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Analyse: Die Wahlrechtsreform in der Ukraine – quo vadis? | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Wahlrechtsreform in der Ukraine – quo vadis?

Steffen Halling

/ 14 Minuten zu lesen

Wie sieht das aktuelle ukrainische Wahlsystem aus und welche Schwächen weist es auf? Welche Verbesserungen erhoffen sich die Befürworter der Wahlrechtsreform in der Ukraine? Eine Übersicht über die Entwicklungen der letzten Jahre und die Erfolgschancen des Reformanliegens.

Befürworter der Wahlrechtsreform auf einer Kundgebung im Mai 2018 in Lwiw. (© picture-alliance/dpa, Sputnik)

Zusammenfassung

Ein wesentliches Reformanliegen, das von der ukrainischen Zivilgesellschaft, reformorientierten Politikern und internationalen Akteuren seit Jahren unterstützt wird, stellt die Veränderung des Wahlsystems dar, mit dem die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments gewählt werden. Geht es nach den Befürwortern einer Wahlrechtsreform, soll das Parlament zukünftig nach einem reinen Verhältniswahlsystem auf der Grundlage lose gebundener regionaler Parteilisten, die in der Ukraine als "offene" Listen bezeichnet werden, gewählt werden. Die Reform des ukrainischen Wahlrechts stellt zwar gewiss kein Allheilmittel dar, allerdings könnte sie den Kampf gegen politische Korruption unterstützen, zu einer besseren Abbildung des Wählerwillens führen und somit die Institution freie und faire Wahlen als wesentlichen Bestandteil der Demokratisierung der Ukraine stärken. Ob die Reform rechtzeitig vor den Parlamentswahlen im Oktober 2019 umgesetzt wird, ist jedoch ungewiss.

Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurden in der Ukraine bisher sieben Parlamentswahlen abgehalten. Die jeweilige Wahlgesetzgebung hat dabei dutzendfach Änderungen erfahren, und es kamen seit 1994 drei unterschiedliche Wahlsysteme zum Einsatz. Änderungen und Neufassungen von Einzelwahlgesetzen im Vorfeld von Wahlen gelten in der Ukraine in der Regel als Versuch der jeweils regierenden politischen Kraft, sich Vorteile zu verschaffen. Es steht außer Frage, dass sich häufige Änderungen der Wahlgesetzgebung sowohl in der Bevölkerung als auch bei politischen Akteuren negativ auf das Vertrauen in die Institution Wahlen auswirken. Bei den ersten freien Parlamentswahlen 1994 wurden alle Abgeordneten der Werchowna Rada zunächst per direktem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen gewählt. Um in das Parlament einzuziehen, musste ein Kandidat (entweder im ersten Wahlgang oder in einer Stichwahl) mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten. Die Wahlbeteiligung musste dabei mehr als 50 Prozent betragen. Diese Bestimmungen führten dazu, dass die Wahlen in manchen Wahlkreisen mehrfach wiederholt werden mussten und auch nach der Konstituierung des neu gewählten Parlaments nicht alle Wahlkreise durch einen Abgeordneten im Parlament vertreten waren. 1998 und 2002 erfolgte die Wahl der Abgeordneten dann durch ein gemischtes Wahlsystem, bei dem die Hälfte der Parlamentssitze per Verhältniswahl nach landeseinheitlichen und starren Parteilisten, die andere Hälfte per Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen besetzt wurde. Für die Parlamentswahlen 2006 sowie die vorzeitigen Neuwahlen 2007 sah die Gesetzgebung dann eine reine Verhältniswahl auf der Grundlage von landesweiten Kandidatenlisten vor, die von Parteien und Wahlbündnissen aufgestellt wurden. Die bisher letzte Metamorphose des Wahlsystems erfolgte 2011 durch Verabschiedung eines neuen Parlamentswahlgesetzes im Vorfeld der Parlamentswahlen 2012. Dieses Wahlgesetz sah eine Rückkehr zum gemischten Wahlsystem der Jahre 1998 und 2002 vor und kam zuletzt 2014 zur Anwendung.

