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Analyse: Ein neuer Impuls zur Beilegung des Donbas-Konflikts? | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Ein neuer Impuls zur Beilegung des Donbas-Konflikts?

André Härte Nationale Universität Kiewer-Mohyla-Akademie Von André Härtel

/ 12 Minuten zu lesen

Die Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum ukrainischen Präsidenten und der Sieg seiner Partei bei den Parlamentswahlen haben Hoffnungen auf eine Beendigung des Donbas-Konflikts zwischen der Ukraine und Russland geweckt. Trotz der Annäherung der beiden Länder sind die Gräben jedoch noch tief und viele Fragen ungelöst.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während eines Besuchs in der Kriegsregion Donezk in der Ostukraine. (© picture alliance/AP Photo)

Zusammenfassung

Trotz einiger Anzeichen für Bewegung bei der Lösung des Donbas-Konflikts zwischen der Ukraine und Russland gibt es noch keinen klaren Fahrplan, wie es nun weitergeht. Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj arbeitet aktuell daran, eine Reihe von Maßnahmen zu entwickeln, die für seine in dieser Frage geteilte Bevölkerung akzeptabel sind, während Russland im Grunde vom Status quo profitiert. Daneben gibt es zahlreiche offene Fragen zur Umsetzung von Minsk II in einer Zeit, in der der Westen sanktionsmüde scheint und sich zunehmend auf andere Themen fokussiert.

Selenskyjs überraschende Wahl bringt neue Hoffnung

Der Krieg im Donbas herrscht nunmehr seit sechs langen Jahren. Die Kämpfe in den besetzten Gebieten, bestehend aus der sogenannten "Donezker Volksrepublik" (DNR) und der "Luhansker Volksrepublik" (LNR), sowie in den ukrainischen Teilen der Donezker und Luhansker Oblaste, haben bisher etwa 13.000 Menschenleben gefordert. Insbesondere an der sogenannten Kontaktlinie finden Beobachter weiter katastrophale humanitäre Zustände und schwierige wirtschaftliche Bedingungen vor. Das Minsker Abkommen vom Februar 2015 (Minsk II) hat zwar einen fragilen Waffenstillstand hervorgebracht, wurde aber weder von der ukrainischen noch von der russischen Seite so progressiv umgesetzt, wie es zur Beendigung dieses Konflikts erforderlich wäre.

Mit dem unerwarteten Aufstieg von Wolodymyr Selenskyj zum ukrainischen Präsidenten im Frühjahr 2019 und der absoluten Mehrheit, die seine Partei bei den Parlamentswahlen kurz darauf gewann, hat sich die Atmosphäre um den Konflikt allerdings deutlich verändert. Selenskyjs Wahlprogramm, das versprach, die Verhandlungen im Normandie-Format zu beschleunigen und den Krieg zu beenden, ein hochrangiger Gefangenenaustausch Anfang September und zuletzt im Oktober die Zustimmung der ukrainischen Seite zur sogenannten "Steinmeier-Formel", haben Hoffnung auf neue Impulse zur Beilegung des Konflikts im Donbas geweckt. Dieser Artikel analysiert die aktuelle Lage und fragt, ob wir in naher Zukunft wirklich signifikante Fortschritte erwarten können.

2015–2019: Poroschenko – der "Kriegspräsident"?

