Wie lassen sich Epidemien verstehen?
Um die HIV-Epidemie in der Ukraine zu verstehen, muss man diese im Kontext der wechselvollen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen seit dem Ende der Sowjetunion betrachten. Dass die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen einen Einfluss auf die Epidemie haben, erscheint einleuchtend. Aber woran genau lässt sich dieser Einfluss festmachen? Welche Faktoren müssen berücksichtigt werden? Tony Barnett und Alan Whiteside (2002) stellen in ihrem Buch Aids in the 21st Century ein Modell vor, mit dem die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen und Auswirkungen von HIV-Epidemien international vergleichend untersucht werden können. Die Begriffe Risikoumfeld und Vulnerabilität spielen dabei eine zentrale Rolle. Mit Risikoumfeld werden alle Faktoren des sozialen Umfelds bezeichnet, welche die Übertragung von HIV begünstigen. Vulnerabilität (oder Anfälligkeit) hingegen umfasst alle sozialen Auswirkungen einer Epidemie. Entscheidend ist, dass sich Risiko und Vulnerabilität auf verschiedenen Ebenen – der individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Ebene – manifestieren. Von der Epidemie betroffene Menschen können beispielsweise gesundheitliche Einschränkungen, gesellschaftliche Marginalisierung und Stigmatisierung erfahren. Auf gesellschaftlicher Ebene können Armut und soziale Ungleichheit die Verbreitung des Virus fördern und die Fähigkeit einer Gesellschaft beeinträchtigen, auf eine Epidemie zu reagieren. Um das Risikoumfeld in einer Gesellschaft ermessen zu können, müssen also alle Faktoren – vom individuellen Verhalten, sozialen Umfeld bis zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – betrachtet werden.
Risikoumfeld Ukraine: Die Folgen der Transformation
Aufgrund der langen Inkubationszeit – bis zum Auftreten der ersten Symptome können mehrere Jahre vergehen – entwickeln sich HIV-Epidemien über einen sehr langen Zeitraum. Um das Risikoumfeld von HIV in der Ukraine zu verstehen, muss man also einen Blick zurückwerfen. Bis zur Mitte der 1990er Jahre waren HIV-Infektionen eine Randerscheinung in der Ukraine. Die geopolitische Isolation der Sowjetunion führte dazu, dass die Epidemie später Fuß fasste als in anderen Regionen der Welt. Der erste Fall in der Sowjetunion wurde erst 1987 festgestellt, zu einem Zeitpunkt also, als die Epidemie in vielen anderen Ländern bereits weit fortgeschritten war. Die post-sowjetischen Länder konnten diesen Zeitvorsprung jedoch nicht für sich nutzen. Ab dem Ende der 1990er Jahre stieg die Epidemie in der gesamten Region rasant an. Die schnelle Verbreitung von HIV in den Anfangsjahren ging vor allem auf intravenösen Drogenkonsum zurück. Der transnationale Handel mit Opiaten ließ neue Märkte entlang der Handelsrouten zwischen Zentralasien und Westeuropa entstehen. Aufgrund der hohen Übertragungswahrscheinlichkeit bei gemeinsamen Gebrauch von Spritzen konnte sich das Virus schnell in den lokalen Netzwerken von Drogennutzern verbreiten. Die allgemeine Verfügbarkeit von billigen Drogen, das weitgehende Fehlen von verlässlichen Informationen und der Mangel an Präventions- und Behandlungsprogrammen führten dazu, dass immer mehr junge Menschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion Drogen konsumierten und somit einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt waren.
