Der Leitungswechsel im Präsidentenbüro von Andrij Bohdan zu Andrij Jermak hat zentrale Fragen der patronalen ukrainischen Politik (wieder) aufgeworfen: Ist das ein Zeichen interner Auseinandersetzungen, das zur Handlungsunfähigkeit und zur Instabilität des Machtgefüges von Wolodymyr Selenskyj führen kann? Oder deutet dieser Personalwechsel eher auf die Verringerung der Konflikte zwischen den Machtzentren zugunsten Selenskyjs, und birgt in sich das Risiko der Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten?
Das Präsidialamt, das Selenskyj in Präsidentenbüro unbenannt hat, konstituiert ein wichtiges Machtzentrum im pyramidalen Machtgefüge der ukrainischen Politik. Ungeachtet seiner offiziellen Funktion verfügt der Leiter des Präsidentenbüros über einen direkten Zugang zum Präsidenten und kontrolliert den Zugang zum wichtigsten Entscheidungsträger des Landes. Bohdan nutzte dieses Amt kaum zum Aufbau einer eigenen Machtpyramide, sondern fungierte eher als Interessenvertreter des Clans von Ihor Kolomojskyj und seiner "Privat"-Gruppe. Diese oligarchische Gruppe dürfte zum Sieg von Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen wesentlich beigetragen haben und hat seitdem ihre Präsenz in der ukrainischen Politik ausgebaut. Bohdans Amtsverlust bedeutet nun eine Minderung von Kolomojskyjs Einfluss, der jedoch weiterhin über einige Machtressourcen verfügt: Er kontrolliert etwa dreißig Abgeordnete in der Werchowna Rada sowie den Fernsehsender 1+1.
Der neue Leiter des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, ist für seine persönliche Loyalität und Folgsamkeit gegenüber Selenskyj bekannt. In seinen öffentlichen Stellungnahmen stellt er keine eigenen Handlungsstrategien vor, sondern betont seine Bereitschaft, jegliche Aufgaben des Präsidenten zu erfüllen. Weiterhin wird Jermak keiner Interessengruppe der Großunternehmen zugeordnet. Eher verfügt er über Zugänge zu unterschiedlichen oligarchischen Clans, sodass Selenskyj bei Vereinnahmung und Kooptation der unterschiedlichen Interessengruppen sich auf diese Kontakte stützen könnte.
Der Personalwechsel im Präsidentenbüro macht (noch einmal) sichtbar, dass die Machtbasis von Selenskyj kein homogener Block ist. Zwar bildet seine Partei Sluha Narodu die Mehrheit in der Werchowna Rada und Selenskyj kontrolliert den Premierminister und die Regierung. Diese superpräsidentiellen Machtbefugnisse werden jedoch von mehreren Machtzentren im patronalen ukrainischen Politikgefüge ausgeglichen. Das Risiko, dass Selenskyj das Präsidentenbüro unter Leitung von Jermak zur Machtmonopolisierung nutzen kann, ist daher unwahrscheinlich. Vielmehr könnte Selenskyj dieses Amt dafür nutzen, die unterschiedlichen oligarchischen Clans zu kooptieren, seine Machtbasis dadurch zu erweitern und die Rolle eines Mittlers zwischen den konkurrierenden Machtzentren zu übernehmen. Für die ukrainische Tagespolitik würde das bedeuten, dass die Zeit des "Turbo-Regimes" vorbei ist und nun eine Ära des Interessenausgleichs, der situativen Ad-hoc-Koalitionen und von Reformen auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners bevorsteht.