Zusammenfassung
Der Beitrag zeichnet kurz die Geschichte des Absturzes von Flug MH-17 der Malaysia Airlines nach. Das Passagierflugzeug stürzte am 17. Juli 2014 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der Ostukraine ab, alle 298 Insassen kamen dabei ums Leben. Es werden die wichtigsten Fakten zu den Gründen der Katastrophe vorgestellt sowie die mutmaßlich am Abschuss beteiligten Personen, wie sie durch die Arbeit des Joint Investigation Team (JIT) aus Vertretern von Ermittlungsbehörden in den Niederlanden, der Ukraine, Malaysia, Belgien und Australien ermittelt wurden. Es wird ein Überblick über die juristischen Möglichkeiten gegeben, die Katastrophe des Fluges MH-17 rechtlich zu bewerten. Ebenso werden Schwierigkeiten analysiert, die auf die Vertreter der Anklage während des Strafprozesses vor dem Bezirksgericht Den Haag zukommen könnten.
Einführung
Am 17. Juli 2014 verschwand ein Flugzeug der Malaysia Airlines, das sich auf dem Flug MH-17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur befand, über der Ostukraine von den Radarschirmen. Sehr bald gab es Meldungen, dass das Flugzeug in der Umgebung des Dorfes Hrabowe abgestürzt sei. In den ersten Stunden nach der Katastrophe erschienen in den Medien Informationen, dass eine Boden-Luft-Rakete das Flugzeug getroffen habe. Auch ukrainische Militärexperten sowie etwas später Vertreter der USA und von Mitgliedsstaaten der EU erklärten, dass eine solche Version der Ereignisse wahrscheinlich sei. Darüber hinaus berichteten Vertreter nichtstaatlicher militärischer prorussischer Einheiten, die zum Zeitpunkt des Absturzes die Gegend um die Absturzstelle kontrollierten, von einem abgeschossenen Flugzeug. In ihren Meldungen wird das Passagierflugzeug der Malaysia Airlines als ein Transportflugzeug der ukrainischen Streitkräfte vom Typ An-26 bezeichnet.
Am 21. Juli wurde die Tragödie von Flug MH-17 Thema einer Sitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN). Auf Grundlage der Erörterungen wurde einstimmig die Resolution des UN-Sicherheitsrates Nr. 2166 (2014) verabschiedet, die die bewaffneten Gruppen in der Ukraine dazu aufrief, den Zugang zu und die Untersuchung des Absturzes durch Vertreter der OSZE-Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine sowie durch Vertreter der zuständigen internationalen Organisationen nicht zu behindern. Der UN-Sicherheitsrat verlangte, sich jedweder Handlungen zu enthalten, die die Unversehrtheit und den unveränderten Zustand des Absturzortes beeinträchtigen könnten. Ebenso wurde die Bedeutung unterstrichen, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden.
Die Untersuchung der Umstände und die Feststellung der Fakten im Zusammenhang mit dem Absturz von Flug MH-17 wurde von mehreren Stellen vorgenommen. Das National Forensic Investigation Team of the Netherlands übernahm die Identifizierung der Toten, gemeinsam mit Experten aus den Herkunftsländern der Passagiere. Für die Feststellung der Absturzursache war das Dutch Safety Board (DSB) zuständig, das Experten aus den Niederlanden, der Ukraine, aus Malaysia, den USA, dem Vereinigten Königreich, aus Australien und der Russischen Föderation hinzuzog. Das DSB sollte auch Empfehlungen erarbeiten, wie derartige Tragödien in Zukunft ausgeschlossen werden können. Eine Recherche offen zugänglicher Quellen zum Ablauf der Ereignisse, die zur Katastrophe geführt haben, sowie der Gründe für die Katastrophe stand im Fokus des investigativen Recherchenetzwerks Bellingcat. Darüber hinaus stellten auch Nachrichtendienste, Polizei- und Justizbehörden und verschiedene Ämter für Flugunfalluntersuchung der Herkunftsländer der Passagiere von Flug MH-17 sowie der Ukraine und Russlands Untersuchungen an.
