Einleitung
Seit 2014 sind mehr als 3,8 Millionen Menschen vom bewaffneten Konflikt in der Ostukraine betroffen. Mehr als 1,7 Millionen Menschen, die aus dem Donbass und von der Krim stammen, sind zu Binnenflüchtlingen geworden. Infolge des anhaltenden militärischen Konflikts im Osten der Ukraine und infolge der Binnenvertreibung kommt es zu Spannungen zwischen Binnenflüchtlingen und einigen der aufnehmenden Gemeinden. Darüber hinaus sind in den Gemeinden, die durch die Frontlinie zwischen den von der ukrainischen Regierung kontrollierten und den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten in den Regionen Donezk und Luhansk getrennt wurden, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vertrauen dramatisch zurückgegangen.
Bisher haben die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und die Verhandlungen auf höchster politischer Ebene in Minsk den wissenschaftlichen und politischen Diskurs über die Lösung des Konflikts bestimmt. Gleichzeitig wird zivilgesellschaftlichen Gruppen, die im Rahmen des Konflikts auf Dialog und Versöhnung hinarbeiten, von der ukrainischen Regierung und großen Teilen der Bevölkerung häufig der Vorwurf gemacht, unpatriotisch und von Russland beeinflusst zu sein. Es gibt jedoch viele Gründe, den Bottom-up-Aktivitäten lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen und informeller Netzwerke, die sich für Dialog und Versöhnung in der Ostukraine einsetzen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Rolle lokaler Versöhnungsbemühungen
Während die Verhandlungen auf höchster Ebene und die Durchsetzung des Friedensabkommens Minsk II im Hinblick auf entscheidende Elemente ins Stocken geraten sind, können lokale Versöhnungsbemühungen erstens dazu beitragen, Spannungen in Risikogebieten abzubauen, den Boden für eine zukünftige politische Vereinbarung zu bereiten, auf die Bedürfnisse und Sorgen der lokalen Gemeinden, die vom Konflikt betroffen sind, einzugehen und Versöhnung zwischen Gruppen und Gemeinden, die vom Konflikt auseinandergerissen wurden, zu fördern. Lokale zivilgesellschaftliche Organisationen können "eine andere Form der Kriegsgeschichte" vorbringen, die sich vielleicht nicht nur deutlich davon unterscheidet, wie Top-down-Akteure (Regierungen, internationale Gemeinschaft) den Konflikt deuten, sondern vielleicht auch die vorherrschenden Narrative von Konflikt, Teilung und Misstrauen in Frage stellt. Die Narrative der zivilgesellschaftlichen Organisationen können eine Form des Widerstands darstellen, insbesondere gegen Teilung und Unvereinbarkeit, die möglicherweise von den politischen und militärischen Eliten favorisiert werden.
Zweitens können die Bottom-up-Narrative der ukrainischen zivilgesellschaftlichen Organisationen den zunehmend technokratischen Ansatz der Friedensförderung, der von internationalen NGOs oder internationalen Organisationen verfolgt wird, in Frage stellen. Viele Versöhnungsprogramme wurden als "Best Practices" oder "Lessons Learned" zur Norm erklärt. Derartige Programme führen oft zu positiven Ergebnissen, aber sie stärken die Vorstellung, dass "Expertise" stets von außen kommt und dass lokale Akteure passive Empfänger sind, denen die Kraft fehlt, ohne Hilfe ihren eigenen Weg zu gehen.
Und drittens wurden die Entscheidungen bei den Minsker Verhandlungen, wie bei vielen Friedensverhandlungen, hinter geschlossenen Türen getroffen. Auch wenn zu verstehen ist, dass ein Friedensprozess Vertraulichkeit erfordert: Wenn versäumt wird, die Öffentlichkeit und die direkt betroffenen Gemeinden zu informieren und einzubeziehen, kann das die Versöhnungsbemühungen unterlaufen.