Um zu beurteilen, was sich tatsächlich verändert hat, ist es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf die Dynamik des Konflikts in den letzten Jahren zu werfen und damit verbunden auf die Politik der Ukraine, Russlands und anderer zentraler Akteure. Nachdem das Minsker Abkommen vom Februar 2015 die schweren Kampfhandlungen stoppen und eine mehr oder weniger stabile Kontaktlinie zwischen den besetzten Gebieten und dem Rest der Ukraine herstellen konnte, wurde schnell klar, dass der in der belarussischen Hauptstadt vereinbarte Rahmen vor allem eine Herausforderung für die ukrainische Seite darstellt. Die Souveränität des Landes war durch die Annexion der Krim und die russische Intervention im Donbas schon schwer beeinträchtigt worden, weshalb in der Öffentlichkeit die Meinung vorherrschte, dass weitere Verluste oder Zugeständnisse die Existenz des ukrainischen Staates endgültig infrage stellen würden. Bereits die Abstimmung über das Gesetz zur Dezentralisierung und über mehr Autonomie für die besetzten Gebiete (ganz zu schweigen von einem "Sonderstatus", wie in Minsk II vorgesehen) wurde im Spätsommer 2015 von gewalttätigen und tödlichen Auseinandersetzungen zwischen nationalistischen Demonstranten und der Polizei überschattet. Präsident Poroschenko verstand daraufhin, dass er aufgrund der wachsenden patriotisch-nationalistischen Stimmung in seinem Land zwar einerseits kaum außenpolitischen Verhandlungsspielraum hatte, den Krieg gegen Russland andererseits aber auch innenpolitisch für sich instrumentalisieren konnte.

Dass der ukrainische Präsident den Krieg mit russischen und separatistischen Kräften zum Kernanliegen seiner Amtszeit machte, war letztlich jedoch ebenso seine persönliche Entscheidung wie Folge der russischen Politik. Der Kreml zeigte seit 2015 nie großes Interesse an einer Lösung des Konfliktes und führte trotz westlicher Sanktionen seinen konsequenten Konfrontationskurs gegen die Ukraine fort. Moskau rüstete die "DNR" und "LNR" weiterhin militärisch auf und wies sie an, im Rahmen der geltenden Waffenstillstandsvereinbarung so viel Aggressivität und Unnachgiebigkeit wie möglich zu zeigen. Die russische Donbas-Politik wurde vor allem vom "grauen Kremlkardinal" Wladislaw Surkow bestimmt, der in beiden "Volksrepubliken" eine kremlfreundliche Elite installierte und sie in diversen Sphären, von Sicherheit bis Wirtschaft und Medien, immer tiefer in den Moskauer Orbit zog. Die russische Darstellung Poroschenkos als "Kriegspräsident" und seiner politischen Verbündeten in Kiew als "Kriegspartei" diente daher vor allem dem Interesse des Kremls, den nach Minsk erreichten Status quo im Donbas zu festigen.

Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die im Normandie-Format vertretenen Deutschland und Frankreich, schienen aus verschiedenen Gründen ihren politischen Willen zur Konfliktregulierung nach den beiden Minsker Abkommen ausgeschöpft zu haben. Vor allem Deutschland, das bei der Verhängung der EU-Sanktionen gegen Moskau und bei den Minsker Verhandlungen die Führung übernahm, war ab Ende 2015 augenscheinlich nicht mehr in der Lage, Führungsverantwortung zu übernehmen. Die in der deutschen Öffentlichkeit unpopulären antirussischen Sanktionen und die sog. "Flüchtlingskrise" schränkten die außenpolitischen Möglichkeiten ein und beeinträchtigten das Ansehen von Bundeskanzlerin Angela Merkel erheblich, sodass Berlin sein früherer Mut verlies. Gleichzeitig stießen die Forderungen nach einem aktiveren Engagement der USA in Washington, wo die Konfliktlösung im Donbas weiter als eine europäische Angelegenheit wahrgenommen wird, auf taube Ohren.

Die Minsker Abkommen – immer noch der richtige Lösungsmechanismus?

Im Laufe der Jahre sind die Minsker Abkommen vor allem von ukrainischer Seite und von neutralen Beobachtern heftig kritisiert worden. Tatsächlich sind die technischen Mängel, wie die Unklarheit über die exakte Abfolge der einzelnen vorgesehenen Schritte oder der Mangel an Details selbst bezüglich der wichtigsten Punkte (Wahlen, Grenzmanagement, Sonderstatus), mehr als offensichtlich.

