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Analyse: Zivilgesellschaft nach dem Euromaidan: Vom Ehrenamt zu neuen Strukturen der Partizipation? | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Zivilgesellschaft nach dem Euromaidan: Vom Ehrenamt zu neuen Strukturen der Partizipation?

Dr. Susann Worschech Frankfurt (Oder)) Von Susann Worschech (Europa-Universität Viadrina

/ 12 Minuten zu lesen

Die Zivilgesellschaft in der Ukraine hat sich nach dem Euromaidan stark gewandelt und zeichnet sich heute durch deutlich höheres freiwilliges Engagement aus. Diese Analyse gibt einen Überblick über die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Freiwilligenarbeit und ihre gesellschaftspolitische Relevanz.

Freiwillige harken und fegen den Platz um die "Heavenly Hundred Heroes Alley" in Kiew. (© picture alliance/ZUMA Press)

Zusammenfassung

Seit dem Euromaidan hat die ukrainische Zivilgesellschaft einen grundlegenden Wandel erfahren. Waren es bis zum Euromaidan vor allem professionell arbeitende Nichtregierungsorganisationen mit festangestellten Mitarbeiter*innen und einige Aktivist*innen, die das Bild der Zivilgesellschaft geprägt haben, zeichnet sich die Posteuromaidan-Zivilgesellschaft durch deutlich höheres freiwilliges Engagement aus. In diesem Artikel sollen einige Bereiche dieser neuen Volontärs-Zivilgesellschaft vorgestellt und bezüglich ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz analysiert werden.

Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass die Ukraine in den ersten Monaten des Jahres 2014 kurz vor einem Staatszerfall stand. Eine Gesellschaft in Trauer und Schock über das blutige Ende des Euromaidan, die Nacht-und-Nebel-Flucht des Nochpräsidenten und schließlich der anfangs noch verdeckte Einmarsch des russischen Militärs auf der Krim. Diese Ereignisse brachten das Land an den Rand der Organisationsfähigkeit. Die beginnende militärische Aggression Russlands zunächst auf der Krim und bald auch in Teilen des Donbas kam nicht nur in einer Phase der institutionellen Orientierungslosigkeit, sondern traf auch auf ein verteidigungsunfähiges ukrainisches Militär (Friesen 2016). Initiativen von Freiwilligen ist es zu verdanken, dass die Ukraine insbesondere in der prekären Zeit zwischen März und Mai 2014 nicht vollends zusammenbrach, sondern sich auf der Basis freiwilliger Arbeit schnell funktionsfähige Äquivalente für einen dysfunktionalen Staat bildeten. Insbesondere in den Bereichen Verteidigung und innere Sicherheit, aber auch bezüglich der Versorgung von Binnenflüchtlingen von der Krim und aus dem Donbas ersetzten zivilgesellschaftliche Akteure staatliche Strukturen (Meister 2014). Zudem formierten sich Gruppierungen, die russischer Propaganda gezielt Informationen und Analysen entgegensetzten und die Aufarbeitung von geheimdienstlichen, wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen der Janukowytsch-Ära einforderten. Beeindruckend an diesen Gruppen ist nicht nur die Geschwindigkeit, in der sie sich formiert und genuin staatliche Aufgaben übernommen haben, sondern insbesondere, dass es sich weitgehend um freiwilliges, ehrenamtliches Engagement handelte. Das tragische Ende des Euromaidan und die russische Aggression gegen die Ukraine sind damit zum Geburtshelfer einer neuen, engagementbasierten ukrainischen Zivilgesellschaft geworden. Zwei der zentralen Kristallisationspunkte dieser neuen ukrainischen Zivilgesellschaft waren jene Bereiche, die unmittelbar mit der russischen Aggression zusammenhängen: die Unterstützung der Binnenflüchtlinge und des ukrainischen Militärs. Gruppierungen beider Themenbereiche sollen im Folgenden porträtiert und bezüglich ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz analysiert werden.