Defizite des aktuellen Wahlsystems

Das zu den Parlamentswahlen 2012 erlassene Parlamentswahlgesetz, das bis heute Gültigkeit besitzt, sorgte bereits bei seiner Verabschiedung für harsche Kritik. Kritisiert wurde damals unter anderem, dass das Gesetz von der damaligen Regierungskoalition unter Führung der Partei der Regionen und mit der Mehrheit der Stimmen der Opposition in einem intransparenten und äußerst eiligen Verfahren verabschiedet wurde (siehe dazu auch die Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 99 vom 24.1.2012). Darüber hinaus hatten sich auf Wahlgesetzgebung spezialisierte ukrainische Nichtregierungsorganisationen – wie das Komitee der Wähler der Ukraine (Komitet Wyborziw Ukrajiny/KWU) und OPORA – ebenso wie die Europäische Union und die Venedig-Kommission des Europarats bereits im Vorfeld gegen die Wiedereinführung des gemischten Wahlsystems ausgesprochen. Die Beanstandung dieses Wahlsystems hat im Kontext des politischen Systems der Ukraine mehrere Gründe. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Erstens führt das in der Ukraine bestehende gemischte Wahlsystem dazu, dass etliche Stimmen der ukrainischen Wählerinnen und Wähler bei der Mehrheitswahl, durch die die eine Hälfte der Abgeordneten gewählt wird, keine Berücksichtigung finden. Anders als beispielsweise in Deutschland, werden Direktmandate in der Ukraine nämlich nicht auf Listenmandate angerechnet. Das heißt, Mehrheitswahl und Verhältniswahl stehen in der Ukraine nebeneinander und werden ohne Verrechnung miteinander angewandt. Dieses Wahlsystem wird daher auch als "Grabenwahlsystem" bezeichnet.

Neben der Nichtberücksichtigung all jener Stimmen, die in der einfachen Mehrheitswahl auf unterlegene Direktkandidaten entfallen, führt das Wahlsystem zweitens dazu, dass einzelne Fraktionen, insbesondere die der jeweiligen "Partei der Macht", sowohl durch Direktkandidaten, die von einer Partei aufgestellt werden, als auch vermeintlich unabhängige Kandidaten im Vergleich zum Landesergebnis stark überrepräsentiert werden können. Im Kontext eines von Korruption geprägten politischen Systems kommt das schwerwiegende Problem hinzu, dass durch die Direktwahl von Abgeordneten in Einerwahlkreisen der Einsatz administrativer Ressourcen sowie der Kauf von Wählerstimmen begünstigt werden, weil sie effektiver betrieben werden können als in einer Verhältniswahl. Hiervon können vor allem Oligarchen und andere finanzstarke Geschäftsleute profitieren, die durch den Einsatz finanzieller Ressourcen und den "Kauf eines Wahlkreises" den politischen Wettbewerb verzerren und sich selbst oder persönliche Vertreter ins Parlament wählen lassen. Dies erfolgt vor allem über Träger von Direktmandaten, die häufig eine "unabhängige" Kandidatur deklarieren, sich nach der Wahl zur Sicherung ökonomischer Interessen aber der Regierungsmehrheit anschließen. Für die Demokratie schädliche Praktiken wie Korruption und Klientelismus werden dadurch verstetigt.

Schließlich steht drittens auch die derzeitige Verhältniswahl, durch die die andere Hälfte der Abgeordneten gewählt wird, seit Jahren in der Kritik. Zu berücksichtigen sind hierbei die mangelnde Konsolidierung des ukrainischen Parteiensystems sowie unzulängliche demokratische Strukturen innerhalb der Parteien. Die Zusammenstellung der landesweiten Parteilisten erfolgt in der Regel hochgradig intransparent. Da die Wähler nur eine landesweite Parteiliste en bloc wählen können, muss davon ausgegangen werden, dass insbesondere jene Listenplätze, die unterhalb des Radars der öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit liegen, gleichzeitig aber aussichtsreich genug sind, um einen Einzug ins Parlament zu ermöglichen, gehandelt werden. Auch das System der starren Parteilisten stellt somit ein Vehikel der Einflussnahme durch Oligarchen und Geschäftsleuten dar und leistet der politischen Korruption Vorschub.

Der Reformprozess nach dem Euromaidan

Um den Defiziten des gegenwärtigen Parlamentswahlsystems zu begegnen, fordern vor allem Wahlrechtsexperten aus ukrainischen Nichtregierungsorganisationen wie OPORA und KWU sowie internationale Organisationen – wie die Venedig-Kommission des Europarats und das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE (ODIHR) – die Einführung einer reinen Verhältniswahl auf der Grundlage lose gebundener regionaler Listen (in der Ukraine als "offene" Listen bezeichnet). Im Unterschied zu starren Listen, bei denen die Reihenfolge der Kandidaten durch Parteigremien festgelegt wird, überlassen lose gebundene Listen dem Wähler die Entscheidung über die Wahl eines Kandidaten beziehungsweise einer Kandidatin einer Partei. Die somit von den Wählern zum Ausdruck gebrachten Präferenzen sind für die schlussendliche Kandidatenreihenfolge bei der Besetzung der Parlamentssitze maßgeblich.

