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Analyse: Der Kampf gegen das Coronavirus in der Ukraine: Langsamer Start, dann Aufholjagd | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Der Kampf gegen das Coronavirus in der Ukraine: Langsamer Start, dann Aufholjagd

Pavlo Illiashenko Olena Levenets Von Pavlo Illiashenko und Olena Levenets (Tallinn University of Technology)

/ 14 Minuten zu lesen

Die Ukraine hat sich erst relativ spät entschieden, den Kampf gegen das Coronavirus aufzunehmen. Ein Grund dürfte der politisch motivierte Regierungswechsel Anfang März gewesen sein, der wirksame Maßnahmen verhinderte. Eine systematische Reaktion der Regierung auf die Covid-19-Bedrohung begann daher erst am 11. März, nur wenige Stunden, bevor die WHO die Pandemie ausrief.

Ein Mitglied des Parlaments mit Gesichtsmaske eilt zu einer Sitzung in Kiew, 30.03.2020. (© picture-alliance/AP)


"Was nicht erkannt wurde, existiert nicht"
Ukrainischer Arzt

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag analysiert die Reaktion der Ukraine auf den Ausbruch von Covid-19 mit Stand vom 18. März. Obwohl aufgrund des Mangels an verlässlichen Daten und der dynamischen Situation nicht die Effizienz der Maßnahmen bewertet werden kann, weisen der Zeitrahmen der erfolgten Maßnahmen sowie ein Vergleich mit den Nachbarländern der Ukraine auf unterschiedliche Reaktionsstrategien vor und nach dem 11. März hin. Unsere Schätzungen legen nahe, dass die Ukraine bei den Coronavirus-Tests hinterherhinkt. Dies lässt sich durch einen passiven Ansatz vor dem 11. März erklären, der in großem Kontrast zu den danach eingeführten aktiven Maßnahmen steht. Wir gehen davon aus, dass sich diese Veränderung vor allem durch politische Gründe erklären lässt.

Aktuelle epidemiologische Situation

Bis zum 18. März wurde das Coronavirus in der Ukraine offiziell bei 16 Personen diagnostiziert, darunter drei Kinder. Zwei Personen sind durch das Virus gestorben. Vier von 25 Regionen sind bisher betroffen: Es gab zehn Fälle in der Region Czernowitz, zwei in der Region Kiew, zwei in der Stadt Kiew, einen Fall in der Region Schytomyr und einen in der Region Donezk. Der erste Fall wurde am 3. März entdeckt und der erste offizielle Todesfall durch das Coronavirus am 13. März gemeldet [für aktuellere Zahlen siehe Grafik 1 auf S. 7 und Grafik 2 auf S. 8, Anm. d Red.].

Die Reaktion der Regierung in der Zeit vor der Pandemie

Die erste Maßnahme der ukrainischen Regierung als Reaktion auf die Covid-19-Bedrohung erfolgte am 23. Januar 2020, als die Zahl der bestätigten Fälle in China noch unter 1.000 lag. An diesem Tag hielt das Gesundheitsministerium eine erste Pressekonferenz zum Thema ab und die Regierung richtete ein Koordinationszentrum beim Ministerkabinett der Ukraine ein.

In den folgenden drei Wochen lag der Schwerpunkt der staatlichen Maßnahmen und der Kommunikation vor allem auf der Prävention gegen die Verbreitung des Coronavirus – zunächst aus China und dann aus Italien – sowie auf der Mobilisierung des Gesundheitssystems, einschließlich Schulungen des medizinischen Personals, um die Aufnahmekapazität zu erhöhen.