Allerdings spiegelt jedes Friedensabkommen zunächst einmal die Situation vor Ort zum Zeitpunkt seiner Unterzeichnung wider. Anfang 2015 erlitten ukrainische reguläre und freiwillige Streitkräfte schwere Verluste beim ungleichen Kampf um Debalzewe, als reguläre russische Einheiten gemeinsam mit separatistischen Kämpfern angriffen. Zu diesem Zeitpunkt drohte der Ukraine ein weiteres Vordringen der pro-russischen Kräfte tief in das Landesinnere, was den damals so fragilen postrevolutionären Staat und seine angeschlagene Wirtschaft an den Rand des Kollapses gebracht hätte. In vielerlei Hinsicht, so z. B. durch die angedachten Verfassungsänderungen zugunsten der von Russland unterstützten Rebellen, beinhaltet das zweite Minsker Abkommen daher eine antiukrainische Tendenz und könnte als Bestätigung für den strategischen Erfolg Russlands interpretiert werden.

Die in Minsk vereinbarte fragile Feuerpause legte gleichzeitig jedoch auch den Grundstein für die langsame Wiederherstellung der Ukraine als funktionierenden Staat, inklusive einer nun moderat wachsenden Wirtschaft. Obwohl es verständlich ist, dass die Ukrainer, angesichts ihrer jetzt reformierten und modernisierten Armee sowie einer stabilen Kontaktlinie, mit dem Geist und Inhalt von Minsk mehr als unzufrieden sind, scheint ihre Kritik geschichtsvergessen. Es ist daher anzunehmen, dass der sichtbare Erfolg des Abkommens bei der Herstellung zumindest eines "negativen Friedens", sowie der regelmäßige Bezug der westlichen Partner der Ukraine auf das Minsker Abkommen als einzige Grundlage für weitere Fortschritte, eine Alternative zu Minsk II bis auf Weiteres unwahrscheinlich macht.

Selenskyj: Ein Friedensstifter auf wackeligem Grund

Der erdrutschartige Wahlsieg des ehemaligen Komikers Wolodymyr Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen der Ukraine überraschte viele. Einer der Hauptgründe für seinen Erfolg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 war seine versöhnlichere Haltung gegenüber dem Donbas-Konflikt sowie seine Entschlossenheit, Frieden zu schließen. Tatsächlich hatte Amtsinhaber Poroschenko mit seiner auf "Armee, Kirche, Sprache" basierenden Wahlkampagne die öffentliche Stimmung in vielerlei Hinsicht falsch interpretiert. Die Mehrheit der Ukrainer war sowohl vom Krieg als auch von Poroschenkos Ukrainisierungskampagne ermüdet. Dennoch waren selbst viele ukrainische Beobachter irritiert, wie sehr Selenskyj vom ersten Tag seiner Amtszeit an die Konfliktregulierung priorisierte und wie schnell er – zunächst einseitige – Schritte wie den Abzug der ukrainischen Streitkräfte bei Stanyzja Luhanska bereits im Juni dieses Jahres umsetzte. Selenskyjs Argumentation lässt sich jedoch, neben der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung, leicht erklären: Die anhaltende Konfrontation ist eine enorme Belastung für die wirtschaftliche Erholung des Landes (die sog "Operation der vereinigten Kräfte" im Osten kostet die Regierung rund vier Millionen Euro pro Tag) und beeinträchtigt die ehrgeizige Reformagenda des neuen Präsidenten erheblich.