Am 7. August 2014 beschlossen die Ermittlungsbehörden der Niederlande, der Ukraine, Malaysias, Belgiens und Australiens, die Untersuchungen zusammenzuführen und das Joint Investigation Team (JIT) einzurichten. Die Gründung des JIT hatte zum Ziel, die Ermittlungen stärker zu koordinieren und den Informationsaustausch zwischen den beteiligten Ländern zu verbessern. Im Unterschied zu anderen Untersuchungen über die Umstände der Katastrophe sollte das JIT nicht nur den Gang der Ereignisse und die Gründe der Katastrophe rekonstruieren, sondern für eine strafrechtliche Verfolgung vor Gericht auch den Kreis der Verdächtigen ermitteln, die den Abschuss des Passagierflugzeugs zu verantworten haben.
Untersuchungsergebnisse des JIT zum Absturz des Fluges MH-17
Am 19. Juni 2019 hielt das JIT seine abschließende Pressekonferenz ab, auf der detailliert die wichtigsten Belege und Materialien vorgestellt wurden, die das Team bei seiner Arbeit zusammengetragen hat. Zudem wurden die Namen der mutmaßlichen Täter genannt, die bei den Untersuchungen ermittelt werden konnten. Das JIT unterstrich eigens, dass auf der Pressekonferenz nur bestätigte und überprüfte Fakten dargelegt würden, während viele Belege, die eine rechtliche Bewertung erfordern, unmittelbar beim Gerichtsprozess vorgelegt werden würden.
Die Einschätzung des JIT über die Gründe der Katastrophe deckt sich vollkommen mit der Qualifizierung durch das Dutch Safety Board. So kommt das JIT zu dem Schluss, dass Flug MH-17 von einer Rakete des Typs 9M38 getroffen worden sei, die von einem mobilen Raketensystem vom Typ Buk TELAR ("transporter erector launcher and radar") gestartet wurde. Der Start sei auf einem Feld nahe der Ortschaft Perwomajskyj sechs Kilometer südlich der Stadt Snischne erfolgt, die von nichtstaatlichen militärischen prorussischen Einheiten kontrolliert wurde.
Das JIT konnte feststellen, dass das Raketensystem Buk TELAR aus der Stadt Kursk in Russland nach Perwomajskyj gelangt und nach dem Raketenstart wieder nach Russland verlegt worden war. Darüber hinaus stellte das Team anhand von zahlreichen individuellen Merkmalen, die sich aus dem JIT vorliegenden Video- und Fotoaufnahmen ergeben, fest, dass das Raketensystem vom Typ Buk TELAR, von dem die Rakete abgefeuert wurde, der 53. Luftabwehrraketen-Brigade in Kursk zugeordnet war.
Von den rund 100 Personen, die nach Ansicht des JIT am Transport des Buk-Systems in die Ukraine beteiligt gewesen sein könnten, seien die Handlungen der meisten nicht strafrechtlich zu verfolgen. Mit Stand vom Juni 2019 hat das JIT vier Verdächtige ermittelt, gegen die Anklage erhoben wird. Es sind drei russische Staatsbürger, die sich – so die Annahme des JIT – in Russland aufhalten, nämlich Igor Girkin, Sergej Dubinskij, Oleg Pulatow sowie der ukrainische Staatsbürger Leonid Chartschenko, der mutmaßlich im nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil der Gebiete Donezk und Luhansk lebt. Alle vier Verdächtigen hielten sich zum Zeitpunkt des Abschusses von Flug MH-17 in der Ukraine auf und spielten nach Ansicht des JIT eine zentrale Rolle bei dem Angriff auf das Zivilflugzeug. Mit der Verkündung der Namen der vier Beschuldigten war die Arbeit des JIT noch nicht beendet. Es versucht, weitere Beteiligte am Tod der 298 Menschen an Bord von Flug MH-17 zu ermitteln.
Alle vier Beschuldigten (mit Ausnahme von Leonid Chartschenko) haben früher in den Nachrichtendiensten Russlands gedient. Chartschenko hat keine militärische oder nachrichtendienstliche Vergangenheit, kommandierte aber zum Zeitpunkt des Starts der Buk-Rakete eine militärische Einheit im Gebiet Donezk. Igor Girkin war "Verteidigungsminister" in der nicht anerkannten "Volksrepublik" Donezk. Sergej Dubinskij war Chef des dortigen Geheimdienstes und Oleg Pulatow sein Stellvertreter. Girkin und Dubinskij unterhielten ständigen Kontakt zu Offiziellen in Russland. Dubinskij war der unmittelbare Vorgesetzte von Chartschenko. Auch wenn keiner der vier Beschuldigten persönlich den Startknopf für die Rakete gedrückt hat, ist das JIT der Ansicht, dass es ihr Handeln war, das den Transport des Buk-Systems in die Ukraine und dessen Einsatz gegen die Passagiermaschine der Malaysia Airlines ermöglicht hat.