Befragung lokaler NGOs zum Konflikt in der Ukraine
Ukrainische zivilgesellschaftliche Organisationen spielen daher eine entscheidende, jedoch weitgehend nicht anerkannte Rolle bei der Diskussion des Friedens in der Öffentlichkeit und beim Einbeziehen der Bevölkerung in den Friedensprozess. Im Rahmen unseres laufenden Forschungsprojektes zur Rolle von NGOs bei der Förderung von Versöhnung in der Ostukraine haben wir uns zwischen November 2016 und Dezember 2017 mit Vertretern von 32 lokalen ukrainischen zivilgesellschaftlichen Organisationen getroffen, um deren Ansichten zum Konflikt in der Ukraine zu erfahren und um deren Ideen dazu, wie Versöhnung am besten erreicht werden kann, besser zu verstehen. Es handelt sich dabei um führende zivilgesellschaftliche Organisationen, die in der Förderung von Dialog und Versöhnung in der Ostukraine und in anderen Teilen des Landes, in denen Binnenflüchtlinge, die vorwiegend aus dem Donbass stammen, aufgenommen wurden, tätig sind. Für die Auswahl der Organisationen war entscheidend, dass sie einen ausdrücklichen Schwerpunkt auf die Versöhnungstätigkeit legen, dass sie entweder über die Front hinweg oder in Gemeinden mit vielen Binnenflüchtlingen tätig sind und dass sie keine regelmäßigen Gelder und/oder höhere Summen (über 30.000 EUR) von nationalen, internationalen oder privaten Geldgebern beziehen. Die Namen der Organisationen werden hier nicht genannt, um ihre Arbeit nicht zu gefährden.
Die Vertreter der Organisationen, die wir befragt haben, beteiligen sich nicht an einem Diskurs der "Beschuldigung" eines externen Akteurs (oder Staates) als Verantwortlichem für den Konflikt. Sie vertreten vielmehr eine gemeinsame Erkenntnis: dass der Konflikt "kompliziert" sei, da "verschiedene Positionen" von "unterschiedlichen Beteiligten" aufeinandergetroffen seien. Ein Vertreter einer zivilgesellschaftlichen Organisation merkt allerdingt an, dass die EU-Eliten, obwohl sie "den Konflikt gut verstehen" und ihnen der hohe Grad an Korruption in der ukrainischen Regierung "sicher bewusst" sei, "weiter mit diesen Menschen zusammenarbeiten, ohne signifikanten Druck auf sie auszuüben". Mehrere Organisationen erwähnen auch die Rolle des ukrainischen Staates und weisen darauf hin, dass es nie eine staatliche Politik gegeben habe mit dem Ziel, "Austausch" zu fördern oder eine "gemeinsame Basis" der Menschen aus dem "Osten" und dem "Westen" zu finden, was zum "Fehlen jeglicher Art von Kommunikation zwischen Gemeinden in unterschiedlichen Regionen der Ukraine" geführt habe.
Wir haben unsere Befragten auch gebeten, über die Faktoren und Akteure nachzudenken, die sie als relevant für die Lösung des Konflikts erachten. Die Vertreter der zivilgesellschaftlichen Organisationen sind sich einig, dass es bei der Versöhnung im Ukrainekonflikt zuallererst darum geht, neue Beziehungen zu erkunden und etablierte Diskursmuster aufzubrechen. Ein besonderes Augenmerk wird darauf gerichtet, den "friedlichen Diskurs" wiederaufzubauen, sowie darauf, "Menschen zusammenzubringen" und sie in Bezug auf "etwas Neutrales" zusammenzuführen, sowie darauf, "das Feindbild von einem anderen Menschen durch Dialog umzuformen". Dialog wird als der absolut wichtigste Aspekt bei der Versöhnung gesehen, weil er dazu beiträgt, Empathie zwischen den Menschen wiederherzustellen, das Leben des anderen zu verstehen und zu erfahren, wie andere Menschen den Konflikt erleben. Die Vertreter der Organisationen sind sich einig, dass Schuldzuweisungen eher Teil der Konfliktursache sind als Mittel zur Versöhnung. Die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen sind der Ansicht, dass die einzig realistische und durchführbare Art der Versöhnung zum jetzigen Zeitpunkt des Konflikts darin besteht, eine Vereinbarung zu treffen, dass das gegenseitige Töten beendet wird, und darin, neue Beziehungen aufzubauen.
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen unterscheiden sich in ihren Ansichten darüber, wie eine Versöhnung erreicht werden kann. Etwa die Hälfte unserer Befragten hält die einzelnen Menschen für die entscheidenden Akteure im Versöhnungsprozess. Ein Vertreter sagt zum Beispiel: "Jeder Mensch ist ein Handelnder für Veränderung". Die andere Hälfte der Teilnehmer betont die wichtige Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Ermöglichung von Aussöhnung. Die Organisationen spielten eine entscheidende Rolle bei der "Initiierung und Unterstützung der gesellschaftlichen Forderung nach Frieden". Mehrere Befragte erkennen außerdem an, dass "für die Versöhnung eine ernsthafte Unterstützung von höchster Ebene" nötig sei, um den Konflikt zu beenden und um den Versöhnungsprozess zu einem nachhaltigen Prozess zu machen. Die Befragten unterstreichen, "das Mindeste", das die hohe Politik tun könne, sei, die Bottom-up-Versöhnungsbemühungen "nicht zu behindern". Auf die Frage nach der Rolle der internationalen Organisationen und der Gebergemeinschaft angesprochen, ist es den meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen wichtig, die Teilnahme der Organisationen an von der UNO, der OSZE oder von den mit den EU-Mitgliedsstaaten assoziierten Gebern organisierten Fortbildungen und Workshops zu erwähnen. Auf die Frage nach der Anwendbarkeit von Expertenwissen und Versöhnungsmodellen "von außen" erklären die Befragten jedoch, sie würden "in anderen Bereichen mit anderen Mitteln arbeiten", oder geben an, dass die Beziehung zwischen der Zivilgesellschaft und den internationalen Gebern "mängelbehaftet" sei.
Fazit
Unsere Befragung von Vertretern lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen bringt eine andere Art des Erzählens vom Konflikt in der Ukraine und von seiner Lösung zum Vorschein und stellt alternative Wege zur Förderung von Dialog und Versöhnung auf lokaler Ebene vor, wie zum Beispiel das Wiederherstellen von Verständnis, Vertrauen, Respekt und Empathie zwischen den Menschen. Derartige Versuche, "den anderen zu rehumanisieren", sind (und werden) essenziell für einen nachhaltigen Frieden in der Ukraine sein. Obwohl die Aktivitäten von lokalen Versöhnungsorganisationen in Umfang und Reichweite begrenzt sind, haben sie häufig erhebliche Auswirkungen auf Versöhnungsprozesse. Im Unterschied zu den dominierenden Friedensstiftungsparadigmen und -programmen, die von vielen internationalen Organisationen und Akteuren gefördert werden, entstehen die Mediationsstrategien und -praktiken der lokalen ukrainischen zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihren besonderen lokalen Zusammenhängen und sind auf Versöhnung in diesen Zusammenhängen zugeschnitten.
Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz
Lesetipps:
Ganna Bazilo und Giselle Bosse: Talking Peace at the Edge of War: Local Civil Society and Reconciliation in eastern Ukraine, in: Kyiv-Mohyla Law and Politics Journal 3 (2017), S. 91–116.
Alena Douhan: International Organizations and Settlement of the Conflict in Ukraine, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 75 (2015), S. 195–214.
Roger Mac Ginty und Pamina Firchow: Top-Down and Bottom-Up Narratives of Peace and Conflict, in: Politics 36 (3)/2016, S. 309.
Sylvia Rognvik: Dialogue Facilitation. Norwegian Centre for Human Rights 2016, Externer Link: http://www.jus.uio.no/smr/english/about/programmes/nordem/publications/nordemthematicpaper_oscesmm_dialogue-facilitation.pdf.