Veränderung der Engagementkultur

Eine Kultur des ehrenamtlichen Engagements war in der Ukraine lange Zeit nicht wirklich vorhanden. Zwar wäre es falsch, zu behaupten, die Zivilgesellschaft in der Ukraine sei traditionell schwach, wie dies in zahlreichen Analysen zum postsowjetischen Raum behauptet worden ist (am prominentesten bei Howard 2003), denn die Ukraine kann auf eine lange Geschichte dissidentischer Bewegungen und Protestformationen zurückblicken: Von Protesten gegen die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur während der Sowjetzeit über die prodemokratische, reformorientierte Bewegung Ruch bis hin zur Orangenen Revolution und dem Euromaidan gibt es kaum ein Land im postsowjetischen Raum mit einer derartigen Vielfalt an revolutionären Momenten (Kappeler 2009: 242ff). Allerdings gingen diese Momente selten in dauerhaftes Engagement oder gar in einen größeren Übertritt prodemokratischer Kräfte in Institutionen und Verwaltung über. Die lebhafte Zivilgesellschaft der Ukraine entwickelte sich – auch aufgrund der Präferenzen externer Demokratieförderer, die ihre Aktivitäten ausweiteten – in eine von Politik und Gesellschaft mehr oder weniger entkoppelte NGO-Szene (Worschech 2018). Professionell arbeitende Think-Tanks und Agenturen zur Projektimplementierung wurden zur dominanten Ausprägung der Zivilgesellschaft, wohingegen lokale Initiativen und Netzwerke kaum in Erscheinung traten.

Der Euromaidan änderte diese Strukturen grundlegend, denn neben den eigentlichen Protesten bot der Euromaidan zahlreiche Gelegenheiten – und teils Notwendigkeiten – zum Engagement. Die Versorgung der Zeltstadt mit Nahrungsmitteln und ärztlicher Behandlung, die Organisation öffentlicher Seminare und Debatten und das interne wie externe Kommunikations- und Informationsmanagement fand in zunehmend organisierten Strukturen ehrenamtlicher Mitarbeit statt. Mit der wachsenden Repression bildeten sich parallel dazu ehrenamtliche Notfall- und Verteidigungseinheiten zum Schutz der Proteste vor Polizeiwillkür und -gewalt.

Die während des Euromaidan entstandenen Strukturen, sicher aber auch die Empowerment-Erfahrung vieler Ukrainer*innen, stellen die zentrale Basis für das Posteuromaidan-Engagement der ukrainischen Zivilgesellschaft dar. Zahlreiche der hier gegründeten Initiativen sind bis heute aktiv. Aber auch gesamtgesellschaftlich betrachtet war der Euromaidan ein einschneidender Veränderungsmoment für die ukrainische Zivilgesellschaft: Vor dem Euromaidan gaben nur 9 Prozent der Ukrainer*innen an, Geld für gemeinnützige Zwecke zu spenden, wohingegen es 2014 38 Prozent waren und die Zahl auch in folgenden Jahren mit knapp 30 Prozent signifikant höher blieb als vor dem Euromaidan. (siehe World Giving Index, Externer Link: https://www.cafonline.org/about-us/publications) Der Anteil der Ukrainer*innen, die sich ehrenamtlich engagiert haben, betrug vor dem Euromaidan 14 Prozent und liegt seit dem Beginn der Proteste bei 23 Prozent (Zarembo 2017: 48). Zugleich genießen Freiwilligenorganisationen sehr hohes Vertrauen in der ukrainischen Bevölkerung, was gegenüber der organisierten Prämaidan-Zivilgesellschaft so nicht zum Ausdruck gebracht wurde. (siehe Externer Link: http://ukr.lb.ua/society/2016/05/12/335037_ukraintsi_doviryayut_volonteram.html)

Das quantitativ gestiegene freiwillige Engagement beschreibt aber kaum den eigentlichen Wandel, der in der ukrainischen Zivilgesellschaft stattgefunden hat. Dieser besteht vielmehr darin, dass die Zivilgesellschaft in einer Notsituation Aufgaben übernommen hat, die eigentlich im genuinen Verantwortungsbereich des Staates liegen. Daraus ist eine selbstbewusste Gesellschaft erwachsen, die aber auch ambivalente Seiten hat, wie der nächste Abschnitt zeigt.

Zivilgesellschaftliche Unterstützung des Militärs

Die Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine durch das russische Militär bzw. durch von diesem unterstützte Separatisten traf nicht nur auf eine zutiefst verunsicherte und desorientierte Gesellschaft, die kaum glauben konnte, was vor sich ging, sondern auch auf eine ukrainische Armee, von der gerade einmal 4 Prozent der Soldat*innen überhaupt mit der notwendigen Ausrüstung, etwa mit Helmen und schusssicheren Westen, ausgestattet waren (Zarembo 2017: 47). Langjährige Korruption und Misswirtschaft im ukrainischen Verteidigungsministerium während der Janukowytsch-Ära haben das ukrainische Militär praktisch handlungsunfähig gemacht. Parallel zu den freiwilligen Kampfeinheiten, die meist aus den Selbstverteidigungsgruppen der Euromaidan-Proteste entstanden, formierten sich Organisationen, deren Ziel es war, die ukrainische Armee mit grundlegender medizinischer Ausstattung oder Schutzausrüstung zu versorgen (Puglisi 2015). Viele der Gruppierungen waren lokal ansässige Netzwerke von Angehörigen der Kämpfer, oftmals gerade auch in Städten und Regionen, die nicht allzu weit von der Front entfernt liegen.

Wenngleich eine Festlegung auf die genaue Anzahl dieser Unterstützungsorganisationen problematisch ist, lässt sich eine Gruppe von etwa 20 Initiativen ausmachen, die seit 2014 besonders aktiv waren und landesweit bekannt sind. Die Hauptaktivitäten dieser Organisationen lagen vor allem in der Zeit zwischen 2014 und 2015 in der Versorgung des ukrainischen Militärs und anfangs auch der Freiwilligenbataillone mit Schutzausrüstung und medizinischen Gütern, zum Teil aber auch mit Kleidung, Decken, Lebensmitteln, Büchern oder sogar Zigaretten. Dafür sammeln die Organisationen Sach- und Geldspenden oder fertigen Schmuck und T-Shirts, deren Verkaufserlöse für die Anschaffung von Ausrüstung eingesetzt werden. Eine besondere Aktivität kennzeichnet die Victory Sisters Foundation: Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von Frauen, die 2014 in einem Raum im Zentrum Kiews begonnen hat, in Handarbeit Tarnanzüge herzustellen. Die Informationen über diese und die im Folgenden genannten Organisationen stammen von deren Internetauftritten. Tabelle 1 am Ende des Textes gibt einen Überblick über NGOs und Initiativen zur Unterstützung des Militärs.

Sechs der prominenteren Organisationen lassen sich in ihrer Entstehungsgeschichte direkt auf den Euromaidan zurückführen: Die Iniziatywa E+ und MedAutoMaidan – eine Gruppierung, die sich später bei Saving Lives in Ukraine engagierte – beispielweise organisierten medizinische Unterstützung während der Proteste. Volunteers’ Hundred und die NGO ATO Sister of Mercy basieren auf Selbstverteidigungsgruppen der Euromaidane in Kiew und Charkiw, und die Organisation People’s Self-Defense of Lviv organisierte Transporte für Aktivist*innen aus der Westukraine, die an den Protesten in Kiew teilnehmen wollten.

Daneben haben zwei Projekte – das Joint Army Support Project und die Crowdfunding-Plattform People’s Project – ihre Wurzeln in NGOs, die schon vor dem Euromaidan bestanden. Dies zeigt, dass auch sozial bzw. humanitär ausgerichtete NGOs ihre Agenden und Ressourcen neu ausrichten und an die Posteuromaidan-Situation anpassen konnten, was für ein schnelles Umdenken und Umorganisieren auch der professionalisierten Zivilgesellschaft in der Posteuromaidan-Ukraine spricht.

Der Höhepunkt der Aktivitäten dieser Gruppen und des freiwilligen Engagements lag in den Jahren 2014 und 2015, als die mangelhafte Fähigkeit des ukrainischen Staates zur Ausstattung seines eigenen Militärs offensichtlich war. Die Freiwilligenorganisationen substituierten in dieser Phase den Staat – in einem Kerngebiet seiner hoheitlichen Aufgaben. Nach Schätzungen von Aktivist*innen wurden beispielsweise mindestens 50 Prozent der heute im ukrainischen Militär verfügbaren Wärmebildkameras von Freiwilligenorganisationen beigesteuert (Zarembo 2017: 57).

Zu Beginn des Jahres 2016 zeichnete sich ein Wandel der Aktivitäten dieser Organisationen ab: Einerseits wurde die Aufgabe der Ausstattung zunehmend von der ukrainischen Regierung selbst übernommen, andererseits erlebten die Organisationen nach zwei Jahren intensiver Arbeit einen Rückgang in Bezug auf die ehrenamtlicher Tätigkeit und die öffentlichen Spenden. Stattdessen fand bei einigen Organisationen eine Umstellung der Finanzierungsbasis von Spenden auf Fördermittel statt. Damit einhergehend fokussierten sich die Organisationen stärker auf die folgenden zwei Bereiche: die soziale und/oder politische Unterstützung von Veteranen des Konfliktes sowie ihrer Familien einerseits und Schulungen von Militärangehörigen in medizinischer Erstversorgung oder Minenentschärfung andererseits. (Als Indikator für diesen Wandel kann unter anderem die Förderpraxis externer Akteure gelten. So hat beispielsweise die International Renaissance Foundation, die ukrainische "Filiale" der Open Society Foundation von George Soros, seit 2014 zunehmend Projekte zur Unterstützung von Soldat*innenfamilien und zur medizinischen und sozialen Nachsorge für ehemalige Soldat*innen finanziell unterstützt; siehe Externer Link: http://www.irf.ua/en/.)

Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der genannten Gruppen und ihres Engagements liegt nicht nur darin begründet, dass sie in einer akuten Notsituation staatliche Aufgaben übernommen und damit das große Potenzial zivilgesellschaftlichen Engagements verdeutlicht haben. Auch die lokale, nationale und transnationale Vernetzung der Initiativen ist bemerkenswert. Sie lässt eine bessere Einbindung des sozialen und politischen Engagements in die ukrainische Gesellschaft und die Entstehung eines neuen gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins erkennen.

Durch den klaren Fokus der Organisationen und Initiativen auf die Unterstützung der Armee, zu der zahlreiche Ukrainer*innen durch kämpfende Angehörige einen persönlichen Bezug hatten, war die Bereitschaft, durch eigenes Engagement die Situation zu verbessern, groß. Zugleich waren der Zugang zu den Organisationen und die Beteiligung an ihren Aktivitäten niedrigschwellig: Anders als bei professionalisierten zivilgesellschaftlichen Organisationen bedurfte es keiner besonderen Expertise, um aktiv zu werden. Viele der Initiativen sind klassische Graswurzel-Organisationen. Exemplarisch schreibt die Organisation Come back Alive (Powernys schywym) im Mai 2017 auf ihrer Homepage:

"Wir sind normale Ukrainer, die nicht gleichgültig sind. Wir waren Programmierer, Designer, Journalisten. Der Krieg hat alles verändert." (siehe Externer Link: http://www.savelife.in.ua, Übersetzung der Autorin)

Das starke Engagement von Bürger*innen sowie die nachhaltige, selbstbewusste Graswurzel-Zivilgesellschaft stellen die offensichtlichen Umbrüche und Neuorientierungen innerhalb der ukrainischen Zivilgesellschaft dar.