Zwischen dem 27. Januar und dem 10. Februar, als die Zahl der bestätigten Fälle in China um das Zehnfache stieg – von etwa 4.000 auf 40.000 – wurde das Ministerium aktiver und gab praktisch täglich neue Briefings. Über die täglichen Pressebriefings hinaus veröffentlichte das Gesundheitsministerium am 27. Januar erstmals Empfehlungen an die Bürger. Am 3. Februar gab das Ministerkabinett der Ukraine eine Empfehlung heraus, Geschäfts- und Urlaubsreisen nach China zu vermeiden. Und am 5. Februar erhielt die Ukraine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein erstes Testset, um bis zu 30 Personen auf Covid-19 zu testen [jedes Testset ermöglicht es, bis zu 30 Personen zu testen, Anm. d Red.].

Eine weitere Verstärkung der Maßnahmen und der Kommunikation folgte Ende Februar, als die Epidemie sich in Italien rapide ausbreitete und dort die Zahl der bestätigten Fälle innerhalb von acht Tagen von etwa 10 auf 1.000 stieg. Der Schwerpunkt der Regierungsmaßnahmen lag auch diesmal auf Präventionsmaßnamen gegen die Verbreitung des Coronavirus, diesmal von Italien aus. Das war der Eskalation der Epidemie in Italien geschuldet, sowie der Tatsache, dass eine große Zahl von Ukrainern in Italien arbeitet und häufig zwischen den beiden Ländern hin und her reist. Am 24. Februar sprach die Regierung eine Reisewarnung für Norditalien aus. Beschlossen wurden zudem Präventivmaßnahmen wie die Messung der Körpertemperatur aller aus Italien zurückkehrender Personen. Personen mit Krankheitssymptomen sollten isoliert und in Krankenhäuser verlegt werden.

Nachdem das Gesundheitsministerium am 25. Februar von der WHO 30 zusätzliche Test-Sets erhalten hatte, erhöhte sich die Testkapazität auf bis zu 900 Personen.

Ein weiteres Vorgehen wurde durch den vom Präsidenten eingeleiteten Rücktritt der Regierung am 4. März gebremst. Die Regierungsumbildung erfolgte jedoch aus rein politischen Gründen und hatte mit der Bedrohung durch das Coronavirus nichts zu tun. Der politische Hintergrund wird an späterer Stelle noch einmal ausführlicher diskutiert. Es ist jedoch erwähnenswert, dass die erste Sitzung des neuen Ministerkabinetts am 5. März stattfand. Am nächsten Tag richtete das Gesundheitsministerium für die Kommunikation mit der Bevölkerung einen offiziellen Telegram-Channel zum Thema Coronavirus ein. Die täglichen Pressebriefings des Ministeriums wurden erst wieder ab dem 10. März abgehalten, einen Tag bevor die WHO Covid-19 zu einem globalen Pandemiefall erklärte.

Maßnahmen der Regierung nach dem 11. März

Die systematische Reaktion der Regierung auf die Covid-19-Bedrohung begann am 11. März, nur wenige Stunden, bevor die WHO die Pandemie ausrief. Zunächst erklärte die Stadt Kiew und später die nationale Regierung, dass alle Bildungseinrichtungen (Kindergärten, Schulen, Universitäten) ab dem 12. März vorübergehend geschlossen werden. Außerdem verbot die Regierung öffentliche Versammlungen von mehr als 200 Personen.

Während die Ukraine bis zum 11. März nur einen Covid-19-Fall meldete, war die Zahl der Fälle in den Nachbarländern wesentlich höher: Rumänien – 25; Polen – 22; Ungarn – 13; Weißrussland – 9; Russland – 7; Slowakei – 7; Moldawien – 3. Die Nachbarländer der Ukraine meldeten bis zum 11. März insgesamt 86 Fälle, was einem Anstieg um das Dreizehnfache seit dem 1. März entspricht.

Und obwohl das Ministerkabinett bereits am 31. Januar erste Präventionsmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus angekündigt hatte, die unter anderem Gesundheitskontrollen auf den großen Flughäfen vorsahen, bestätigte das Ministerkabinett erst am 11. März, dass der Kiewer Flughafen Boryspil [der mit Abstand größte Flughafen des Landes, der zugleich ein internationales Drehkreuz ist, Anm. d. Red.] Infrarot-Thermometer zur Gesundheitskontrolle der Passagiere anschaffen werde.