Neben Russland ist die Ukraine am stärksten von der Verbindung zwischen Drogenkonsum und HIV betroffen. Nach Schätzungen von UNAIDS gab es 2017 in der Ukraine 346,000 intravenöse Drogennutzer. In den ersten Jahren war die HIV-Epidemie in der Ukraine wie die überwiegende Mehrheit der Drogennutzer vor allem jung und männlich. Ab Ende der 2000er Jahre trat parallel zur Epidemie unter Drogennutzern eine vermehrte Verbreitung von HIV durch Sexualkontakte auf. Zum heutigen Zeitpunkt werden etwa 75 Prozent der Neuinfektionen auf sexuelle Übertragung zurückgeführt. Mit dieser Entwicklung ging auch eine Feminisierung der Epidemie in der Ukraine einher, wobei der Anteil von Frauen mit 35 Prozent der Betroffenen jedoch noch immer vergleichsweise niedrig ist. Insgesamt wird die HIV-Epidemie in der Ukraine zum heutigen Zeitpunkt als eine gemischte Epidemie bezeichnet. Neben der weiterhin bestehenden Verbreitung innerhalb der Hauptrisikogruppen gibt es eine sich langsamer ausbreitende Epidemie innerhalb der Allgemeinbevölkerung, die auf sexueller Übertragung beruht. Etwa ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Ukraine ist HIV-positiv. Die Infektionsraten innerhalb der Hauptrisikogruppen liegen jedoch deutlich höher. Zu diesen gehören neben intravenösen Drogennutzern und ihren Sexualpartnern, SexarbeiterInnen, Gefängnisinsassen sowie schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben.
Das Risikoumfeld in der Ukraine ist eng mit der wirtschaftlichen und politischen Transformation nach dem Ende der Sowjetunion verbunden. Durch die wirtschaftlichen Krisen, sozialen Umbrüche und die fortbestehende Unsicherheit stieg die allgemeine Vulnerabilität für die Verbreitung von HIV in der ukrainischen Gesellschaft. Die Bevölkerung war schlecht auf das Auftreten neuer sozialer Probleme, wie zum Beispiel Drogen und Prostitution, vorbereitet. Die gesellschaftlichen Veränderungen begünstigten zudem das Auftreten von Risikoverhalten. Darüber hinaus gingen die Kapazitäten des ukrainischen Gesundheitssystems seit den 1990er Jahren stark zurück. Es fehlte an finanziellen Mitteln, Ausstattung und Know-How zur Durchführung von Behandlungs- und Präventionsprogrammen. Das schlecht ausgestattete Gesundheitssystem konnte der entstehenden Epidemie somit nur wenig entgegensetzen. Aufgrund der zahlreichen politischen Umbrüche gab es wenig politische Unterstützung für eine konsequente HIV- und Aids-Politik in der Ukraine. Die Durchführung von Präventionsprogrammen innerhalb der Hauptrisikogruppen wurde in den Anfangsjahren der Epidemie nur durch den Einsatz zivilgesellschaftlicher Organisationen und die finanzielle Unterstützung ausländischer Geldgeber ermöglicht. Staatliche Institutionen nahmen sich dem Thema nur langsam an. Zivilgesellschaftliche Organisationen mussten daher einspringen, um die Aufgaben des Staates zu übernehmen. Den Organisationen fehlte es jedoch vielfach an finanziellen Mitteln und Ausstattung, um Programme im notwendigen Umfang durchzuführen. Die staatliche Vernachlässigung der Epidemie, besonders in der Anfangsphase, hängt aber auch mit der weit verbreiteten Stigmatisierung und Tabuisierung von HIV und Aids in der Ukraine zusammen. Da die Epidemie als Problem von sozialen Randgruppen wahrgenommen wurde, gab es innerhalb der Bevölkerung und der politischen Elite wenig Bereitschaft, sich mit dem Problemfeld auseinander zu setzen. Aids-Organisationen hatten daher wenig Möglichkeiten, politische Unterstützung zu finden.