Zugleich lässt sich bei einigen Organisationen eine aktive Vernetzung in die politische und ökonomische Sphäre feststellen. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Organisation Patriot Defense, deren Gründerin und Leitung Ulana Suprun, eine US-amerikanische Ärztin mit ukrainischen Wurzeln, seit 2016 Gesundheitsministerin der Ukraine ist. Der Gründer der National Home Front Georgi Tuka wurde 2014 zunächst Parlamentsabgeordneter, 2015 Gouverneur des Oblasts Luhansk und 2016 Vizeminister für die besetzten Gebiete und Binnenflüchtlinge. Auch die Organisationen All-Ukrainian Union Patriot, Wings of Phoenix, der Ukrainian Freedom Fund, Volunteers’ Hundred und Support the Army of Ukraine verzeichnen direkte Verbindungen ihrer leitenden Personen in die ukrainische Politik und Wirtschaft. Damit setzt sich im Bereich des zivil-militärischen Engagements ein Muster fort, das bereits 2014 im Rahmen der ersten Parlamentswahlen nach dem Euromaidan erkennbar war (Worschech 2014) und das durchaus als Neuerung gelten kann: Eine stärkere Verbindung von Zivilgesellschaft und Politik, die vor dem Euromaidan in der Ukraine deutlich entkoppelt waren, weil Aktivist*innen jegliche Verbindungen mit der als abgehoben und korrupt geltenden Sphäre der Politik ablehnten.

SOS-Organisationen zur Unterstützung für Binnenflüchtlinge

Ein weiteres Feld, das mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine überhaupt erst aufgekommen ist, aber innerhalb kurzer Zeit viele freiwillige Helfer*innen mobilisiert hat, ist die Versorgung von und Interessensvertretung für Binnenflüchtlinge von der Krim und aus den Kriegsgebieten.

Stärker als der zivil-militärische Bereich konnten diese Initiativen aber auf bestehenden zivilgesellschaftlichen Strukturen aufbauen. Insbesondere sozial oder menschenrechtlich orientierte NGOs aus der Ostukraine und von der Krim, deren Mitglieder in den ersten Monaten des Jahres 2014 fliehen mussten und oftmals nach Kiew gegangen sind, bildeten das Rückgrat eines umfangreichen Netzwerks sogenannter "SOS-Organisationen" zum Schutz von Menschenrechten und zur medizinischen wie humanitären Versorgung in der Krisensituation 2013/14. EuromaidanSOS entstand bereits am 30.11.2013 als Reaktion auf die wachsende Repression gegenüber den Euromaidan-Protesten. Nach diesem Vorbild wurden im März 2014 DonbasSOS, VostokSOS und CrimeaSOS gegründet. Ziel dieser Initiativen war und ist es, Menschen bei der Flucht aus den besetzten Gebieten zu helfen, indem Informationen über sichere Fluchtwege, humanitäre Versorgung oder auch psychologische Hilfe zur Verfügung gestellt wird. Aktivist*innen dieser Organisationen waren zuvor beispielsweise in der Luhansker Menschenrechts-NGO Postup oder im Crimean Human Rights Center "Diya" engagiert und konnten ihre Arbeit und ihre Netzwerke sowohl räumlich als auch inhaltlich transformieren. Ein besonders beeindruckendes Beispiel für die effektive Arbeit der neuen SOS-Organisationen war das House of Free People, ein Servicezentrum für Binnenflüchtlinge im Zentrum Kiews. (zur Gründung des Zentrums siehe Externer Link: https://www.kyivpost.com/article/content/ukraine-politics/house-of-free-people-opens-in-kyiv-to-help-refugees-from-crimea-donbas-396032.html) Hier wurde Binnenflüchtlingen praktische Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche und in den Bereichen Ausbildung und psychologische Unterstützung geboten, zugleich diente das Zentrum als Anlauf- und Koordinierungsstelle für Ehrenamtliche. Das inzwischen beendete Projekt wurde von mehreren externen Gebern wie der EU oder auch der United States Agency for International Development (USAID) unterstützt. Besonders hervorzuheben ist auch in diesem Fall die Fähigkeit der organisierten, professionalisierten Zivilgesellschaft, ihre Aktivitäten einer neuen Situation anzupassen, und das starke ehrenamtliche Engagement in den SOS-Organisationen, welches erneut den hohen Aktivierungsgrad der ukrainischen Gesellschaft zeigt.

Einschätzung der "neuen" ukrainischen Zivilgesellschaft

Die Aktivitäten der ukrainischen Zivilgesellschaft seit dem Euromaidan weisen eine gewisse Ambivalenz auf. Einerseits ist es fraglos zu begrüßen, dass die Strukturen der Präeuromaidan-Zivilgesellschaft aufgebrochen werden konnten und sich mehr Menschen ehrenamtlich engagieren als zuvor. Auch das in Umfragen deutlich gewordene hohe Vertrauen in Freiwilligenorganisationen zeigt, dass die Selbstorganisationsfähigkeit und auch das Selbstbewusstsein einer bis dahin zeitweise resignierten Gesellschaft gestiegen sind. Der Initiativencharakter und die überwiegend ehrenamtliche Tätigkeit war für viele Organisationen ein wichtiges Element ihres Selbstverständnisses.

Andererseits ist es problematisch, dass viele Initiativen der "neuen" ukrainischen Zivilgesellschaft im Zuge eines militärischen Konflikts entstanden sind und genuin staatliche Aufgaben übernommen haben. Auch wenn letztere inzwischen überwiegend an staatliche Strukturen rückübertragen wurden, stellt sich die Frage, inwieweit diese Gruppen aktiv bleiben werden. Kann es gelingen, die Organisationsfähigkeit und den ehrenamtlichen Einsatz aufrechtzuerhalten und auf andere Inhalte zu übertragen? Gerade die Entstehung in einer akuten Notsituation und die starke emotionale Aufladung der Themenbereiche Verteidigung/Krieg und Flucht werfen die Frage auf, inwieweit die hier entstandenen Initiativen ihre Ausrichtung transformieren und an nichtkonfliktbezogene Kontexte anpassen können. Zugleich zeigen sich seit 2016 deutliche Erschöpfungserscheinungen der Initiativen, die oft mit einer Enttäuschung über die mangelnde Anerkennung ihrer Leistungen durch Staat und Regierung einhergehen. Es besteht die Gefahr, dass die Erfahrung der Wirksamkeit zivilgesellschaftlichen Engagements durch den andauernden Konflikt und den weiter bestehenden Reformstau verpufft.

Die Freiwilligenbewegung der Jahre 2014 und 2015 markiert einen tiefgreifenden Umbruch und eine wachsende Hoffnung für die ukrainische Zivilgesellschaft. Trotz aller Schwierigkeiten war sie ein erster Schritt hin zu einer Wiederaneignung des Staates und des Politischen durch die Bürger*innen. Der bedarfsorientierte, partizipative Aktivismus auf lokaler Ebene, die Kooperationsfähigkeit und Verantwortungsübernahme der Ukrainer*innen könnten sich langfristig positiv auf die Bereitschaft zu ehrenamtlichem politischem und gemeinwohlorientiertem Engagement auswirken, wenn der hier etablierte zivilgesellschaftliche Stil, auf akute Probleme durch lokale Vernetzung und Kooperation zu reagieren und Möglichkeitsfenster für Engagement und Partizipation zu entdecken, erhalten bleibt.

Im Text zitierte Literatur:

Fussnoten

Dr. Susann Worschech forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina zu Zivilgesellschaft, Protestbewegungen und Demokratisierung in Osteuropa, vor allem in der Ukraine. Kontakt: worschech@europa-uni.de

Eine noch umfassendere Analyse der ukrainischen Zivilgesellschaft nach dem Euromaidan hat Susann Worschech in ihrem Aufsatz New Civic Activism in Ukraine: Building Society from Scratch, der im Kyiv-Mohyla Law and Politics Journal 3 (2017) erschienen ist (S. 23–45) vorgenommen: Externer Link: http://kmlpj.ukma.edu.ua/article/view/119984.