Die Idee einer entsprechenden Reform besteht darin, dass das reine Verhältniswahlsystem den Wählerwillen besser abbilden und gleichzeitig den Einsatz administrativer Ressourcen sowie den Kauf von Wählerstimmen erschweren könnte. Ferner könnten regionale Wahllisten, die den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit geben, bestimmte Kandidaten zu präferieren, die innerparteiliche Konkurrenz stärken, die Transparenz erhöhen und die Attraktivität des Verkaufs von Listenplätzen schmälern. Ein derartiges Wahlsystem findet auch in der Bevölkerung Rückhalt. Laut einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums vom Dezember 2017 sprechen sich 34,5 Prozent der Befragten für die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit "offenen" Parteilisten aus (siehe Grafik 1 am Ende des Textes). Die Beibehaltung des gemischten Wahlsystems präferieren indes 17,2 Prozent. Eine reine Mehrheitswahl von Direktkandidaten in Einerwahlkreisen, wie sie 1994 erfolgte, unterstützen 16,1 Prozent und eine reine Verhältniswahl mit starren beziehungsweise "geschlossenen" Parteilisten nach dem Beispiel der Parlamentswahlen 2006 und 2007 nur 5,2 Prozent.

Die Forderung nach der Einführung eines reinen Verhältniswahlsystems für Parlamentswahlen ist nicht neu. Die Venedig-Kommission wies bereits im Nachgang der vorzeitigen Parlamentsneuwahlen 2007 sowie im Zuge der Wahlrechtsreform 2011 darauf hin, dass die Einführung einer reinen Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen jene Nachteile abbauen könnte, die sowohl mit dem gemischten Wahlsystem als auch mit der Verhältniswahl in einem landesweiten Wahlkreis einhergehen. Unter der Administration von Präsident Janukowytsch fehlte allerdings der politische Wille, das gemischte Wahlsystem wieder abzuschaffen. Schließlich hatte sich dieses bei den Parlamentswahlen 2012 zur Sicherung der Regierungsmehrheit der Partei der Regionen bewährt. Zuvor war dieses System von der Partei der Regionen bei den Lokalwahlen 2010 durch eine kurzfristige Anpassung des entsprechenden Lokalwahlgesetzes erfolgreich erprobt worden (siehe dazu auch die Externer Link: Ukraine-Analysen Nr. 82 vom 9.11.2010).

Durch den Euromaidan, den Sturz Janukowytschs und den Zerfall der Partei der Regionen schienen sich die Aussichten für eine Veränderung des ukrainischen Wahlrechts vor allem im Hinblick auf das Wahlsystem für Parlamentswahlen verbessert zu haben, auch weil die Reform hin zu einer reinen Verhältniswahl mit "offenen" regionalen Listen im Koalitionsabkommen von 2014 als Ziel ausgegeben wurde. Gleichzeitig offenbarte sich jedoch auch recht früh das Dilemma, dass die Wahlgesetzgebung letztlich von jenen Abgeordneten reformiert werden muss, die 2014 durch das bestehende Wahlgesetz in die Werchowna Rada gewählt worden sind und von diesem entsprechend profitiert haben. Dies trifft insbesondere auf die Direktkandidaten zu. Erst drei Jahre nach den Parlamentswahlen von 2014, im Oktober 2017, als ein Bündnis aus verschiedenen Oppositionsparteien, einzelnen Abgeordneten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu Großdemonstrationen vor dem Parlament aufgerufen hatte und – neben der Schaffung eines Antikorruptionsgerichts sowie der Abschaffung der Immunität von Abgeordneten – die Änderung des Wahlsystems als eine zentrale Reform einforderte, kam das Thema der Wahlrechtsreform überhaupt auf die Agenda des Parlaments. Zwei Tage nach dieser Demonstration wurden drei Gesetzesvorschläge, die bereits im Dezember 2014 registriert worden waren, auf die Tagesordnung des Parlaments genommen. Alle drei Gesetzesinitiativen, darunter eine, die die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit "offenen" Listen vorsah, wurden jedoch zugleich in erster Lesung abgelehnt.

Umso überraschender erschien es, dass kurze Zeit später, am 7. November 2017, der Entwurf eines umfassenden einheitlichen Wahlgesetzbuches (sieheExterner Link: http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=56671) in erster Lesung angenommen wurde. Im Unterschied zu den zuvor verabschiedeten Neufassungen von Einzelwahlgesetzen handelt es sich hierbei um eine einheitliche Kodifikation, die nicht nur den Gesetzesrahmen für Parlamentswahlen, sondern auch für Kommunalwahlen und Präsidentschaftswahlen sowie für die Arbeit der Zentralen Wahlkommission und für das zentrale Wählerregister absteckt. Die Wahlgesetzgebung soll somit insgesamt harmonisiert werden. Die Annahme des von den Abgeordneten Andrij Parubij, Leonid Jemez (beide von der Partei Volksfront) und Oleksandr Tschernenko (Block Petro Poroschenko) eingebrachten Wahlgesetzentwurfs, der für Parlamentswahlen eine Verhältniswahl und die Einführung "offener" Listen in regionalen Wahlkreisen vorsieht, kam vor allem deshalb überraschend, weil nur 124 der insgesamt 226 Stimmen für den Entwurf von der Regierungskoalition kamen (siehe Externer Link: http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/radan_gs09/ns_golos?g_id=15333). Skeptische Beobachter des Prozesses gingen aufgrund des untypischen Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten davon aus, dass es sich beim Votum des Parlaments um einen "Unfall" gehandelt habe und dass vor allem Abgeordnete des Oppositionsblocks sowie Träger von Direktmandaten nur deshalb für den Entwurf gestimmt hätten, weil sie davon überzeugt gewesen seien, dass dieser ohnehin nicht angenommen werde. Gleichzeitig machte sich schnell auch Ernüchterung breit, nachdem bekannt wurde, dass nach der Annahme in erster Lesung mehr als 4000 Änderungsanträge zum Entwurf des Wahlgesetzbuchs eingebracht wurden. Diese Änderungsanträge werden nun von einer Arbeitsgruppe bearbeitet, die der zuständige Ausschuss für Rechtspolitik und Justiz im April 2018 eingesetzt hat. Bis Ende Mai hatte diese Arbeitsgruppe etwa 300 Änderungsanträge bearbeitet. Erst wenn die Arbeitsgruppe alle Änderungsanträge geprüft und dem Ausschuss eine entsprechend überarbeitete Version des Entwurfs vorgelegt hat, wird dieser über den überarbeiteten Entwurf abstimmen müssen, bevor eine Vorlage im Parlament für die zweite Lesung erfolgen kann. Die parlamentarische Geschäftsordnung der Werchowna Rada sieht dabei keine Fristen vor, bis wann eine Befassung im Ausschuss oder auch im Parlamentsplenum erfolgen muss.

Strittige Punkte im Entwurf des Wahlgesetzbuchs

Die hohe Anzahl an Änderungsanträgen, die nach der ersten Lesung zum Entwurf des Wahlgesetzbuches eingebracht wurden, kann als taktische Maßnahme interpretiert werden, die den Gegnern der Reform dazu dient, den Reformprozess auszubremsen. Gleichzeitig muss jedoch auch konstatiert werden, dass der Entwurf des Wahlgesetzbuches bereits 2010 verfasst worden ist und somit in vielen Bestimmungen änderungsbedürftig ist, da diese nicht mehr im Einklang mit der aktuellen Gesetzgebung und dem politischen Kontext stehen, in dem sich die Ukraine mittlerweile befindet. Hierzu gehören zum Beispiel Bestimmungen zu Beschwerdeverfahren, zum Prozedere der Wählerregistrierung sowie zur Frage, wie Binnenflüchtlinge von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen sollen. Darüber hinaus gibt es mit Blick auf die im Entwurf des Wahlgesetzbuchs angeführten Bestimmungen zur Wahl des Parlaments mehrere zentrale Streit- beziehungsweise Kritikpunkte.

Hierzu gehört unter anderem die Frage nach der Höhe der Sperrklausel und der Möglichkeit von unabhängigen Kandidaten, an Parlamentswahlen teilzunehmen. Im Zuge der Parlamentswahlgesetzgebung von 2011 wurde die Sperrklausel von 3 auf 5 Prozent erhöht. Höhere Sperrklauseln lassen größere Parteien profitieren und verringern die Chancen von kleinen Parteien. Der Entwurf des Wahlgesetzbuches sieht nun eine Sperrklausel von 4 Prozent vor. Gleichzeitig sieht der Entwurf keine Möglichkeiten für unabhängige Kandidaten vor, an den Wahlen teilzunehmen. Letztlich würden somit vor allem die etablierten Parteien mit gut entwickelten Strukturen in den Regionen gestärkt.

Ein weiterer strittiger Punkt stellt die Frage nach den Möglichkeiten von Frauen dar, ins Parlament gewählt zu werden. Der gegenwärtige Frauenanteil in der Werchowna Rada von nur etwa 12 Prozent gehört zu den niedrigsten in Europa. Eine Änderung des Wahlsystems könnte durch die Abschaffung der Mehrheitswahl von Direktkandidaten positive Effekte auf ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis im Parlament haben. Gleichzeitig führen "offene" Listen aber tendenziell auch dazu, dass die Wahlchancen von Frauen geschmälert werden. Gleiches trifft auf Minderheiten oder auch auf Technokraten zu. Die aktuelle Gesetzgebung hat nur sehr schwache Bestimmungen, um die Wahlchancen von Frauen zu erhöhen. Parteilisten müssen demnach zu mindestens 30 Prozent aus Männern und Frauen bestehen. Sanktionsmechanismen bei Verstößen gibt es nicht. Zudem gibt es keine Vorschriften darüber, auf welchen Listenplätzen Frauen beziehungsweise Männer platziert werden müssen. Der Entwurf des Wahlgesetzbuches verspricht hier Besserung, indem er vorsieht, dass nur drei von fünf Kandidaten auf den "offenen" regionalen Parteilisten das gleiche Geschlecht haben dürfen. Daraus würde sich eine Frauenquote von mindesten 40 Prozent für die regionalen Parteilisten ergeben. Nichtsdestotrotz ergeben Simulationen, die auf der Basis der Wahlergebnisse von 2014 erstellt wurden, dass auch diese Bestimmungen den tatsächlichen Frauenanteil in der Werchowna Rada im ungünstigsten Fall lediglich auf 20 Prozent erhöhen würden (siehe dazu Externer Link: https://gallery.mailchimp.com/8a39d40b8b64140d1e69644f5/files/ab763f52-22e3-41ef-8f73-a462fb9b5a4b/IFES_Ukraine_Reynolds_and_Kovryzhenko_Report_on_ Open_List_PR_v1_2018_04_18_Eng.pdf).

Umstritten ist drittens das vorgesehene Verfahren, nach dem Stimmen in Parlamentssitze umgewandelt werden. Im Unterschied zu den meisten Parlamentswahlsystemen sieht der Entwurf des ukrainischen Wahlgesetzbuches nicht vor, dass die Anzahl der Sitze, die eine Partei in einer Region gewinnen kann, von der dortigen Anzahl der Wahlberechtigten abhängt. Vielmehr spricht sich der Entwurf dafür aus, dass sich die Anzahl der Parlamentsmandate, die einer Partei in einer Region zusteht, an der Anzahl der abgegebenen Stimmen in der Region bemisst. Dies würde Landesteile mit hoher Wahlbeteiligung über- und Landesteile mit niedrigerer Wahlbeteiligung unterrepräsentieren. In der gegenwärtigen Situation negativ betroffen wären dementsprechend vor allem die Oblaste Donezk und Luhansk sowie die Oblast Cherson, der im Entwurf des Wahlgesetzbuches die Autonome Republik Krim zugeordnet wird. In diesen drei Regionen wäre aufgrund von Binnenflucht im Zusammenhang mit dem Krieg im Donbas sowie mit der Annexion der Krim die Anzahl der registrierten Wahlberechtigten deutlich höher als die Zahl derer, die derzeit tatsächlich an einer Parlamentswahl teilnehmen könnten.

Ausblick

Die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit "offenen" Parteilisten in regionalen Wahlkreisen bei Parlamentswahlen ist nach wie vor eine der entscheidenden Reformen, die zu einer nachhaltigen Demokratisierung der Ukraine führen können. Ob rechtzeitig vor den nächsten regulären Parlamentswahlen im Oktober 2019 eine Änderung des Wahlsystems erfolgen wird, ist sehr ungewiss. Die Venedig-Kommission des Europarats empfiehlt, dass Änderungen des Wahlsystems spätestens ein Jahr vor einer Wahl vorgenommen werden sollten. Dadurch, dass ein entsprechendes Einzelwahlgesetz für Parlamentswahlen vom Parlament im Oktober 2017 abgelehnt worden ist, gleichzeitig jedoch ein komplexes Wahlgesetzbuch in erster Lesung angenommen wurde, hat sich die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine entsprechende Änderung des Wahlsystems noch in diesem Jahr verabschiedet wird. Gleichwohl bietet das Wahlgesetzbuch die Möglichkeit, die bisherigen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu harmonisieren. Mit Blick auf die vorgesehene Abschaffung des gemischten Wahlsystems bleibt dabei festzuhalten, dass diese Abschaffung zu einer besseren Abbildung des Wählerwillens führen und gleichzeitig den Spielraum für politische Korruption und den Einsatz administrativer Ressourcen einschränken kann.