Es ist erwähnenswert, dass das Gesundheitsministerium trotz größerer Kapazitäten bis zum 11. März nur 43 Covid-19-Tests durchgeführt hatte. In den Nachbarländern waren es wesentlich mehr: Russland – 66.282 (10. März); Belarus – 10.500 (12. März); Polen – 2.023; Slowakei – 853 (12. März); Ungarn – 609.

Anekdotische Evidenz deutet darauf hin, dass die unterdurchschnittliche Performance der Ukraine bei den Tests auf logistische Probleme zurückzuführen ist, zum Beispiel auf die große zeitliche Verzögerung zwischen einem Verdacht und dem tatsächlichen Test. Das allgemeine Misstrauen in das Gesundheitssystem und Zweifel daran, dass genügend Tests verfügbar sind, sind weitere Gründe. Die geringe Zahl an durchgeführten Tests ist besonders bemerkenswert, weil die offiziellen Richtlinien eigentlich relativ klar sind: Bemerkt eine Person, die ins Ausland gereist ist (oder mit einer Person, die im Ausland war, in engem Kontakt stand), Symptome, die auf Covid-19 hinweisen, soll sie sich an die Notfalldienste wenden und deren Anweisungen bezüglich einer Behandlung und Tests befolgen.

Am 12. März gab das Gesundheitsministerium bekannt, dass das ukrainische Gesundheitssystem gut vorbereitet und für die Coronavirus-Pandemie gerüstet sei. Laut einer Pressemitteilung gebe es landesweit 12.000 Betten für Infektionskrankheiten, 2.500 Isolationsräume und 605 Beatmungsgeräte. Im Bedarfsfall könne die Kapazität durch das Anfordern von Beatmungsgeräten aus anderen Krankenhäusern auf etwa 3.000 erhöht werden. Was das Personal anbelangt, so stünden bis zu 2.000 Infektionsärzte und insgesamt 5.000 medizinische Fachkräfte bereit, Covid-19-Patienten zu betreuen.

Zuvor berichtete ein Vertreter des dem Gesundheitsministerium angegliederten Public Health Centers, dass 750 Intensivstationen mit 5.581 Betten für die Aufnahme von Patienten mit Covid-19 bereitstünden. Außerdem gebe es 14 extrakorporale Membranoxygenierungsgeräte (ECMO), die in extremen Fällen eingesetzt werden könnten, um die Überlebenschancen zu erhöhen.

Trotz offizieller Verlautbarungen ist es ziemlich schwierig, die tatsächlichen Krankenhauskapazitäten, die für die Behandlung von Covid-19 zur Verfügung stehen, einzuschätzen. Das liegt daran, dass die offiziellen Daten zur Anzahl der Betten oder zu anderen wichtigen Indikatoren für die Kapazität des Gesundheitssystems von 2017 sind, als ein erheblicher Teil der Kapazitäten im Rahmen einer Reform des Gesundheitssystems abgebaut werden sollte. Historisch gesehen zählte die Ukraine 2017, gemessen an der Zahl der Krankenhausbetten pro 1.000 Personen, mit etwa 7,1 zur Weltspitze – die USA kommen auf 2,8 Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner, Italien auf 3,2 und China auf 4,3. Höher ist der Wert z. B. in Südkorea mit 12,3. Die Qualität und die Verteilung der Krankenhausbetten in der Ukraine lassen jedoch vermuten, dass tatsächlich eine wesentlich geringere Anzahl von Betten zur Verfügung steht.

