Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Ukraine im vergangenen Jahr haben die Wähler die bisherige politische Klasse weggefegt und neue Frauen und Männer an die Schaltstellen von Regierung und Parlament befördert. Ihr Enthusiasmus und der Wille zur Macht sind ebenso offensichtlich wie ihr Dilettantismus und ihre Naivität. Alles im Land soll anders und natürlich besser werden: Wirtschaftswachstum und Wohlstand, Ausrottung der Korruption und Frieden mit Russland. Die Ukraine wird vom ärmsten zum führenden Land in Osteuropa aufsteigen, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj vor wenigen Tagen beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos ankündigte. Das alles klingt bekannt und vertraut: 2004/5 war von der "Orangen Revolution" in der Ukraine die Rede, 2014 folgte die "Revolution der Würde" und jetzt also führen Selenskyjs "Diener des Volkes" das Land in die lichte Zukunft.
Die Wirtschaft
Ein nüchterner Blick mahnt zur Zurückhaltung. Vom angekündigten Wachstum des BIP um 40 Prozent in den kommenden fünf Jahren ist bislang nichts zu erkennen; vielmehr ist die Industrieproduktion 2019 gegenüber dem Vorjahr um zwei Prozent zurückgegangen. Die notwendige Privatisierung notleidender Staatsbetriebe kommt nicht voran. Die Machtstellung der Oligarchen ist ungebrochen. Ihor Kolomojskyj, der politische Ziehvater des jetzigen Präsidenten, besteht vor Gericht auf der Restitution seiner "PrivatBank", die nach seiner Meinung unrechtmäßig enteignet worden ist. Von der Konsolidierung des Bankensektors hängt die weitere Zusammenarbeit des IWF mit der Ukraine ab.
Frieden im Donbas?
Der Frieden im Osten der Ukraine liegt offenbar in weiter Ferne, obwohl es nach sechs Jahren russischer Aggression große Sehnsucht nach Frieden gibt. Aber die neue Führung hat bislang keine nachhaltigen Fortschritte auch nur in Richtung auf einen Waffenstillstand zustande gebracht. Dabei ist die Selenskyj-Mannschaft den russischen Forderungen beim Gefangenenaustausch und beim Rückzug der Waffen weit entgegengekommen. Aber Frieden wird es nicht geben, solange der Kreml keinen Frieden will. Während die neue ukrainische Führung offenbar glaubt, Russland sei wie sie selbst an Konsolidierung und Ausgleich interessiert, sieht der Kreml im Krieg im Donbas das zentrale Instrument zur Destabilisierung der Ukraine. Russland erkennt die Ukraine nicht als selbständigen Staat an, es sieht in der Existenz der Ukraine vielmehr eine Bedrohung für sich.
Versuchungen der Macht
Die neue Führung in Kiew hat die Macht vor einem halben Jahr mit erheblichen Vorschusslorbeeren übernommen: der Präsident wurde mit beinahe einer Dreiviertelmehrheit gewählt; im Parlament hat seine Partei eine satte absolute Mehrheit. Eben dieser "glänzende" Start wird jetzt zum Problem und zur Versuchung. Nicht nur die Opposition im Parlament ist marginalisiert, die neue Mehrheit rühmt sich, auf Prozeduren keine Rücksicht nehmen zu müssen. Parlamentspräsident Dmytro Rasumkow stellte fest, wenn das Parlament die Geschäftsordnung eingehalten hätte, dann hätte es nicht einmal ein Viertel der Gesetze verabschieden können, die tatsächlich verabschiedet wurden. Es gibt kein Verständnis dafür, dass Demokratie wesentlich auf Verfahren beruht. Auch ist nicht zu erkennen, wie die Justiz die Manipulationen durch das "Turboregime", wie sich die neue Regierung selbstbewusst nennt, unter Kontrolle bringen könnte.
"Die Ukraine lieben, heißt alle Ukrainer lieben", konstatierte Selenskyj in seiner Neujahrsbotschaft, ganz gleich ob sie "Patrioten sind, Kleinrussen, Wattejacken-Träger ["Watniki", kritisch-sarkastischer Begriff für Anhänger prorussischer Positionen, Anm. d. Red.] oder Anhänger von Bandera". Diese erstaunlich großzügige Inklusivität kontrastiert allerdings damit, dass die Vorgängerregierung unter Generalverdacht steht: Gegen den ehemaligen Präsidenten Poroschenko sind mehrere Verfahren wegen Hochverrat anhängig, unter anderem weil er die Minsker Vereinbarungen unterzeichnet hat. Es würde die Ukraine ein gutes Stück auf den Weg in die europäische Normalität zurückführen, wenn diese Verfahren möglichst umgehend eingestellt würden.