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Kommentar: Wie sich die Ukraine unter Präsident Selenskyj entwickeln könnte

Heiko Pleines Von Heiko Pleines (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

/ 5 Minuten zu lesen

Das Fehlen eines umfassenden politischen Programms sowie kompetenter Unterstützung und die Nähe zum Oligarchen Ihor Kolomskyi lassen sich als Schwächen von Wolodymyr Selenskyj deuten. Für seine zukünftigen Entscheidungen und Handlungen könnten die Vereinbarungen der Ukraine mit dem Internationalen Währungsfond und der EU richtungsweisend sein.

Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj trifft Donald Tusk, den Präsidenten des Europäischen Rates am 5. Juni 2019 in Brüssel. (© picture alliance/AA)

Einleitung

Der nächste ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, ist ein Newcomer und ein Populist. Beides macht Prognosen über seine zukünftige Rolle in der ukrainischen Politik schwierig. Bei einem Neuling lassen sich keine Schlüsse aus früheren Aktivitäten und Erfolgen ziehen. Bei einem Populisten, der sich vor allem auf den Interessenkonflikt zwischen "dem" Volk und korrupten Eliten bezieht, sind programmatische Aussagen oft zugespitzt. Bei Selenskyj kommt erschwerend hinzu, dass er sich inhaltlich kaum festgelegt hat. Die Parallelen reichen so von Präsident Trump in den USA, der als Amtsinhaber täglich improvisiert, über Präsident Macron in Frankreich, der mit einer Reformbewegung die politische Initiative ergriffen hat, bis hin zu den Präsidenten von Brasilien, Mexiko oder Polen, die die große Frustration über Korruption und Netzwerke in der Politik für ihre Wahlerfolge und ihre eigene politische Agenda genutzt haben.

Selenskyjs Schwächen

Die aktuellen Spekulationen über die Rolle Selenskyjs als Präsident der Ukraine beziehen sich vor allem auf drei Punkte: Verzicht auf inhaltliche Aussagen, Fehlen eines kompetenten Teams bzw. politischer Unterstützung sowie die Nähe zum Oligarchen Ihor Kolomojskyj.

Der Verzicht auf ein umfangreiches politisches Programm war eine bewusste Wahlkampfstrategie Selenskyjs. Für allgemeine Forderungen wie Kampf gegen die Korruption, Frieden in der Ostukraine und Wirtschaftswachstum konnte er nur Zustimmung erhalten. Gleichzeitig zeigte er seine populistische Grundhaltung, indem er mehrfach versprach, seine Politik gemeinsam mit der Bevölkerung zu entwickeln. Es gibt kein umfassendes politisches Programm Selenskyjs und wird wohl so schnell auch keins geben.

Davon abgesehen besitzt Selenskyj keine organisierte politische Unterstützung. Seine "Mannschaft" beschränkt sich deshalb bisher auf sein Wahlkampfteam. Wie bereits der frühere ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko nach der Orangen Revolution erfahren musste, sind die politischen Gestaltungsmöglichkeiten ohne eine Mehrheit im Parlament sehr eingeschränkt. Selenskyj fehlen außerdem erfahrene Politiker, die Reformen kompetent gegen alte Seilschaften, träge Bürokratien und finanzstarke Lobbyisten durchsetzen können.

Hinzu kommt die Nähe zum Oligarchen Ihor Kolomojskyj, dem der Fernsehsender gehört, mit dessen Unterstützung Selenskyj zum Star wurde. Selenskyj betont seine Unabhängigkeit, doch Journalisten haben herausgefunden, dass er den Oligarchen regelmäßig in der Schweiz bzw. in Israel getroffen hat; außerdem gehören Mitarbeiter von Kolomojskyj zu Selenskyjs Team.

Oligarch ist dabei nicht gleich Oligarch. Alle ukrainischen Oligarchen nutzen ihren Einfluss, um von staatlicher Seite eine Vorzugsbehandlung zu bekommen. Die Süßwarenkette des alten Präsidenten Petro Poroschenko eröffnete so nach seinem Amtsantritt viele neue Filialen, und Poroschenkos Steuerzahlungen und Spenden zusammengenommen lagen deutlich unter 10 Prozent seines Einkommens. Kolomojskyj aber plündert den Staat systematisch aus. Als Minderheitsaktionär entzog er der staatlichen Ölfirma "Ukrnafta" massiv Kapital, und als sein Einfluss eingeschränkt werden sollte, begann er in den Räumen des Managements zu pöbeln. Eine internationale Wirtschaftsdetektei, die auch schon den Korruptionsskandal bei Siemens untersucht hat, stellte fest, dass aus Kolomojskyjs PrivatBank durch umfangreiche Scheingeschäfte insgesamt 5,5 Milliarden Dollar verschwunden sind, bevor sie verstaatlicht wurde.