Geht man von der verbreiteten Annahme aus, dass fünf Prozent der Patienten mit Covid-19 intensivmedizinisch versorgt werden müssen (entspricht dem Anteil der schweren/kritischen Fälle an der Gesamtzahl der Fälle), dann können mit der Kapazität von 605 Lungenbeatmungsgeräten eine Gesamtzahl von bis zu 12.000 Fällen versorgt werden (was 0,03 Prozent der Gesamtbevölkerung der Ukraine entspricht). Wenn zusätzlich noch die Hälfte der 3.000 weiteren Beatmungsgeräte verwendet werden kann, erhöht sich die maximale Kapazität auf 42.000 Patienten (0,11 Prozent der Bevölkerung). Dies sind grobe Schätzungen, da der Patientenstrom über die Zeit etwas verteilt sein dürfte. Zum Vergleich: Am 18. März wurden in Italien 35.713 Covid-19-Fälle (0,06 Prozent der Bevölkerung) gemeldet. Geht man von diesen 0,06 Prozent als Worst-Case-Szenario für die Ukraine aus, so ist mit insgesamt 22.017 Coronavirus-Fällen zu rechnen, was im Bereich der erklärten Kapazität des ukrainischen Gesundheitssystems läge.

Da die Zahl der Coronavirus-Fälle weltweit, auch in den Nachbarländern der Ukraine, stark zugenommen hat (die Gesamtzahl der Fälle in den Nachbarländern stieg zwischen dem 11. und dem 16. März von 86 auf 530), verstärkte die ukrainische Regierung nach und nach ihre Maßnahmen. Am 16. März bestätigte die ukrainische Regierung drei Fälle von Covid-19, am 18. März waren es bereits 14.

Ausweitung der Maßnahmen am 16. und 17. März

Am 16. März wurden die Präventionsmaßnahmen noch einmal ausgeweitet:

  • Für Ausländer wurden die Grenzen ab sofort für zwei Wochen geschlossen;

  • Sich im Ausland befindende Ukrainer sollen innerhalb von drei Tagen in die Ukraine zurückkehren, bevor der reguläre Grenzverkehr (Flüge, Züge, Busse) am 17. März eingestellt wird;

  • Aus dem Ausland zurückkehrende Ukrainer müssen sich einer Selbstüberwachung unterziehen, wenn sie Krankheitssymptome zeigen; eine staatliche Kontrolle wurde nicht eingeführt;

  • Alle Krankenhäuser sind dazu aufgefordert, geplante Operationen zu verschieben und sich auf die Behandlung von Infektionskrankheiten vorzubereiten;

  • Die Kommunen sollen mit der selektiven Desinfektion öffentlicher Räume beginnen, einschließlich Lebensmittelmärkte und öffentlicher Verkehrsmittel;

  • Nachdem der zweite Covid-19-Fall in der Region Tscherniwzi bestätigt wurde, rief die lokale Regierung den Ausnahmezustand aus. Diese zügige Reaktion lässt sich darauf zurückführen, dass die Region Tscherniwzi an Rumänien und die Republik Moldau grenzt und ein wichtiger Verkehrsknoten für Reisende aus Europa ist. Während des Ausnahmezustands werden alle Geschäfte (ausgenommen Lebensmittelgeschäfte), Einkaufs- und Unterhaltungszentren geschlossen.

Die Ankündigung von drastischen Reisebeschränkungen ab dem 17. März führte zu einer massiven Rückkehr von Ukrainern aus allen europäischen Ländern. Dieser Zustrom und die Staus an den Grenzen wurden dadurch verstärkt, dass viele andere Länder in Europa etwa zur gleichen Zeit begannen, ihre Grenzen zu schließen. Dadurch wurden zum Beispiel etwa einhundert Ukrainer, die von Italien über Slowenien zurück in die Ukraine reisen wollten, aufgrund der Schließung der slowenischen Grenze in Italien eingeschlossen. Sie konnten am 15. März aus Italien ausgeflogen werden. Ebenso beantragten etwa 3.000 Ukrainer die Evakuierung aus Tschechien. Insgesamt wurden in den letzten Tagen etwa 23.000 Menschen in die Ukraine zurückgebracht. Obwohl alle Personen, die aus dem Ausland zurückkehren, für zwei Wochen zur Selbstquarantäne verpflichtet sind, könnte die Schwierigkeit, den Gesundheitszustand der Menschen an der Grenze zu überwachen, in den kommenden Wochen zu einer Verschlechterung der epidemiologischen Situation führen.