Die Version der Ermittler wird von veröffentlichten Telefongesprächen zwischen Igor Girkin und Sergej Aksjonow gestützt, dem Oberhaupt der 2014 von Russland annektierten "Republik Krim". In ihrem Telefonat vom 8. Juni 2014 bittet Girkin zusätzliche Waffen zu schicken, darunter auch Mittel zur Luftabwehr mit geschulter Besatzung. Aksjonow bestätigt, dass die Zustimmung hierzu durch einen nicht genannten Beamten in Moskau erfolgt sei. Gleichzeitig kontaktierte auch Alexander Borodaj, der "Ministerpräsident" der "Volksrepublik Donezk", Vertreter der Russischen Föderation. In einem Interview vom 16. Juni 2014 verweist er darauf, dass er Gespräche mit Wladislaw Surkow, dem Zuständigen im Kreml für den Donbas, führen würde. Einige der Telefongespräche mit Surkow sind abgefangen worden, die Mitschriften liegen dem JIT vor.
Auf der Pressekonferenz verwies das JIT auf die Möglichkeit, dass Flug MH-17 versehentlich als militärisches Flugzeug identifiziert worden war. Ein Vertreter der niederländischen Staatsanwaltschaft sagte, dass die konkreten Absichten der Beschuldigten vom Gericht beurteilt werden müssen. Aus Sicht des JIT und der niederländischen Staatsanwaltschaft befreit eine solche Möglichkeit die oben genannten Beschuldigten nicht von ihrer Verantwortung.
Der Frage der gegenseitigen Amtshilfe bei Strafverfahren wurde auf der Pressekonferenz besondere Beachtung geschenkt, und zwar insbesondere hinsichtlich der fehlenden Zusammenarbeit vonseiten Russlands. Dadurch seien Fragen unbeantwortet geblieben, die den Lauf der Ermittlungen hätten erheblich erleichtern können. Hier geht es vor allem um die Standorte des Buk-Systems der 53. Luftabwehrraketen-Brigade in Kursk, um die Besatzung des Raketensystems und darum, ob Sergej Dubinskij während des Abschusses von Flug MH-17 Dienst tat. Die Russische Föderation erklärte als Antwort auf Anfragen, dass sie keine Grundlage dafür sehe, diese Informationen zu übermitteln. Präsident Wladimir Putin stritt jedwede mögliche Verwicklung Russlands in den Abschuss des Flugzeugs der Malaysia Airlines ab.
Die Bedeutung der vom JIT zusammengetragenen Informationen für den Strafprozess in Den Haag
Der erste Versuch, einen Strafprozess im Falle des Absturzes von Flug MH-17 zu initiieren, war eine Initiative der im JIT vertretenen Länder, einen Internationalen Strafgerichtshof für den Fall einzurichten. Es wurde angenommen, dass die Einrichtung des Tribunals über eine Resolution des UN-Sicherheitsrates auf Grundlage des Kapitels VII der UN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) erfolgen könne. Der Entwurf einer Satzung sah die Möglichkeit vor, zur Qualifizierung der Taten sowohl internationales Recht (in Bezug auf Kriegsverbrechen) anzuwenden, wie auch das Recht Malaysias (Aviation Offences Act von 1984) sowie das der Ukraine (Paragraphen des ukrainischen Strafgesetzbuches, die Tötungsdelikte, Verbrechen gegen die öffentliche Sicherheit, gesetzeswidrigen Umgang mit Waffen, Vertuschung von Verbrechen und weitere Handlungen unter Strafe stellen). Am 29. Juli 2015 fand die Einrichtung eines Tribunals bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat nicht die nötige Unterstützung: 11 Mitglieder des Sicherheitsrates (darunter drei ständige Mitglieder) stimmten mit Ja, drei enthielten sich (Angola, China und Venezuela) und Russland stimmte dagegen. Das Scheitern der Initiative für ein internationales Tribunal nötigte die an einer Aufklärung der Flugzeugkatastrophe interessierten Länder, nach anderen Varianten der juristischen Aufarbeitung zu suchen. Unter Völkerrechtlern und Diplomaten wurden mindestens drei weitere mögliche Optionen der institutionellen juristischen Aufarbeitung erwogen: Der Internationale Strafgerichtshof, ein nationales Gericht nach Vorbild des "Lockerbieprozesses" und gewöhnliche nationale Gerichte.