Doch so verständlich der politische Ansatz von Selenskyj auch sein mag, er ist nicht ohne Risiken und könnte letztendlich zum Scheitern verurteilt sein. Erstens könnte der jetzt angewandte, eilig herbeigeführte Ansatz auf Kosten einer nachhaltigeren Konfliktlösung gehen. Selenskyj ist, wie sein inzwischen veröffentlichtes Telefonat mit US-Präsident Donald Trump zeigt, ein außenpolitischer Neuling, dem bisher die Unterstützung eines professionellen außenpolitischen Apparates fehlt. Viele ukrainische Experten sehen Selenskyjs Handeln eher von Intuition als von Strategie geleitet, während sich sein Präsidentenbüro und das Außenministerium mit oberflächlichen Erklärungen überbieten, wie verschiedene "Pläne" für den Frieden im Donbas aussehen könnten. Zweitens ist die öffentliche Meinung im Land zum Donbas-Konflikt viel widersprüchlicher als gemeinhin angenommen. Das könnte sich zu einer Quelle erheblicher innenpolitischer Auseinandersetzungen entwickeln, die Selenskyj ansprechen und zunächst vermitteln müsste. Während in der Tat die Mehrheit der Ukrainer fordert, dass Präsident Selenskyj dem Frieden im Donbas große Priorität einräumt (im Sommer 2019 sprachen sich laut Umfragen des Razumkow-Zentrums und der Stiftung Demokratische Initiative fast 70 Prozent der Ukrainer für einen Verhandlungsfrieden aus, sogar 20,1 Prozent "zu jedem Preis") und dazu direkt mit Vertretern von "DNR" und "LNR" verhandelt (41 Prozent), um den Donbas wieder in die Ukraine zu integrieren (das wünschen sich 56 Prozent), ist nur eine Minderheit von 26 Prozent dazu bereit, den besetzten Gebieten einen verfassungsrechtlichen "Sonderstatus" zu gewähren oder dafür die inzwischen klar transatlantische Ausrichtung der Außenpolitik des Landes zu verwerfen (24,7 Prozent). Die Zahl der Ukrainer, die Russland als "Aggressorstaat" wahrnehmen, entspricht zudem etwa der Zahl der Ukrainer, die ein schnelles Kriegsende wollen. Darüber hinaus steht der ukrainische Präsident vor dem Problem, dass seine Unterstützungsbasis, die zwar aus mehr als zwei Dritteln der Ukrainer besteht, eine meist "stillschweigende Mehrheit" und daher viel schwieriger zu mobilisieren ist, als seine politischen Gegner (die berühmten "25 Prozent"), was bei den "Keine Kapitulation"-Protesten Mitte Oktober schon deutlich zu sehen war. Daher hat Selenskyj Poroschenkos Problem des fehlenden innenpolitischen Verhandlungsspielraums in keiner Weise überwunden, und er könnte auf ernsthafte Widerstände stoßen, sobald seine konkreten Pläne und möglichen Zugeständnisse an die gegnerische Seite klarer werden.

Letztlich ist die aktuelle öffentliche Debatte in der Ukraine über "rote Linien", wie etwa über die außenpolitische Ausrichtung der Ukraine oder über Details, wie die besetzten Gebiete wieder in die Ukraine integriert werden sollen, in Wirklichkeit eine Diskussion über die Zukunft der Ukraine als Staat und Gesellschaft. Trotz des aktuellen Überdrusses mit Poroschenkos unversöhnlichem Konfliktlösungsansatz und seiner Ukrainisierungskampagne kann man nicht behaupten, dass der ehemalige Präsident keine überzeugende Vision für die Zukunft seines Landes hatte. In dieser wäre die Wiedereingliederung des Donbas entweder zu den Bedingungen Kiews oder gar nicht erfolgt. Dies hätte den Nexus zwischen innenpolitischen Reformen, außenpolitischer Westintegration und einer pro-ukrainischen Elitenstruktur gesichert. Selenskyj dagegen muss erst noch zeigen, wie er so widersprüchliche Zielstellungen wie einen Verhandlungsfrieden mit Russland und den Separatisten, bei gleichzeitiger Nichteinmischung Russlands in den Reformkurs und die Außenpolitik der Ukraine, sowie eine aufgrund des eventuellen Sonderstatus deutlich diversere Elitenstruktur, miteinander vereinbaren will. Wenn er keine praktikable und überzeugende Strategie ausarbeitet, könnte die Ukraine leicht auf ihre "amorphe" Definition von Staat und Gesellschaft vor 2013 zurückfallen.

Bewegt sich Russland wirklich?