Am 17. März beschlossen Parlament und Regierung weitere zusätzliche Maßnahmen:

  • Die Werchowna Rada verabschiedete administrative und strafrechtliche Sanktionen sowie vorübergehende Geldstrafen (für die nächsten drei Monate) zwischen 17.000 UAH (ca. 570 EUR) und 54.000 UAH (ca. 1.800 EUR) für die Verletzung der Quarantänebestimmungen sowie eine Reihe von wirtschaftlichen Maßnahmen;

  • Die Zentralregierung verschärfte die Quarantäne, indem sie anordnete, alle Einkaufszentren, Fitnesszentren und Theater zu schließen und öffentliche Versammlungen von zehn oder mehr Personen zu verbieten;

  • Die Regierung beschloss zudem, ab dem 18. März sämtlichen Verkehr zwischen den Städten zu schließen (einschließlich Zügen, Inlandsflügen und Überlandbussen) sowie den innerstädtischen Verkehr einzuschränken (z. B. Schließung der U-Bahnen in den größten Städten)

  • Angesichts des ersten Todesfalls durch Covid-19 und fünf weiterer Verdachtsfälle (die später jedoch nicht bestätigt wurden) rief die Lokalregierung der Region Schytomyr den Ausnahmezustand aus.

Trotz wiederholten Versicherungen der Regierung, dass das ukrainische Gesundheitssystem auf den Ausbruch der Pandemie vorbereitet sei, deuten Hinweise aus Kommunen und Medienberichten auf einen Mangel an grundlegender sanitärer Ausstattung, Schutzausrüstungen und Beatmungsgeräten (von denen einige 30–40 Jahre alt sind) hin. So berichtete beispielsweise die Gesundheitsbehörde der Region Iwano-Frankiwsk in einer Antwort auf eine öffentliche Anfrage der Abgeordneten Inna Sowsun, dass sie über keinerlei Covid-19-Tests-Sets verfüge. Als Reaktion auf die zunehmende Belastung des Gesundheitssystems starteten eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen Spendenkampagnen zur Beschaffung von Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten. Regierungsbeamte und der Präsident betonten weiterhin, dass sowohl die Testkapazitäten als auch die Versorgung mit medizinischer Ausrüstung verbessert würden. Insgesamt ist die Tatsache, dass das ukrainische Gesundheitssystem durch das sich ausbreitende Coronavirus unter Stress steht, nicht überraschend. Der Global Health Security Index sieht die Ukraine als anfällig für eine ausbrechende Pandemie; das Land belegt unter 195 Ländern weltweit Platz 94.

Ist die Ukraine bei der Erfassung von Covid-19 im Rückstand?

Angesichts der Geschwindigkeit der Verbreitung von Covid-19 in Ländern, die eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine haben, dürfte die erwartete Zahl der Fälle in der Ukraine mit Stand vom 17. März laut unseren Berechnungen eher 111 betragen, wenn wir uns an den Zahlen in anderen Ländern orientieren und diese an die ukrainische Bevölkerungsgröße anpassen.

Dasselbe gilt für die Anzahl der Covid-19-Tests. Während die Ukraine bis zum 17. März nur 500 Tests durchführte, wurde in den Nachbarländern deutlich mehr getestet: Russland – 116.000; Belarus – 16.000; Polen – 7.899; Rumänien – 3.708; Slowakei – 1.595; Ungarn – 1.587. Dieser Unterschied wird gravierender, wenn wir die unterschiedliche Bevölkerungsgröße berücksichtigen, aber etwas besser, wenn wir das Datum des ersten Falls sowie die Anzahl der erkannten Fälle berücksichtigen.