Mögliche Szenarien

Je nach Perspektive ergeben sich aus diesen Bedingungen zwei mögliche Szenarien für die weitere Entwicklung der Ukraine unter Präsident Selenskyj: dynamische Reformen oder Chaos.

Die Optimisten, zu denen wohl viele von Selenskyjs Wählern gehören, glauben Selenskyj, dass er seine Ziele – weniger Korruption, Frieden und Wirtschaftswachstum – wirklich erreichen will. Sein eigener politischer Erfolg hängt ja auch davon ab. Ein erster Schritt wäre eine Parlamentsmehrheit für seine bisher vor allem auf dem Papier existierende Partei "Diener des Volkes" bei den Wahlen im Oktober. Ein Team ausgewählter Experten könnte dann in Schlüsselbereichen radikale Reformen vorantreiben. Da bisher keine Festlegung auf konkrete Maßnahmen erfolgte, können pragmatisch die besten Optionen ausgewählt werden. Als Präsident sollte Selenskyj stark genug sein, sich von Kolomojskyj lossagen zu können und unabhängig Politik zu gestalten. Selenskyj selbst zieht den Vergleich zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Der Umstand, dass Macron angesichts der Massenproteste seit Monaten unter Druck steht, zeigt aber auch, welchen Herausforderungen sich "einsame Reformer" stellen müssen. Um landesweit Reformen voranzutreiben und sie auch gegen Kritik überzeugend zu verteidigen, sind eine Parlamentsmehrheit und eine kompetente Regierung erforderlich. Hier müssen dann auch grundlegende Richtungsentscheidungen getroffen werden, die Teile der Wähler enttäuschen.

Ein erstes Beispiel dafür deutet sich schon an. Selenskyj hatte im Wahlkampf erklärt, er werde im persönlichen Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine Lösung für den Konflikt in der Ostukraine finden und die in Russland inhaftierten ukrainischen Soldaten und Seeleute nach Hause holen. Das versprochene Ergebnis entspricht nationalen ukrainischen Forderungen, während die vorgeschlagenen Verhandlungen eher russlandfreundlichen Wählern gefallen sollten. Mit etwas Wohlwollen können sich also beide Wählergruppen durch Selenskyj in ihren Interessen vertreten fühlen. Der aktuelle russische Vorschlag, die Ausgabe von russischen Pässen in den Separatistengebieten zu vereinfachen, hat Selenskyj nun bereits gezwungen, das russische Vorgehen zu kritisieren. Wenn ein Gespräch mit Putin nicht zustande kommt oder ergebnislos bleibt, hat Selenskyj sein Pulver bereits verschossen.

Viele Kritiker Selenskyjs weisen darauf hin, dass ein Staat am Rande des Bankrotts und mit einem Krieg auf eigenem Territorium sich keine Anfängerfehler oder Experimente erlauben kann. Diese Faktoren zeigen aber aus meiner Sicht eher, dass sich die Ukraine unter Selenskyj auf ein drittes Szenario zubewegen könnte. Aufgrund der Abhängigkeit der Ukraine von der Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die EU sowie aufgrund der fehlenden Kompromissbereitschaft Russlands gibt es für den neuen ukrainischen Präsidenten kaum Handlungsspielräume. Die Ukraine könnte so einem "griechischen Szenario" folgen. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras wurde 2015 aufgrund seiner Ablehnung der IWF- und EU-Auflagen im Kontext der Eurokrise gewählt. Letztendlich setzte er die Auflagen zwar nicht unbedingt kompetent und dynamisch, aber weitgehend wie vereinbart um.

Es könnte deshalb gut sein, dass die meisten Reformen unter Selenskyj – ähnlich wie unter Poroschenko – den Vereinbarungen mit IWF und EU folgen. Im Bereich der Korruptionsbekämpfung zum Beispiel kann dies als eigener Erfolg verkauft werden. In vielen anderen Bereichen wird es – wie auch bisher – die eigene Inkompetenz verdecken und zur Rechtfertigung unpopulärer Reformen herangezogen werden.

Fussnoten

Prof. Dr. Heiko Pleines leitet die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er hat sich intensiv mit der Rolle von Oligarchen in der ukrainischen Politik befasst. Einen Überblick über seinen Ansatz gibt folgender Zeitschriftenaufsatz: Pleines, Heiko (2016): Oligarchs and Politics in Ukraine, in: Demokratizatsiya (Jg. 24:1), S. 105–127.