Die russische Haltung zum Konflikt und dessen Dynamik sind um Einiges schwieriger einzuschätzen. Vor allem im Umgang mit der Ukraine, aber nicht nur hier, setzte der Kreml von Anfang an nicht nur auf hybride Kriegstechniken, sondern auch auf hybride Formen der Kommunikation (Desinformation, Propaganda) und Verhandlungsführung. Präsident Putin achtet etwa genau darauf, sein Land nicht als direkte Konfliktpartei dessen darzustellen, was in Russland als innerukrainische Angelegenheit oder als "Bürgerkrieg" gilt, und hält seine Gegenspieler im Unklaren über das von Russland bevorzugte Szenario für die Ukraine. Gleichzeitig wendet er alle Mittel an, um die volle Kontrolle über die Situation zu haben. Nach Ansicht von Diplomaten erstreckt sich diese Form der Verhandlungsführung auch auf die Arbeitsebene der Trilateralen Kontaktgruppe: Russische Vertreter gehen hier oft zunächst auf einige Punkte ein, rudern kurz darauf wieder zurück und versuchen dann, den Spielball zurück ins Feld der Ukraine zu werfen, was regelmäßig alle irritiert zurücklässt. Dementsprechend besteht ein berechtigtes Misstrauen gegenüber der Glaubwürdigkeit und der konstruktiven Vorgehensweise der russischen Entscheidungsträger.

Was sich im Laufe der Jahre allerdings verändert hat, ist die Perspektive, aus der Russland auf den Konflikt im Donbas blickt. Wurde dieser zunächst als regionaler Konflikt bzw. einer um "Einflusszonen" zwischen EU-Ambitionen und russischen Großmachtinteressen betrachtet, ist der Ukraine-Konflikt inzwischen ein Puzzleteil in einer nun weltweit verfolgten Strategie des Kremls, die darauf abzielt, eine neue, multipolare Weltordnung zu schaffen. Das könnte bedeuten, dass versöhnliche Schritte der ukrainischen Seite für den Kreml nicht zur Konfliktbeilegung ausreichen oder dass Russland zumindest einen weiteren "Deal" mit dem Westen in anderen Bereichen erwartet.

Aus dieser Perspektive scheint es unwahrscheinlich, dass der Abgang von Petro Poroschenko und der Antritt des scheinbar versöhnlicheren Wolodymyr Selenskyj Einfluss auf die russische Donbas-Strategie hatten. Dennoch gibt es einige Hinweise darauf, dass der Kreml, zumindest schrittweise, eine offenere Position in Bezug auf die Lösung des Donbas-Konflikts eingenommen haben könnte. Erstens ist deutlich geworden, dass die "Reintegration" der besetzten Gebiete in die Ukraine (wenn auch unklar, unter welchen Bedingungen genau) seit geraumer Zeit auch in Moskau Konsens ist. Zweitens scheint Wladimir Putin in letzter Zeit seinen Beraterkreis für den Konflikt erweitert zu haben. Den "Hardlinern" Wladislaw Surkow und Wiktor Medwedtschuk steht zunehmend der gemäßigtere Dmitri Kosak entgegen, der die beiden "Volksrepubliken" eher als Belastung betrachtet. Drittens begannen die von Russland gesteuerten "Separatisten" Ende Oktober tatsächlich mit der vereinbarten "Entflechtung", zogen ihre Streitkräfte aus Solote ab und versprachen, dies auch in Petriwske zu tun, womit sie positiv auf die ukrainischen Friedensbemühungen reagierten [laut der OSZE-Mission wurde die Entflechtung in Petriwske am 13. November erfolgreich vollzogen, Anm. d. Red.].