Die politische Reaktion auf das Virus

Angesichts der sich äußerst dynamisch entwickelnden Situation und des Fehlens von Daten zur öffentlichen Meinung bezüglich der Reaktion der Regierung auf die Krise erscheinen Schlussfolgerungen über das Handeln der Regierung verfrüht. Zumindest zwei Beobachtungen halten wir allerdings für aufschlussreich.

Erstens ist es schwierig zu übersehen, dass die Regierung zumindest in der Anfangsphase der Krise unvorbereitet war. Das zeigt sich anhand der anekdotischen Evidenz (die hauptsächlich vom medizinischen Personal vor Ort stammt), der niedrigen Anzahl an durchgeführten Covid-19-Tests und an den Versäumnissen bei den Gesundheitskontrollen an den Grenzen (fehlende Gesundheitstests und die sehr verspätete Entscheidung, die erforderliche Ausrüstung für den Flughafen Kiew-Boryspil zu bestellen).

Wir gehen davon aus, dass die Anfang März erfolgte Entscheidung von Präsident Selenskyj, die Regierung aus politischen Gründen zu entlassen, die Regierungsfähigkeit des Landes in der kritischen Phase Ende Februar/Anfang März beeinträchtigt hat. Anstatt alle politischen Ressourcen zu bündeln, um die Ausbreitung des Coronavirus in der Ukraine zu stoppen, stand ein Regierungswechsel auf der Agenda. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der Coronavirus-Fälle in den Nachbarländern der Ukraine stetig zunahm. Die Ukraine marschierte mit einem neuen und unvollständigen Ministerteam, einschließlich eines neuen Gesundheitsministers, in den Kampf gegen die Coronavirus-Krise.

Zweitens lässt sich festhalten, dass die Regierung ab dem 11. März deutlich proaktiver auf die Krise reagierte als die Regierungen der meisten anderen Länder. Rückblickend scheint dies in scharfem Kontrast zum (Nicht-)Handeln der Regierung vor dem 11. März zu stehen. Wir sehen dafür mehrere mögliche Erklärungen.

Es könnte der Fall sein, dass die neue ukrainische Regierung die Gefahr einer Pandemie früher erkannt hat als andere Regierungen. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Regierungen, insbesondere der Nachbarländer, nur wenige Tage später ähnliche Maßnahmen einleiteten, kann diese Hypothese nicht ausgeschlossen werden. Allerdings sehen wir keine Anzeichen dafür, dass der entschlossenere Ansatz auf das neue Ministerkabinett zurückzuführen ist. Es spricht nichts dafür, dass die neue Regierung professioneller oder sachkundiger wäre als die vorherige.

Wir nehmen jedoch an, dass der Wechsel hin zu einer entschlosseneren Bekämpfung gegen die Ausbreitung des Coronavirus aus politischen Erwägungen erfolgte. Dafür sprechen die drei folgenden Faktoren.

Erstens ist das öffentliche Vertrauen in Präsident Selenskyj in den letzten sechs Monaten deutlich gesunken, von ca. 80 auf etwa 40 Prozent. Da viele politische Beobachter den Popularitätsverlust des Präsidenten als Hauptgrund für den Regierungswechsel sehen, wäre es naheliegend zu erwarten, dass der Präsident – in der Hoffnung auf bessere Zustimmungswerte – von der neuen Regierung ein aktives Vorgehen fordert.

Zweitens hatte eine schlecht kommunizierte und koordinierte Rückholaktion aus dem Epizentrum der Coronavirus-Epidemie, dem chinesischen Wuhan, bereits am 19. Februar zu einer PR-Katastrophe für die Regierung geführt. Schon damals signalisierte die Gesellschaft eine panische Angst vor Covid-19 und mangelndes Vertrauen in die Regierung. Bewohner der etwa 300 km östlich von Kiew gelegenen Siedlung Nowi Sanschary protestierten gegen die Entscheidung, 45 Ukrainer und 27 weitere Personen aus Wuhan evakuierte Personen in das nahe gelegene Sanatorium zu verlegen. Der Protest eskalierte und es kam zu Krawallen und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Während sich einige der Randalierer später als bezahlte Provokateure erwiesen, waren die meisten Protestierenden tatsächlich beunruhigte Bürger. Letztlich wurden die Evakuierten für 14 Tage unter Quarantäne gestellt. Um die Situation zu beruhigen, begab sich die ukrainische Gesundheitsministerin freiwillig mit in Quarantäne. Aufgrund des Regierungswechsels blieb sie jedoch nicht für die gesamte Dauer der Quarantäne im Sanatorium, was der Glaubwürdigkeit der Regierung wiederum nicht förderlich war. Weil die angespannte Situation um die Verbreitung des Coronavirus weiter anhielt, begrüßte Präsident Selenskyj die nach 14 Tagen aus der Quarantäne entlassenen Rückkehrer sogar persönlich.

Drittens spielt die für den 1. April geplante Gesundheitsreform (Einführung eines Basisleistungspakets) eine wichtige Rolle. Obwohl die Expertengemeinschaft (einschließlich internationaler und ukrainischer Experten) die Reform voll und ganz unterstützt, ist sie ein gesellschaftliches Reizthema, über das in den Medien viel spekuliert und manipulativ berichtet wird. Folglich ist die Reform in der Bevölkerung unbeliebt. Die jüngsten Daten (Gesundheitsindex, Juni und Juli 2019) zeigen, dass nur etwa 33 Prozent der Ukrainer die aktuellen Pläne zur Gesundheitsreform unterstützen. Wichtig ist, dass sie auch zeigen, dass das Misstrauen gegenüber Ärzten einer der Hauptgründe für die Ablehnung von Gesundheitsleistungen ist. Angesichts der Kombination der genannten Faktoren dürfte die ukrainische Regierung entschieden haben, dass sie im Bereich der Gesundheitsversorgung nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren darf. Dies wiederum könnte den proaktiven Ansatz zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie begründen.

Fazit

Eine kurze Analyse der Kapazitäten des ukrainischen Gesundheitssystems zeigt, dass dieses angesichts der Covid-19-Epidemie eigentlich nicht unter Stress geraten sollte, doch politische Erwägungen, die niedrige Coronavirus-Testrate, die schlechte Kommunikation sowie die Diskrepanz zwischen offiziellen Mitteilungen und der Realität vor Ort geben berechtigten Anlass zur Sorge. Darüber hinaus breitet sich die Epidemie vor dem Hintergrund eines Vertrauensverlusts in das Gesundheitssystem und die staatlichen Institutionen aus, was die Situation zusätzlich verkompliziert. Die Verbreitung des Coronavirus stellt für die ukrainische Regierung und für die Gesellschaft eine große Bewährungsprobe dar, die zugleich eine Möglichkeit bietet, sich gegen die Bedrohung zu vereinen – und die jüngsten Verwerfungen hinter sich zu lassen.

Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Eduard Klein

Der Themenschwerpunkt zur Covid-19-Pandemie ist erstellt worden durch das Teilprojekt B06 "Externe Reformmodelle und interne Debatten bei der Neukonzipierung von Sozialpolitik in der post-sowjetischen Region" des SFB 1342 "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik" (finanziell gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft).

Fussnoten

Pavlo Illiashenko ist Berater im Bereich Public Policy am Zentrum für Wirtschaftsstrategie in Kiew und Doktorand an der Technischen Universität Tallinn (TalTech). Seine Forschungsinteressen umfassen Finanzpolitik und Auswirkungen der Verhaltensökonomie auf die öffentliche Politik.

Olena Levenets ist Doktorandin an der Technischen Universität Tallinn (TalTech). Sie forscht zu sozialer Ungleichheit und informellen Praktiken im Gesundheitssystem.