Allerdings stellt die bloße Veränderung des Wahlsystems kein Allheilmittel dar, um den Schwächen und Problemen des politischen Systems der Ukraine zu begegnen. Schließlich muss jedes Wahlsystem immer auch in seinem politischen Gesamtkontext betrachtet werden. Damit eine Veränderung des Wahlsystems hin zu einer reinen Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen letzten Endes nicht lediglich zu einer stärkeren Verlagerung der politischen Korruption von der nationalen auf die regionale Ebene führt und damit nicht administrative Ressourcen zukünftig genutzt werden, um bestimmten Kandidaten (dann nicht mehr als Direktkandidaten, sondern als Kandidaten in "offenen" Parteilisten) Vorteile zu verschaffen, bedarf es vor allem auch einer stärkeren gesetzlichen Reglementierung des Wahlkampfes und der Wahlkampffinanzierung. Ebenso sind bessere gesetzliche Rahmenbedingungen notwendig, um Verstöße gegen die Wahlgesetzgebung strafrechtlich verfolgen und bestrafen zu können. Ein entsprechender Gesetzentwurf mit der Nummer 8270 (siehe Externer Link: http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=63864), an dem Wahlrechtsexperten der ukrainischen Nichtregierungsorganisation OPORA mitgearbeitet haben, wurde kürzlich im Parlament registriert. Er sieht vor, bisherige Gesetzeslücken zu schließen, und soll der bislang bestehenden faktischen Straflosigkeit von schwerwiegenden Wahlrechtsverstößen begegnen.

Wichtig für die Institution freie und faire Wahlen wird darüber hinaus die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Zentralen Wahlkommission sein. Bereits seit Juni 2014 sind die an sich auf sieben Jahre festgesetzten Amtszeiten von 13 der insgesamt 15 Mitglieder der Zentralen Wahlkommission abgelaufen. Zwar hat Präsident Poroschenko im Februar 2018 eine Liste mit Neunominierungen eingereicht, die im April 2018 vom zuständigen Parlamentsausschuss zur Abstimmung in der Werchowna Rada gebilligt wurde. Diese Liste schafft allerdings nicht die Voraussetzungen für eine politisch balancierte Zusammensetzung der Kommission, die für eine ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen eine Schlüsselrolle spielt: Erstens enthält die Vorschlagsliste des Präsidenten keinen Vertreter des Oppositionsblocks, der derzeit drittstärksten Fraktion im Parlament. Zweitens sind zwar alle anderen Fraktionen und Gruppen in der Vorschlagsliste Poroschenkos vertreten, allerdings könnte die Präsidentenpartei am Ende dennoch sieben der 15 Mitglieder der Zentralen Wahlkommission kontrollieren. Die Vorschlagsliste des Präsidenten ist bislang allerdings selbst innerhalb der Regierungskoalition nicht mehrheitsfähig: Anfang Juli weigerte sich Poroschenkos Koalitionspartner Volksfront, die Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission im Parlament zu unterstützen. Da die Vorschlagsliste Poroschenkos einen Kandidaten zu viel enthält, fürchtet die Partei von Arsenij Jazenjuk, dass einer ihrer insgesamt drei Kandidaten in einer Kampfabstimmung im Parlament das Nachsehen haben könnte. Wie dieser Konflikt um die Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission aufgelöst wird, ist unklar. Eine in Bezug auf die Parteien einseitig zusammengesetzte Zentrale Wahlkommission würde die Zweifel an der Institution Wahlen in der Bevölkerung sowie das Misstrauen zwischen den politischen Akteuren verstärken.

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Fussnoten

Steffen Halling ist Doktorand an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er forscht zu Oligarchen in der Ukraine und ihren Legitimationsstrategien. Für die "European Platform for Democratic Elections" (EPDE) beobachtet er die ukrainische Wahlrechtsreform (Externer Link: https://www.epde.org/en/documents/category/ukraine.html).