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) als Option ergab sich nach einer ad hoc-Anerkennung dessen Zuständigkeit durch die Ukraine (als Land, auf dessen Territorium die mutmaßliche Straftat begangen wurde) gemäß Artikel 12 Abs. 3 des IStGH-Statuts. Die am 8. September 2015 erfolgte Anerkennung der Zuständigkeit des IStGH ermöglichte dem Gerichtshof den Weg für eine vorläufige Untersuchung der Situation in der Ukraine mit der möglichen Eröffnung eines vollwertigen Ermittlungsverfahrens. Die meisten Berichte der Anklagebehörde des IStGH über die vorläufige Untersuchung der Situation in der Ukraine erwähnen die Passagiere von Flug MH-17 als Todesopfer im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in der Ostukraine. Das bedeutet jedoch nicht zwingend, dass die Anklagebehörde den Abschuss des Flugzeugs als Tatbestand eines Kriegs- oder anderen internationalen Verbrechens betrachtet. Im Bericht der Anklagebehörde von 2015 wird direkt gesagt, dass sich der Ankläger bei der weiteren Untersuchung der Umstände von Flug MH-17 an den von internationalen und nationalen Ermittlern gesammelten Informationen orientieren werde.
Eine weitere Möglichkeit der Strafverfolgung bietet ein Verfahren nach Vorbild des "Lockerbieprozesses", mit dessen Hilfe die Verantwortlichen für den Anschlag 1988 auf eine Boeing 747 über dem schottischen Lockerbie zur Rechenschaft gezogen wurden. In jenem Fall hatte ein nationales Gericht des Vereinigten Königreichs unter Anwendung des einschlägigen britischen Rechts das Verfahren gegen zwei Angeklagte in den Niederlanden verhandelt. Darüber hinaus hatte der UN-Sicherheitsrat für die Sicherheit der Prozessteilnehmer gesorgt, und eine große Anzahl internationaler Beobachter nahm am Gerichtsprozess selbst teil. Es wurde diskutiert, ob ein solcher Ansatz auch im Falle des Fluges MH-17 eingesetzt werden könnte. Allerdings hatte die Diskussion über die Anwendung des Lockerbie-Modells letztlich keinen sonderlichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Prozesses gegen die mutmaßlichen Schuldigen am Abschuss von Flug MH-17.
Die dritte Variante bestand darin, die Verantwortung für die Strafverfolgung nationalen Gerichten zu übertragen. Über eine Zuständigkeit für ein solches Verfahren verfügten mindestens 19 Länder: 17 Länder nach dem passiven Personalitätsprinzip (aufgrund der Staatsangehörigkeit der getöteten Passagiere und Besatzungsmitglieder), die Ukraine nach dem Territorialprinzip und dem aktiven Personalitätsprinzip (durch den Tatort und die Staatsangehörigkeit einiger Beschuldigter) und Russland nach dem aktiven Personalitätsprinzip (wegen der Staatsangehörigkeit einiger Beschuldigter). Die nationale strafrechtliche Verfolgung von Schuldigen für den Angriff auf Flug MH-17 ermöglicht eine mehrfache strafrechtliche Verfolgung. Denn Gerichte unterschiedlicher Länder sind nicht verpflichtet, ihr Vorgehen zur Ermittlung der Schuldigen untereinander abzustimmen. Gleichwohl bestand zumindest unter den am JIT beteiligten und den Herkunftsstaaten der Opfer informell Einigkeit darüber, ein Gericht in den Niederlanden für das zentrale Strafverfahren zu wählen.
So wurde das Bezirksgericht Den Haag zum wichtigsten Gericht, das die vom JIT zusammengetragenen Informationen, Zeugenaussagen und Ergebnisse mehrerer Gutachten untersuchen soll. Am 9. März 2020 wird das Strafverfahren gegen Igor Girkin, Sergej Dubinskij, Oleg Pulatow und Leonid Chartschenko wegen Verbrechens gemäß Paragraf 168 (vorsätzliche und rechtswidrige Handlungen, die ursächlich […] zum Absturz eines Flugzeugs führen) und 289 (absichtliche Tötung mit Vorsatz – Mord) des niederländischen Strafgesetzbuches eröffnet.
Damit der Fall vor dem Bezirksgericht Den Haag in vollem Umfang verhandelt werden kann und die Angehörigen der Opfer der Flugzeugkatastrophe Zugang zu den Prozessunterlagen erhalten, musste die bestehende Strafgesetzgebung der Niederlande geändert werden. Am 10. Juli 2018 wurden diese Änderungen von allen Parteien im niederländischen Senat gebilligt. Die Änderungen betrafen insbesondere die Möglichkeit, dass Angeklagte in Abwesenheit am Prozess beteiligt sein können und ein Teil der Verhandlungen auf Englisch geführt werden kann.
Darüber hinaus unterzeichneten die Ukraine und das Königreich der Niederlande am 7. Juli 2017 zur Vorbereitung des Prozesses ein Abkommen über eine internationale rechtliche Zusammenarbeit in Bezug auf Verbrechen im Zusammenhang mit dem Abschuss von Flug MH-17. Das Abkommen sieht eine Unterstützung bei den Ermittlungen und der strafrechtlichen Verfolgung von Personen vor, die am Absturz des Flugzeugs schuld sind. Es legt zudem die Behörden fest, die für die Zusammenarbeit zwischen den Staaten zuständig sind, wie auch die Regularien des Strafvollzugs. Schließlich müssen Beweise, die von den beiden Seiten zur gerichtlichen Verwertung durch die jeweils andere Seite vorgelegt werden, nicht legalisiert (in ihrer Echtheit durch diplomatische Vertretungen bestätigt, Anm. d. Red.) werden. Neben dieser standardmäßigen Reihe von Zusicherungen und Garantien für eine Zusammenarbeit enthält das Abkommen eine recht innovative Bestimmung, die festlegt, was nicht als Gerichtsverfahren in absentia (in Abwesenheit des Angeklagten) gilt:
jedes Gerichtsurteil, das ergeht, nachdem die [potenziell] verurteilte Person ausdrücklich einen Anwalt ermächtigt hat, sie vor Gericht gemäß der niederländischen Strafprozessordnung zu vertreten;
jedes Gerichtsurteil, das nach einer Vernehmung einer [potenziell] verurteilten Person per Videokonferenz ergeht;
jedes Gerichtsurteil, das in Abwesenheit in einer Berufungsinstanz ergangen ist, vorausgesetzt, dass die Berufung gegen das Urteil in erster Instanz von der verurteilten Person eingelegt wurde;
jedes Gerichtsurteil, das in Abwesenheit ergeht, falls dagegen nicht Berufung eingelegt wurde.
Die Einengung des Begriffs "Gericht in absentia" in dem bilateralen Abkommen bezieht sich auf das in Artikel 25 der Verfassung der Ukraine festgelegte Verbot der Auslieferung ukrainischer Staatsbürger an andere Staaten. Das Auslieferungsverbot würde es ansonsten unmöglich machen, ukrainische Staatsangehörige – etwa Leonid Chartschenko – im Rahmen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens in den Niederlanden strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Mit der Unterzeichnung des Abkommens gewährleistete die Ukraine die Einhaltung ihrer Verfassung und bekräftigte gleichzeitig ihre früher verkündete Position, dass das beste gerichtliche Forum für ein Strafverfahren zum Flug MH-17 das Bezirksgericht Den Haag sei. Sollte Chartschenko nun festgenommen werden, würde seine Teilnahme am Prozess per Videoschaltung ausreichen, um einen ordentlichen Strafprozess durchzuführen.
Weitere Gerichtsverfahren in Zusammenhang mit dem Abschuss von Flug MH-17
Auch wenn das Bezirksgericht Den Haag die zentrale Rolle bei dem koordinierten Versuch der interessierten Staaten einnehmen wird, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wird es nicht der einzige juristische Schauplatz sein, der auf die Erkenntnisse des JIT zurückgreift.
2015 reichten Angehörige der Opfer in Chicago eine zivilrechtliche Klage gegen Igor Girkin und die Russische Föderation ein, die eine Entschädigung von 900 Millionen US-Dollar fordert. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen zum Verlauf des Prozesses, jedoch ist klar, dass die Erkenntnisse des JIT für die Prozessstrategie der Kläger eine große Bedeutung haben dürften.
Darüber hinaus haben 380 Angehörige von Opfern der Flugzeugkatastrophe Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingelegt. So hat der EGMR im Verfahren Ayley und andere gegen Russland (Az. 25714/16) festzustellen, ob die Russische Föderation im Kontext des Abschusses von Flug MH-17 Artikel 2 (Recht auf Leben) und Artikel 3 (Verbot der Folter) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt hat. In einem anderen Verfahren (Angline und andere gegen Russland, Az. 56328/18) fordern die Beschwerdeführer zusätzlich festzustellen, ob die Russische Föderation ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 6 (Recht auf ein faires Verfahren), 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Konvention verletzt hat. Wie bei der Klage in Chicago dürften auch in diesen Verfahren die Schlussfolgerungen des JIT als Faktenbasis der Ankläger dienen.
Auf zwischenstaatlicher Ebene läuft vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen seit Januar 2017 die Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland in Bezug auf das Internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus. Eine der Schlüsselfragen bei diesem Verfahren ist diejenige über die Anwendbarkeit des Montrealer Übereinkommens zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt, auf das sich das Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus bezieht. Unter anderem streiten die beiden Seiten über die Möglichkeit, den Abschuss von Flug MH-17 als terroristischen Akt zu qualifizieren. Ein erheblicher Anteil der Argumente sowohl Russlands wie auch der Ukraine beziehen sich auf die Schlussfolgerungen des JIT.
2019 erklärten die Niederlande und Australien ihre Absicht, Russland für den Absturz von Flug MH-17 verantwortlich zu machen. Potenziell könnte sich die Auseinandersetzung – falls die Seiten sich nicht bereits im Vorfeld außergerichtlich einigen – nach dem erwähnten russisch-ukrainischen Szenario entwickeln. Sowohl die Niederlande als auch Australien sind Vertragsparteien des Internationalen Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, was ihnen die juristische Möglichkeit eröffnet, die Russische Föderation vor dem Internationalen Gerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen. In diesem potenziellen Verfahren dürften die Schlussfolgerungen des JIT wohl kaum in geringerem Maße eine Rolle spielen, wie im Verfahren der Ukraine gegen Russland.
Juristische Fragen, die das Bezirksgericht Den Haag zu klären haben wird
Selbst der öffentlich zugängliche Teil der vom JIT zusammengetragenen Beweise belegt eindrücklich die Verbindung zumindest einiger Beschuldigter zum MH-17-Abschuss. Das garantiert jedoch noch längst nicht ein problemloses Verfahren von Beginn der Anhörungen bis hin zur Urteilsverkündung. Das Bezirksgericht Den Haag wird vor seiner Entscheidung mehrere grundsätzliche und komplizierte juristische Fragen beantworten müssen.
Eine davon ist die Frage, ob der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine (internationaler oder nichtinternationaler Natur) in irgendeiner Weise auf die vorgebrachten Beschuldigungen Einfluss hat. Die Schwierigkeit bei der Beantwortung dieser Frage ergibt sich in diesem Fall aus dem unzureichenden Ineinandergreifen von nationalem und internationalem Recht.
Einerseits bedeutet der Umstand, dass ein bewaffneter Konflikt herrscht und somit humanitäres Völkerrecht (das Recht bewaffneter Konflikte) greift, auch das Vorhandensein rechtmäßiger Angriffsziele. Anders ausgedrückt: Personen, die rechtmäßig an dem bewaffneten Konflikt teilnehmen, dürfen tödliche Gewalt anwenden, ohne dass sie damit das humanitäre Völkerrecht verletzen. Eine Einschränkung besteht hier in den Prinzipien der Abgrenzung (nur militärische Objekte dürfen Ziel eines Angriffs sein) und der Verhältnismäßigkeit (der angenommene militärische Vorteil muss in Bezug auf mögliche zivile Schäden verhältnismäßig sein). In den meisten Fällen besteht ein ernster Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht (also ein Kriegsverbrechen) dann, wenn ein Angriff auf zivile Objekte vorsätzlich erfolgt. Der Vorsatz bei einem solchen Verbrechen muss in zweifacher Hinsicht gegeben sein: Er muss die Absicht umfassen, den Angriff durchzuführen, und die Absicht, das Ergebnis im Sinne einer Zerstörung des zivilen Objekts zu erreichen. Im Falle des Abschusses von Flug MH-17 ist nicht offensichtlich, dass beide Komponenten des Vorsatzes beim Handeln der Beschuldigten gegeben waren.
