ukrainischen Konflikts, der alles enthält: gegenseitige Anschuldigungen, Ultimaten, Explosionen, Brandstiftungen, gegenseitige Ausweisung von Konsuln, Vorwürfe einer Unterstützung von Separatismus und eines Angriffs auf die Souveränität eines Landes, Einmischung von Dritten. Es verwundert insofern nicht, dass sich Budapest und Kyjiw in eine Sackgasse manövriert haben und dort nicht wieder herauskommen. Mitunter scheint es, als wollten sie das auch gar nicht, da sie aus dem Konflikt Nutzen ziehen.

Das gilt vor allem für Viktor Orbán. Allerdings muss man verstehen, dass neben einer politischen und geopolitischen Motivation, die Orbán nicht zurückweichen lässt, auch ideologische Gründe eine Rolle spielen, nämlich die erwähnte Vorstellung vom Schutz und einer Geschlossenheit der ungarischen Nation. Auch die Wahlen 2022 – sie könnten Orbán 16 ununterbrochene Jahre an der Spitze des Landes bescheren – spielen eine Rolle, denn dieser Kurs kommt bei den Ungarn, wo 67 Prozent der Bevölkerung der Auffassung sind, dass einige Teile von Nachbarstaaten eigentlich zu Ungarn gehören, gut an.

Der ukrainische Staat wiederum ist – bislang jedenfalls – nicht bereit, eine andere Richtung für die Entwicklung des Landes einzuschlagen. Deswegen wird Außenminister Dmytro Kuleba – wie auch seine Vorgänger Wadym Prystajko und Pawlo Klimkin – nicht müde zu wiederholen, dass die Ukraine das Bildungsgesetz nicht mehr ändern, geschweige denn abschaffen wird.

Was bleibt Kyjiw und Budapest in dieser Situation?

Variante 1 . Beide Seiten nehmen eine abwartende Haltung ein, in der Hoffnung, dass sich alles von selbst regeln werde, oder dass sich die innenpolitische Lage in der Ukraine oder in Ungarn ändert. Allerdings gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass Orbán seine Macht verlieren könnte; seine Umfragewerte sind exorbitant. Andererseits hatte Budapest große Erwartungen an Wolodymyr Selenskyj gerichtet, nach dem Motto: Sein Vorgänger Poroschenko, der persönlich für den Konflikt verantwortlich war, ist schon seit anderthalb Jahren nicht mehr an der Macht, ohne dass sich die Lage in den ungarisch-ukrainischen Beziehungen sonderlich verändert hätte.

Variante 2 . Der anhaltende Konflikt wird von der neuen Realität zur neuen Normalität und es wird versucht, die Beziehungen unter der Annahme zu gestalten, dass der Konflikt in absehbarer Zukunft nicht zu lösen sein wird. Das beschreibt im Grunde das Vorgehen in den letzten drei Jahren. Paradoxerweise hat zum Beispiel der Handel zwischen beiden Ländern in den letzten fünf Jahren genau auf dem Höhepunkt des Konflikts am stärksten zugenommen: Er betrug 2017 und 2018 jeweils 2,48 und 2,9 Milliarden US-Dollar.

Dass Kyjiw im Dialog mit Budapest das gleiche erreicht, was Kyjiw in seinen Beziehungen zu Warschau wenigstens zum Teil gelungen ist – diese hatten sich fast gleichzeitig mit den ungarisch-ukrainischen Beziehung wegen historischer Fragen verschlechtert, zuletzt aber wieder verbessert – ist unwahrscheinlich. Während des letzten Besuchs von Präsident Andrzej Duda in der Ukraine im Oktober 2020 wurden die konfliktträchtigen Themen nicht einmal angesprochen. Die Vorstellung, dass Budapest plötzlich auf das Thema der Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine zugunsten wirtschaftlicher Themen verzichtet, ist zumindest in absehbarer Zukunft nicht realistisch.

Bei beiden Varianten ist zu berücksichtigen, dass die gesamte Büchse der Pandora mit den Problemen der bilateralen Beziehungen immer noch offen ist. Und jedes Problem kann jederzeit wieder "hochgehen" und eine neue Spirale des Konflikts auslösen.

Genügend Anlässe sind vorhanden: So beschuldigte Kyjiw Budapest, sich in die gerade abgehaltenen ukrainischen Kommunalwahlen vom 25. Oktober 2020, und damit in innere Angelegenheiten der Ukraine, eingemischt zu haben. Hintergrund waren die Äußerungen des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó und des Staatssekretärs für nationale Angelegenheiten Árpád Potápi, die die ungarische Minderheit in der Ukraine öffentlich dazu aufgerufen hatten, die Gesellschaft für ungarische Kultur in Transkarpatien sowie deren Kandidaten zu unterstützen. Damit verstießen sie gegen Artikel 57 des ukrainischen Wahlgesetzes, das Ausländern die Teilnahme am Wahlkampf untersagt. Das ukrainische Außenministerium kündigte eine "harte Reaktion" an, und der Vorfall könnte eine neue Eskalationsspirale in Gang setzen. Spätestens 2023, wenn die Übergangsfrist für Paragraph 7 des Bildungsgesetzes ausläuft, wird es einen neuen Anlass mit reichlich Konfliktpotenzial geben.

Variante 3 . Kyjiw und Budapest könnten versuchen, in kleinen Schritten die gesamte Liste problematischer Fragen in den bilateralen Beziehungen anzugehen, die sich in all den Jahren angesammelt hat. Das wäre durchaus im Rahmen des Machbaren.
Bei der Frage des Bildungsgesetzes könnte man versuchen, auf Grundlage der Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 ein zweisprachiges Modell zu entwickeln, bei dem die Fächer in der Schule parallel auf Ungarisch und Ukrainisch unterrichtet werden. Das ließe die geltende Fassung des Bildungsgesetzes und seines Paragraphen 7 zu. Dergestalt könnte das Bildungssystem ohne drohende Assimilierung der Ungarn zu einer integrativen Komponente werden.

Was die doppelte Staatsbürgerschaft betrifft, so sind in den letzten Jahren immer häufiger Erklärungen von offiziellen Vertretern des ukrainischen Staates zu hören, dass diese Frage aktuell ist, und zwar nicht nur im Kontext der ungarisch-ukrainischen Beziehungen, sondern auch insgesamt für ein Land, das eine große Diaspora hat und in den letzten Jahren durch Emigration viele Bürger verloren hat. Darüber hinaus soll das neue Staatsangehörigkeitsgesetz, zu dem ein Entwurf bereits im Parlament registriert ist, auch eine Antwort auf das aggressive Vorgehen Russlands sein, das ukrainischen Bürgern russische Pässe ausstellt.

Die Frage des Rechts der Ungarn auf Selbstverwaltung in ihren Siedlungsgebieten ließe sich über die Dezentralisierungsreform und einer Übertragung weitreichender Zuständigkeiten auf die lokale Ebene lösen. Außerdem ist eines der Ergebnisse der Verwaltungsreform, die in diesem Jahr abgeschlossen wurde, dass der Kreis Berehowe, in dem viele Ungarn leben, erhalten bleibt. Trotz aller Ängste und Voreingenommenheiten ist derzeit nicht zu erkennen, wo dort ein echter Separatismus entstehen soll.

Die dritte Variante wäre wohl die schwierigste und würde von beiden Seiten ein hohes Maß an Vertrauen, viel Energie und Geduld verlangen – und qualifizierte Experten, die größeren Nutzen in gutnachbarschaftlichen Beziehungen sehen als in einem Konflikt.

Dies wäre zugleich der einzige Weg, um tatsächlich aus der Sackgasse herauszukommen und gesunde ungarisch-ukrainische Beziehungen im Rahmen der europäischen und euroatlantischen Integration aufzubauen. Dies gilt übrigens genauso für das EU- und NATO-Mitglied Ungarn wie für die Ukraine, die erst noch einen Weg dorthin sucht.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Dmytro Tuschanskyj ist Experte für Ungarn, die ungarisch-ukrainischen Beziehungen und die politischen Prozesse in Mittel- und Osteuropa. Er hat einen Magisterabschluss in Politikwissenschaft (Europastudien an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie) und ist Gründer und Direktor des Analyse-Zentrums Institut für mitteleuropäische Strategie.