Russland und Ukraine – viele Gemeinsamkeiten und einige entscheidende Unterschiede
Die Ukraine und Russland weisen in der Entstehung der HIV-Epidemien viele Gemeinsamkeiten auf. Das Risikoumfeld ist in beiden Ländern – vom Ursprung her – ähnlich gelagert. In den vergangenen zwanzig Jahren lassen sich jedoch entscheidende Unterschiede im politischen Umgang mit der Infektionskrankheit feststellen. Während Russland sich in seiner Aids-Politik immer stärker von den Empfehlungen internationaler Gesundheitsorganisationen, wie der WHO und UNAIDS, abwendet, verfolgt die Ukraine einen wesentlich offeneren, auf die Übertragung internationaler Erfahrungen ausgerichteten Kurs. Im Gegensatz zu Russland hat die Ukraine seit Beginn der 2000er Jahre auf die Einführung von Präventionsprogrammen für Risikogruppen gesetzt. 2002 weitete die ukrainische Regierung ihre Unterstützung für sogenannte Schadensminderungsprogramme (u. a. Spritzentausch) aus, um der Verbreitung von HIV unter intravenösen Drogennutzern entgegen zu wirken. 2004 folgte die Legalisierung der Substitutionstherapie, die ebenfalls als wichtige Präventionsmaßnahme gilt. Beide Entscheidungen stellten wichtige politische Weichenstellungen für die kommenden Jahre dar. Die Prävention innerhalb der Risikogruppen konnte auf diese Weise entscheidend ausgeweitet werden. 2010 führte die ukrainische Regierung ein Gesetz zum stärkeren Menschenrechtschutz für Menschen mit HIV ein, welches unter anderem das Recht auf einen Zugang zu Schadensminderungsprogrammen beinhaltet. Darüber hinaus ermöglichten die gesetzlichen Veränderungen zivilgesellschaftlichen Organisationen, gesundheitliche und soziale Dienstleistungen im Auftrages des Staates auszuführen, was die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft stärkte.
Diese politischen Entscheidungen hatten einen entscheidenden Einfluss auf das Risikoumfeld in der Ukraine und führten zu einer Stabilisierung der Epidemie in der Ukraine. Durch die aktive Unterstützung von Präventionsprogrammen für Risikogruppen konnte die Ukraine Fortschritte in der Eingrenzung der HIV-Epidemie erzielen. Eine Studie aus dem Jahr 2014 zeigte, dass sich die Verbreitung von HIV in der Ukraine zwischen 2005 und 2012 verlangsamte: Seit 2005 stieg die Zahl der Neuinfektionen in der Ukraine immer langsamer und 2012 war das erste Jahr, in dem die Gesamtzahl der Infektionen niedriger war als im Vorjahr. Im Jahr 2013 gab es landesweit 1.606 Nadel- und Spritzenaustauschpunkte in der Ukraine, was eine entscheidende Ausweitung des Präventionsangebots bedeutete.
Einen wesentlichen Anteil an der Fortschritten in der Bekämpfung von HIV in der Ukraine hatte die Zivilgesellschaft. Seit den 1990er Jahren spielen zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige Rolle in der Prävention und Behandlung. Besonders hervorzuben sind die ukrainische NGO "Alliance for Public Health" sowie die "ANTIAIDS"-Stiftung von Elena Pintschuk, der Tochter von Ex-Präsident Leonid Kutschma und Ehefrau des Oligarchen Wiktor Pintschuk. Trotz der Erfolge in der Prävention gab es jedoch weiterhin strukturelle Hindernisse, welche die ukrainische HIV- und Aidspolitik beeinflussten. Mehrere Studien wiesen auf die Diskriminierung von Menschen mit HIV im Gesundheitssystem sowie auf Polizeigewalt gegenüber Drogenabhängigen hin. Die schlechte finanzielle Ausstattung des ukrainischen Gesundheitswesens bedeutete zudem, dass das Land stark die finanzielle Unterstützung internationaler Organisationen, wie z. B. USAID oder den Globalen Fonds für HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria (GFTAM) angewiesen ist.
Folgen des Donbas-Konflikts für die Epidemie
Bis 2013 zeichnete sich also eine langsame Stabilisierung der HIV-Epidemie in der Ukraine ab. Mit dem Beginn des militärischen Konfliktes im Osten der Ukraine im Jahr 2014 stiegen die Infektionszahlen jedoch erneut an (siehe Grafik 1).