Dennoch bleibt die Frage offen, warum Russland nun an der schnellen Lösung interessiert sein sollte, die Selenskyj anstrebt. Hält man sich vor Augen, dass sich die "DNR" und die "LNR" bereits zu einer enormen Belastung für die Entwicklung und die außenpolitischen Ambitionen der Ukraine entwickelt haben, und der Westen eine zunehmende Müdigkeit gegenüber dem Ukraine-Konflikt und den antirussischen Sanktionen erkennen lässt, so wäre die beste Kreml-Taktik im Moment wohl das Aussitzen des Konflikts. Die einzige rationale Erklärung dafür, dass Russland sich eher früher als später auf eine Konfliktregulierung zubewegt, könnte die Sorge sein, dass die fortschreitende Integration der beiden "Volksrepubliken", insbesondere in den russischen Wirtschaftskreislauf, bereits zu weit gegangen ist und dass die Zeit für eine Reintegration allein auf Kosten der Ukraine allmählich abläuft. Am Ende könnte der Kreml allerdings auch darauf aus sein, Selenskyj und den Westen in einer kritischen Situation zu testen. Wird der junge, unerfahrene ukrainische Präsident größere Zugeständnisse machen, als sich rational erwarten ließe? Wird der sanktionsmüde Westen die ersten positiven Signale Russlands überbewerten und beginnen, die Sanktionen ohne große strategische Kosten für Russland aufzuheben?

Fazit: Knackpunkt Herrschaftsfrage

Die derzeitigen Anzeichen für eine Annäherung zwischen der Ukraine und Russland sind zweifellos eine positive und zutiefst notwendige Entwicklung. In einem Konflikt, der vor 2014 als unmöglich galt, haben insbesondere auf der ukrainischen Seite bereits zu viele Menschen ihr Leben und ihre Heimat verloren. Dass beide Seiten nun konkrete Schritte eingeleitet haben, wie z. B. die Entflechtung der Streitkräfte an drei Punkten der Kontaktlinie, spricht dafür, dass ein ernsthaftes Interesse am weiteren Fortschritt und einer Lösung des Konflikts besteht. Für große Euphorie ist es jedoch noch verfrüht. In einer Situation, in der noch immer fast jeden Tag Soldaten sterben, ist kaum zu erwarten, dass sofort Frieden einkehrt. Unabhängig von den tiefen Gräben, die nach mehr als fünf Jahren Krieg entstanden sind, scheinen sowohl die Ukraine als auch Russland jedoch noch nicht alle Vorkehrungen für einen "positiven" Frieden getroffen zu haben. In der Ukraine muss ein neuer Präsident die nationalen Interessen seines Landes erst noch ausloten und einen Umgang mit einer gut organisierten patriotisch-nationalistischen Opposition finden, die gegen jegliche Zugeständnisse ist. Für Russland hingegen könnte sich in Anbetracht der internationalen Politik, die sich zugunsten Russlands entwickelt, die Beibehaltung des Status quo zumindest für einige Zeit noch als vorteilhafter erweisen.

Abschließend müssen wir uns daran erinnern, worum es in diesem Konflikt eigentlich geht. Bis etwa zu Beginn der Euromaidan-Proteste im Jahr 2013 war die Ukraine ein klientelistischer und eng an Moskau gebundener Staat, dessen Dominanz sich über das pro-russische Netzwerk der ehemaligen "Partei der Regionen" mit ihrer Hochburg im Südosten des Landes manifestierte. Die "Revolution der Würde" hat dieses "Instrument" der russischen Herrschaft über die Ukraine gestürzt und dem Land die Möglichkeit gegeben, seine Zukunft neu – und vor allem selbst – zu kalibrieren. Mit dem Krieg in Donbas wollte die russische Außenpolitik diesen "Fehler" korrigieren und ihren Einfluss über zwei "Trojanische Pferde" (eine "DNR" und eine "LNR" mit Sonderstatus) wiedererlangen. Die wichtigste und bisher ungelöste ist daher die Herrschaftsfrage: Ist es möglich gleichzeitig Russlands Großmachtinteressen in seiner Nachbarschaft zu befriedigen und der Ukraine das Maß an Selbstbestimmung zu erhalten, das sich das Land seit 2013 erarbeitet hat?

Fussnoten

André Härtel ist DAAD-Assistenzprofessor im Programm "Deutschland- und Europastudien" (DES) an der Nationalen Universität Kiewer-Mohyla-Akademie.