Andererseits kann der Umstand eines bewaffneten Konfliktes Staaten nicht daran hindern, Beteiligte an diesem Konflikt wegen allgemeiner Straftaten auf nationaler Ebene zu verfolgen. Hierzu zählen Tötungsdelikte und vorsätzliche rechtswidrige Handlungen, die ursächlich zum Absturz eines Flugzeugs führen. Die Beteiligung der Beschuldigten an einem bewaffneten Konflikt schließt deren strafrechtliche Verantwortung nicht automatisch aus.
Die Staatsanwaltschaft der Niederlande hat – möglicherweise aus dem Verständnis heraus, dass die Qualifizierung des Angriffs auf Flug MH-17 als Kriegsverbrechen schwierig ist – den Weg gewählt, die Taten nach den Paragrafen 168 (vorsätzliche und rechtswidrige Handlungen, die ursächlich […] zum Absturz eines Flugzeugs führen) und 289 (absichtliche Tötung mit Vorsatz – Mord) des niederländischen Strafgesetzbuches zu verfolgen. Die Alternative zu dieser Strategie bestand in der Verfolgung von Kriegsverbrechen, die in einem speziellen niederländischen Gesetz über internationale Verbrechen aufgeführt sind. Abschnitt 5 dieses Gesetzes greift auf die Bestimmungen des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes zurück, in dem ein breites Spektrum an Kriegsverbrechen aufgelistet wird. Die Wahl der Strategie der niederländischen Staatsanwaltschaft bedeutet gleichwohl nicht, dass die Anwälte der Beschuldigten – und zumindest ein Beschuldigter hat seine Absicht erklärt, über einen Anwalt am Prozess teilzunehmen – nicht auf einer inkorrekten Qualifizierung der Tat bestehen und auf eine notwendige Umqualifizierung in ein Kriegsverbrechen abheben könnten.
Ein weiteres Problem kann sich ergeben, wenn diese Umqualifizierung beantragt und zugunsten eines Kriegsverbrechens entschieden wird. Dann wird das Bezirksgericht Den Haag die Art des bewaffneten Konflikts im Juli 2014 auf dem Territorium der Ukraine bestimmen müssen. Die richtige Qualifizierung der Art des bewaffneten Konflikts ist nicht nur wichtig, um auf den entsprechenden Absatz in Abschnitt 5 des niederländischen Gesetzes über internationale Verbrechen verweisen zu können, sondern möglicherweise auch für die grundlegende Antwort auf die Frage, ob überhaupt ein Verbrechen begangen wurde. Der Punkt ist, dass eine der möglichen Qualifizierungen des Angriffs auf ein Zivilflugzeug lauten könnte, dass es sich um einen Angriff auf militärische Objekte gehandelt habe, bei dem zivilen Objekten und Personen ein unverhältnismäßiger Schaden zugefügt wurde. Ein solches Verbrechen kann jedoch nur im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts begangen werden. Die Art des bewaffneten Konflikts würde somit zumindest teilweise die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung bestimmen.
Eine weitere Frage kann die Art der Vorsätzlichkeit sein, die im Falle eines Angriffs auf ein Zivilflugzeug nachgewiesen werden muss. Aufgrund dessen, dass alle vier Beschuldigten den Angriff nicht unmittelbar selbst durchgeführt haben, wird das Bezirksgericht Den Haag eine Entscheidung fällen müssen, ob der Vorsatz unbedingt unmittelbarer Natur sein muss, oder ob er in Form eines Dolus eventualis (Eventualvorsatz) vorliegen kann, was bedeutet, dass der Täter wusste, dass sein Handeln bestimmte Folgen haben kann und er gleichwohl dieses Handeln fortsetzt und dadurch die Konsequenzen seiner Handlungen bewusst und vorsätzlich akzeptiert.
Eine genauere Analyse der Herausforderungen, vor denen das Bezirksgericht Den Haag steht, wird erst nach den ersten Schritten der Staatsanwälte bei dem Prozess möglich sein, wenn die Strategie der Anklage deutlich wird.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder