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Kommentar: Vorsichtiger Skeptizismus angebracht / Die neue Regierung: Wo Licht ist, ist auch Schatten / Selenskyjs absolute Mehrheit: Gefahr für den ukrainischen Parlamentarismus? | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. März 2024 10 Jahre Krim-Annexion / Donbas nach der Annexion 2022 (21.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Dokumentation: Reporters Without Borders: Ten years of Russian occupation in Crimea: a decade of repression of local independent journalism Dokumentation: Europarat: Crimean Tatars’ struggle for human rights Statistik: Repressive Gerichtsverfahren auf der Krim und in Sewastopol Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Öffentliche Meinung zur Krim und zum Donbas Chronik: 22. Februar bis 10. März 2024 Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Kommentar: Vorsichtiger Skeptizismus angebracht / Die neue Regierung: Wo Licht ist, ist auch Schatten / Selenskyjs absolute Mehrheit: Gefahr für den ukrainischen Parlamentarismus?

Margarita M. Balmaceda Eduard Klein Sergej Sumlenny Kiew) Von Sergej Sumlenny (Heinrich-Böll-Stiftung

/ 10 Minuten zu lesen

Welche Veränderungen gehen mit den Ergebnissen der Parlamentswahlen einher? Welchen Eindruck machen die neue Regierung und die Minister/innen? Mit welchen Aufgaben sieht sich das Kabinett nun konfrontiert? Und wie verlief die erste Parlamentssitzung?

Parlamentsabgeordnete singen die Nationalhymne während der ersten Parlamentssitzung nach der vorgezogenen Wahl im Juli 2019. (© picture alliance/ZUMA Press)

Vorsichtiger Skeptizismus angebracht

Von Margarita M. Balmaceda

Als die "Diener des Volkes" in diesem Frühling und Frühsommer die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit Erdrutschsiegen gewannen, begann für Beobachter der ukrainischen Politik eine neue spannende Ära. Doch man musste noch bis zur konstituierenden Sitzung der Werchowna Rada am 29. August und der Ernennung der neuen Regierung warten, um sich ein wirkliches Bild über die bevorstehenden Veränderungen machen zu können. Während viele die "Monomajorität" der Partei "Diener des Volkes" in der neuen Rada betonen, die die Möglichkeit eröffnet, aufgrund der absoluten Mehrheit erforderliche Reformgesetze zu verabschieden, wäre ich aus drei Gründen vorsichtig skeptisch.

Erstens: Die Geschwindigkeit, mit der die wichtigsten Nominierungen für Ministerposten – weitgehend intransparent entschieden vom Präsidenten und seinem inneren Kreis, der unter dem Einfluss eines wichtigen Oligarchen steht – von der Rada bestätigt wurden, ohne dass die Kandidaten überhaupt die Möglichkeit hatten, ihr Programm vorzustellen, ist alles andere als ein gutes Zeichen. Die Ukraine braucht ein echtes parlamentarisches System mit ernsthaften politischen Debatten, und keine Gesetzgebung durch Akklamation. Zweitens: Trotz der scheinbaren Einheit, die sich bei der ersten Sitzung zeigte, bestehen die "Diener des Volkes" nicht aus einem monolithischen Block, sondern aus Abgeordneten mit unterschiedlichsten Interessen, ideologischen und außenpolitischen Perspektiven. Daher erwarte ich, dass bis zu diesem Winter die ersten Risse in diesem scheinbaren Monolithen auftreten werden. Drittens: Wichtige Wirtschaftsgruppen (nicht nur um Ihor Kolomojskyj oder die Firtasch- Ljowotschkin-Gruppe, die durch die "Oppositionsplattform – Für das Leben" in der Rada vertreten ist, sondern auch Gruppen ohne Vertretung, wie etwa um Rinat Achmetow) werden bald versuchen, Einfluss auf viele Abgeordnete auszuüben – besonders auf unabhängige Abgeordnete, die in Einzelwahlkreisen gewählt wurden, in denen sich von Oligarchen kontrollierte Unternehmen befinden, mit deren Hilfe sie erheblichen Einfluss ausüben können. Dies gilt insbesondere für Rinat Achmetow, dessen "Oppositionsblock" nicht ins Parlament eingezogen ist.

Auch die Zusammensetzung des neuen Ministerkabinetts – das fast ohne Diskussionen bestätigt wurde – ist sehr unausgewogen. Einerseits genießen einige Personen, wie Ruslan Rjaboschapka, einen sehr guten und integren Ruf und werden von der Zivilgesellschaft geschätzt. Andere, wie Arsen Awakow, der zum Innenminister wiederernannt wurde, stehen im Verdacht, Reformen zu blockieren.

Selenskyjs Bereitschaft, mit Wolodymyr Zemach einen Schlüsselzeugen im MH 17-Fall aufzugeben, liefert wichtige Hinweise auf seine Strategie bezüglich der militärischen Intervention Russlands in der Ostukraine. Mit Zemachs Freilassung sendet er das Signal, dass er dazu bereit ist, humanitäre Maßnahmen vor prinzipielle Grundsatzfragen zu stellen. Das Problem ist jedoch, dass dies nicht nur ein Signal an Putin ist, sondern auch an die nicht immer einfachen Partner der Ukraine in der EU. Genau zu dem Zeitpunkt, da immer mehr Politiker von Finnland über Deutschland bis Frankreich die Schwächung der Sanktionen gegenüber Russland fordern, drohen die Befreiung von Zemach und die scharfe Reaktion der niederländischen Regierung, die Einheit der EU hinter der Ukraine zu schwächen.

Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein

Die neue Regierung: Wo Licht ist, ist auch Schatten

Von Eduard Klein

Der Begriff "Superwahljahr" war wohl selten so zutreffend wie für das Jahr 2019 in der Ukraine: Nicht nur wurden der Präsident und das Parlament des Landes neu gewählt. Nein, es gab auch eine radikale Zäsur, mit der selbst vor einem halben Jahr wohl noch niemand gerechnet hätte. Erst fegte der Politsatiriker und -neuling Wolodymyr Selenskyj mit einem historischen Ergebnis Amtsinhaber Poroschenko aus dem Amt (fast 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten im zweiten Wahlgang für Selenskyj). Dann eroberte Selenskyjs Partei "Diener des Volkes", die ausschließlich auf politische Novizen setzte, aus dem Stand die Werchowna Rada. Mit 254 von 424 Sitzen können die "Diener des Volkes" sogar alleine regieren, ebenfalls ein Novum in der postsowjetischen Ukraine. Besonders mit ihrem starken Abschneiden in den Einzelwahlkreisen – die bei vorherigen Wahlen oftmals auf semi-legale Weise an undurchsichtige Unternehmer gingen, die mit dem Mandat ihr wirtschaftliches Engagement absicherten – hatte kaum jemand gerechnet. Mit dieser komfortablen Mehrheit im Parlament besitzt Selenskyj eine präzedenzlose Machtfülle und kann durchregieren.

Das eröffnet dem Land die Chance auf lang ersehnte tiefgreifende Reformen, die für den wirtschaftlichen Aufschwung dringend benötigt werden. Bereits im letzten Quartal stieg das Wirtschaftswachstum um unerwartet hohe 4,6 Prozent, die Löhne wuchsen im letzten Jahr um 20 Prozent, und im August meinten erstmals mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, dass das Land sich in die richtige Richtung entwickle – noch vor wenigen Monaten lag dieser Wert bei 15 bis 20 Prozent.

Bei der Regierungsbildung, die in den letzten Wochen mit großer Spannung erwartet worden war, haben sich ebenfalls die "Zelennials", wie Selenskyjs junge Anhängergeneration bereits bezeichnet wird, durchgesetzt. Die Ukraine hat nun nicht nur den jüngsten Premierminister – Olexij Hontscharuk (35) –, sondern auch das jüngste Parlament (Durchschnitt: 39 Jahre) in der Geschichte des Landes (und aktuell in Europa). Der Minister für digitale Transformation, Mychajlo Fedorow, ist gerade einmal 28 Jahre alt; Bildungsministerin Hanna Nowosad nur ein Jahr älter. Die neue Regierungsmannschaft soll vor allem signalisieren: Aufbruch, Energie und Reformen, um das Land vom (post-)sowjetischen Erbe zu befreien. Dafür stehen auch weitere Reformer wie der liberale Wirtschaftsminister Timofej Mylowanow, der im Westen geschätzte Außenminister Wadym Prystajko, der für europäische und euroatlantische Integration zuständige Dmytro Kuleba oder Gesundheitsministerin Sorjana Skalezka. Der angesehene Jurist Ruslan Rjaboschapka löste den umstrittenen Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko ab.

Nun muss das junge und einen Neuanfang symbolisierende, aber zugleich auch unerfahrene Kabinett beweisen, dass es die zahlreichen Versprechungen auch umsetzen kann. So kündigte Hontscharuk an, das Bruttoinlandsprodukt in den nächsten fünf Jahren um 40 Prozent steigern zu wollen. Das wird angesichts der verschlafenen Reformen in den letzten zwei Jahrzehnten alles andere als einfach. Zumal einige Regierungsmitglieder auch Skepsis erwecken, so wie Innenminister Arsen Awakow, der als einer von nur zwei Ministern seinen Posten behielt. Ihm werden nicht nur große Versäumnisse nachgesagt, z. B. bei der schleppenden Polizeireform, sondern ihm wird auch immer wieder Korruption vorgeworfen. Mit seiner Ernennung lässt sich nur schwer verkaufen, dass Selenskyj mit dem alten korrupten System brechen will. Auch die Tatsache, dass der Selenskyj nahestehende und nach dessen Wahl aus dem Exil zurückgekehrte Oligarch Ihor Kolomojskyj schon vor Wochen Olexij Hontscharuk als Premier ins Spiel brachte, als diesen noch niemand auf dem Zettel hatte, macht zumindest stutzig. Dann ist da noch das irritierende Verhältnis zu den Medien: Selenskyj meidet Interviews; seine rechte Hand, der Leiter des Präsidialbüros Andrij Bohdan, erklärt, dass die neue Regierung keine Journalisten brauche, um zum Volk zu sprechen; und Premier Hontscharuk schloss kurzerhand Journalisten von den Kabinettssitzungen aus.

Und dennoch: Alles in allem überwiegt der positive Eindruck von der neuen Regierung. Sie hat es nun in der Hand, die Ukraine nachhaltig zu reformieren und durch wirtschaftlichen Aufschwung die Lebensbedingungen für Millionen von Menschen im ärmsten Land Europas zu verbessern.

Selenskyjs absolute Mehrheit: Gefahr für den ukrainischen Parlamentarismus?

Von Sergej Sumlenny

Die große Anzahl junger und vermeintlich prowestlicher Gesichter in der neuen ukrainischen Regierung sollte den Westen nicht täuschen: Die junge ukrainische Demokratie steht vor einer großen Herausforderung. Die Machtkonzentration in den Händen von Präsident Selenskyj – unabhängig davon, welche Pläne er für seine Politik hat – transformiert die politische Landschaft zu einer gefährlichen, unausgewogenen Machtpyramide mitsamt einer eigenen Dynamik. Diese Dynamik der Machtkonzentration gefährdet neben der Judikative und den Medien vor allem die Legislative: Die Werchowna Rada.

In den letzten Jahren entwickelte sich die Ukraine zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Republik, welche die Kompetenzen des Präsidenten durch ein starkes Parlament begrenzte. Das aus vielen unterschiedlichen Fraktionen bestehende Parlament genoss zwar wenig Vertrauen in der Bevölkerung, konnte aber mehrfach die Machtansprüche des Präsidenten blockieren. So ist es im November 2018 Präsident Poroschenko nicht gelungen, das Kriegsrecht im ganzen Land für zwei Monate zu verhängen (was de facto eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen bedeutet hätte), weil das Parlament dem Präsidenten einen Kompromiss abrang und sich seinem Machtanspruch widersetzte. Diese Rolle einer "demokratischen Bremse" verliert das Parlament in den letzten Wochen. Es besteht die Gefahr, dass das Parlament zu einem Statisten degradiert wird, wenn die "Diener des Volkes" den Willen des Präsidenten nur noch absegnen, ohne Fragen zu stellen.

Diese Entwicklung kommt nicht überraschend. Schon Externer Link: Mitte Juni äußerte Ruslan Stefantschuk, damals noch Berater von Präsident Selenskyj und nun Vize-Sprecher des Parlaments, dass "Diener des Volkes" eine "Monopartei" werden solle, die über die Hälfte der Sitze im Parlament kontrollieren und "die volle Verantwortung für das Geschehen im Lande" übernehmen werde. Dieses Ziel scheint erreicht zu sein. Mit rund 56 Prozent der Sitze im Parlament wählten die "Diener des Volkes" gleich in der ersten Parlamentssitzung Mitglieder ihrer Fraktion zu Präsident und Vize-Präsident des Parlaments sowie zu Vorsitzenden von 19 der 23 parlamentarischen Ausschüsse. Der absolute Machtanspruch der "Diener des Volkes" manifestiert sich auch in der neuen Sitzverteilung. So wurden quer durchs Plenum alle ersten Reihen durch die "Diener des Volkes" besetzt, während die anderen Fraktionen in die hinteren Sitzreihen verdrängt wurden. Offenbar soll dadurch die regierende Partei im Notfall das Rednerpult einfach physisch blockieren können, um Oppositionelle nicht zu Wort kommen zu lassen. Externer Link: Diese Befürchtungen wurden am 30. August befeuert, als Gruppen männlicher Abgeordneter der "Diener des Volkes" alle Durchgänge während der Abstimmung über die Aufhebung der politischen Immunität blockierten und so jeglichen Versuch der Opposition, zum Rednerpult zu gelangen, im Keim unterbanden.

Interne Disziplin scheint innerhalb der größten Fraktion im Parlament eine herausragende Rolle zu spielen: Ende Juni wurde ein spezielles Training für alle neu gewählten "Diener des Volkes" organisiert. Laut einer Externer Link: geleakten Audioaufnahme erklärte der erfahrene Politcoach Mykyta Potyrajew den Abgeordneten mehrfach, diese seien "niemand" und säßen nur dank Präsident Selenskyj im Parlament.

Auch wurde viel Gewicht auf die Entmachtung der einzelnen Abgeordneten und auf die Stärkung der Parteidisziplin gelegt. Binnen einer Woche verabschiedete das Parlament die Aufhebung der politischen Immunität – eine Forderung, die schon viele Jahre auf der Agenda des Parlaments stand, über die aber nie abgestimmt wurde. Parallel dazu Externer Link: stimmte das Parlament in erster Lesung für einen Gesetzentwurf des Präsidenten, der Abgeordneten ihr Mandat entzieht, wenn sie aus ihrer Fraktion austreten oder wenn sie mehr als ein Drittel der Parlaments- oder Ausschusssitzungen "ohne triftigen Grund" verpassen. Solche Maßnahmen sind zwar in der Bevölkerung aus nachvollziehbaren Gründen populär, schränken aber die Unabhängigkeit von Abgeordneten drastisch ein.

Weiter sollten in der Fraktion "Diener des Volkes" Externer Link: interne Regeln ausgearbeitet werden, welche ein Verbot vorsehen, ohne Genehmigung der Partei mit der Presse zu sprechen. Ein generelles Recht, mit der Presse zu sprechen, wurde nur drei Personen erteilt: dem Parlamentspräsidenten Dmytro Razumkow, dem Fraktionsvorsitzenden Dawid Arachamia und seinem ersten Stellvertreter Olexandr Kornijenko. Weitere 50 Abgeordnete aus der Fraktion dürfen in begrenztem Maße in Talkshows auftreten, sollen dafür aber mit fertigen Antworten vorbereitet werden. Ob und wie die restlichen knapp 200 Abgeordneten der Fraktion mit Medien sprechen dürfen, bleibt unklar.

Erheblicher Druck auf die Parlamentarier, von denen mehr als 80 Prozent erstmals im Parlament sitzen und politisch unerfahren sind, kommt auch vom Präsidenten. In seiner Rede während der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments drohte er den Abgeordneten mit der Auflösung der Rada in einem Jahr, sollten sich die Parlamentarier "unverantwortlich" benehmen – Externer Link: er habe schon erfahren, so Selenskyj, dass die Auflösung des Parlaments "gar nicht so schlimm" sei. Dabei wäre eine solche Auflösung des Parlaments nach einer "Probezeit" verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehen. Einen Abgeordneten der oppositionellen Poroschenko-Partei, der auf eine Verletzung der Sitzungsordnung durch Parlamentspräsident Razumkow hinwies, schrie Selensky an mit den Worten: Externer Link: "Warum heulen Sie so?".

Dem Appell des Präsidenten bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments, nun schnell Gesetze zu verabschieden, folgten die "Diener des Volkes" umgehend: Parlaments-Vize-Präsident Externer Link: Stefantschuk sagte in einem Videointerview, dass bereits 465 Verfassungsänderungen vorbereitet worden sein sollen (bei 161 Artikeln der Verfassung). Wichtige Gesetzesvorhaben wurden noch am ersten Sitzungstag abgestimmt und an die entsprechenden Ausschüsse geleitet – ohne, dass die Abgeordneten die Entwürfe überhaupt vorher einsehen konnten. So wurden bei der ersten Sitzung des Parlaments Gesetzentwürfe über die Justizreform, über einen "Neustart der Staatsmacht", über die Unterordnung der Nationalgarde unter den Präsidenten sowie viele weitere verabschiedet. Dabei kam es zu kuriosen Argumentationen: So soll die Zustimmung zur umstrittenen Kandidatur von Innenminister Awakow Externer Link: laut einer geleakten SMS einer Abgeordneten der "Diener des Volkes" damit begründet worden sein, dass Ex-Präsident Poroschenko für Dezember einen "Putsch" plane und es deswegen wichtig wäre, Awakow im Amt zu belassen.

Die Bereitschaft, ohne Rücksprache und Diskussionen für Gesetzesentwürfe des Präsidenten zu stimmen, kann eine gefährliche Entwicklung bedeuten. Viele der durchgewunkenen Reformen erweitern die präsidialen Kompetenzen enorm: So soll der Präsident u. a. das Recht bekommen, die Leitung des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (NABU) und des wichtigen Untersuchungsgremiums DRB zu ernennen und zu entlassen. Der Präsident Externer Link: soll auch das Recht erhalten, neue Organe zur Regulierung und Kontrolle der Wirtschaft zu schaffen und zu besetzen, was ihm auch im Bereich der Wirtschaft, eigentlich einer Kernkompetenz des Premiers, großen Einfluss geben würde. Auch andere Gesetzentwürfe sehen weitreichende Verfassungsänderungen und die Ausweitung der Kompetenzen des Präsidenten vor.

Mit der hohen Zahl von Verfassungsänderungen ist die Entwicklung des ukrainischen Parlamentarismus in eine gefährliche Phase geraten. Eine Aushöhlung des Parlaments, eine Umverteilung der Kompetenzen zugunsten des Präsidenten und die offensichtliche politische Unerfahrenheit der neuen Abgeordneten bringen das bisherige Machtsystem ins Wanken. Die westlichen Partner der Ukraine sind daher angehalten, die ukrainische Politik vor diesen Gefahren zu warnen, und sich nicht mit der bloßen Hoffnung abzugeben, dass die gegenwärtige Umverteilung "für Reformen notwendig" sei.

Fussnoten

Margarita M. Balmaceda ist Professorin für Diplomatie und Internationale Beziehungen an der Seton Hall University und assoziierte Wissenschaftlerin am Harvard Ukrainian Research Institute.

Dr. Eduard Klein ist Redakteur der Ukraine-Analysen und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.

Sergej Sumlenny ist Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew.