Einleitung
Das zwischen 1970 und 1988 errichtete ukrainische Gastransitsystem (UGTS) besaß (abgesehen von einer Leitung nach Finnland) eine Monopolstellung für den Gasexport der Sowjetunion. Als nach deren Auflösung die Ferngasleitungen und Gasspeicher in den Besitz der ehemaligen Sowjetrepubliken überführt wurden, konnte die Ukraine den Gastransit von einer preisgünstigen Versorgung des ukrainischen Marktes abhängig machen, was zu einer Reihe von "Gaskrisen" führte. Dadurch wurde Gazprom zur Suche nach Alternativen zum UGTS motiviert. Erstmals entstand zwischen 1997 und 2005 mit der durch Belarus und Polen führenden "Jamal-Europa"-Gaspipeline eine Exportroute, die ukrainisches Territorium umging.
Der Anteil des Gastransits durch die Ukraine nahm weiter ab, als Gazprom zum Bau von offshore-Pipelines überging. Weil diese in geringerem Umfang auf geographische Gegebenheiten Rücksicht nehmen müssen, haben sie kürzere Streckenführungen als über Land verlegte Leitungen. Zudem können sie wegen ihrer kompakten Bauweise mit doppelt so hohem Druck betrieben werden, benötigen daher (außer am Einspeisepunkt) keine mit Gas betriebenen Kompressorstationen und haben deswegen geringere Gasverluste und Treibhausgasemissionen.
2003 gingen die Schwarzmeer-Pipeline "Blue Stream" und 2011/12 die beiden Stränge der "Nord Stream" in Betrieb. Außerdem reaktivierte Gazprom 2012 seine Pläne zur Verdoppelung der Kapazität der Ostseeleitungen durch die "Nord Stream 2" von 55 auf 110 Mrd. m³. Nachdem Gazprom 2014 auf Druck der EU die nach Bulgarien führende "South Stream" aufgeben musste, beschlossen Russland und die Türkei 2016 den Bau der "Turkish Stream" mit zwei Leitungssträngen, von denen einer die Türkei und der andere Südosteuropa versorgen soll.
2017 haben die EU-Länder rund 80 Mrd. m³ Erdgas und damit die Hälfte ihrer Gasimporte aus Russland über das UGTS bezogen, das außerdem die Balkanländer und die Türkei mit weiteren 14 Mrd. m³ versorgte. Ab 2020 wird nach der zu erwartenden Inbetriebnahme von Nord Stream 2 und Turkish Stream mit ihrer Gesamtkapazität von 86,5 Mrd. m³ die Bedeutung des UGTS für den Erdgasimport Europas weiter zurückgehen.
Geopolitik oder Kommerz?
Zwar wird durch Nord Stream 2 kein neuer Transportkorridor eröffnet, sondern nur ein bereits bestehender erweitert, jedoch geschieht dies gleichzeitig mit einem europaweiten Ausbau der Aufnahmekapazitäten für Flüssiggas (LNG), wodurch Europas Zugang zum Gas-Weltmarkt und damit die Diversifizierung seiner Gasimporte ansteigt. Die quantitative Abhängigkeit von Russlands Erdgas wird durch Nord Stream 2 und Turkish Stream nicht erhöht, da durch die zusätzlichen offshore-Pipelines die Menge des aus Russland importierten Gases nicht automatisch zunimmt. Denn diese wird nicht durch Lieferkapazitäten, sondern durch die Nachfrage der Gas importierenden Unternehmen der EU-Länder bestimmt. Die Verlagerung von Gaslieferungen vom UGTS auf die Ostseepipelines erhöht Europas Energiesicherheit, weil statt der modernisierungsbedürftigen Leitungen und Kompressorstationen aus sowjetischer Produktion neue und moderne Ausrüstungen eingesetzt werden. Außerdem entfällt die Möglichkeit der Lieferunterbrechung durch Transitstaaten.
Zumindest für 2020/21 wird Gazprom nicht auf das UGTS verzichten können, weil die in Deutschland für Nord Stream 2 parallel zur OPAL zu bauende Anbindungsleitung EUGAL erst nach 2020 mit beiden Strängen zur Verfügung stehen wird. Aber auch später ist die Beibehaltung einer Teilkapazität des UGTS im Umfang von rund 30 Mrd. m³ erforderlich, weil bei zurückgehender Förderung in Europa mit steigendem Importbedarf zu rechnen ist, der voraussichtlich weder durch LNG-Importe noch durch die Importpipelines ganz aufgefangen werden kann.
Durch die Verlagerung großer Teile des Transportvolumens vom UGTS auf Nord Stream 2 und Turkish Stream werden der Ukraine Transitgebühren im Umfang von bis zu 2 Mrd. US-Dollar und der Slowakischen Republik, Rumänien und Bulgarien Transitgebühren von einigen hundert Millionen US-Dollar entgehen, während die im Eigentum von Gazprom stehende "Nord Stream 2 AG" profitieren wird. Die neuen Leitungen sind daher für Gazprom kommerziell vorteilhaft; dafür dass es sich bei ihnen um außenpolitische Projekte des Kremls oder Deutschlands handelt, fehlt hingegen jede nachvollziehbare Begründung.
Rechtslage bei Nord Stream 2
Entgegen der Darstellung des EU-Energiekommissars Maroš Šefčovič wird Nord Stream 2 nicht in einem rechtlichen Freiraum oder im Zustand der Kollision von Rechtsnormen verlegt und betrieben werden: Für Nord Stream 2 gelten wie für andere Ostseepipelines in den jeweiligen Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) der Anliegerstaaten, die sich über 200 Seemeilen von der Küste seewärts erstrecken und die Ostsee ganz überdecken, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS), die Konvention über die Umweltverträglichkeitsprüfung (Espoo-Konvention) sowie das Ostsee-Umweltschutzabkommen (Helsinki-Abkommen).
In den 12 Seemeilen breiten Küstengewässern (Territorialgewässern) gelten zusätzlich die bergbaulichen und wasserwirtschaftlichen Vorschriften der Küstenstaaten. Die Verlegung und der Betrieb von Pipelines sind durch die zuständigen Behörden unter Beachtung der nationalen und völkerrechtlichen Vorschriften sowohl in den Territorialgewässern, als auch in den AWZ zu gestatten. Weil das dänische Parlament die Verlegung von Nord Stream 2 in den dänischen Territorialgewässern um die Insel Bornholm verhindern will, wodurch diese in die AWZ Dänemarks ausweichen müsste, ergänzte es daher in einem ungewöhnlichen Schritt die auf seinem Territorium geltenden Genehmigungsvoraussetzungen um außen- und sicherheitspolitische Kriterien.
Wie die juristischen Dienste der EU-Kommission und des Europäischen Rats übereinstimmend befanden, gelten die Vorschriften des EU-Energierechts und insbesondere die der dritten Gasrichtlinie (Trennung von Produktion und Netzbetrieb, Leitungszugang für Dritte, Regulierung der Transittarife) nicht für Leitungen, die von einem Nicht-EU-Staat in einen EU-Staat führen ("Importpipelines"). Deswegen drängt die EU-Kommission den Europäischen Rat dazu, die dritte Gasrichtlinie so zu verändern, daß sie auch auf Nord Stream 2 anwendbar ist und will anschließend mit Russland über die Durchsetzung der Neuregelung verhandeln. Dies stößt nicht nur auf Widerstand eines großen Teils der EU-Mitglieder, sondern wird auch vom Juristischen Dienst des Europäischen Rats als politisch, aber nicht rechtlich begründet eingestuft, weil bei Importpipelines weder ein rechtliches Vakuum noch sich widersprechende Rechtsvorschriften existieren.
Da nicht damit zu rechnen ist, dass Russlands Regierung auf Wunsch der EU kurzfristig Gazprom die Kontrolle über die in seinem Besitz stehenden Ferngasleitungen entziehen und die Duma das seit 2006 gesetzlich fixierte Exportmonopol Gazproms für Pipelinegas aufheben wird, würden die von der Kommission gewünschten Verhandlungen ohnehin ergebnislos bleiben. Erst langfristig könnte Russlands Staatsspitze davon überzeugt werden, dass zum Wohle des Landes die Privilegien Gazproms abgeschafft und der Gasmarkt liberalisiert werden sollten. Der einflussreiche, mit Gazprom rivalisierende Energiekonzern Rosneft steht in dieser Frage auf Seiten der EU.