Der Status quo
Um die Zukunft des Donbas-Konflikts zu analysieren, lohnt es sich zu fragen, inwiefern der heutige Status quo den relevanten Akteuren entgegenkommt. Momentan sieht die Situation vor Ort folgendermaßen aus: Es gibt immer noch keinen Waffenstillstand, der längerfristig anhält, und keinen Rückzug schwerer Waffen. D. h. die Bedingungen vor Ort erlauben nicht, in der absehbaren Zukunft Wahlen nach OSZE-Standards abzuhalten bzw. die anderen sogenannten "politischen" Punkte der Minsker Vereinbarungen sinnvoll umzusetzen. Ein Erfolg beim Punkt Austausch von Gefangenen ist allerdings zu verbuchen, v.a. im vergangenen Dezember. Die humanitäre Lage verschlechtert sich, insbesondere in den besetzten Gebieten. Mit der Zeit gibt es eine wachsende Abschottung der besetzten von den unbesetzten Teilen. Dennoch findet nach wie vor viel Personenverkehr zwischen diesen Teilen statt, der oft mit kleineren Warenmengen verbunden ist. Das Verbot der meisten Handelstypen hat Schmuggelgeschäfte begünstigt, die die okkupierten Territorien mit dringend notwendigen Waren und Lebensmitteln versorgen und an denen eine ganze Kette von Kleinkriminellen Geld verdient. Zu der Ressourcenknappheit kommt auch eine politische Instabilität hinzu, die im Fall der "Luhansker Volksrepublik" (LNR) in den Sturz des Separatistenführers Ihor Plotnickij gemündet hat.
Zufrieden mit dem Status quo?
Inwiefern sind die involvierten Akteure mit diesem Status quo zufrieden? Der herrschenden ukrainischen Elite kommt die jetzige Situation eher entgegen. Sie ist relativ stabil, und einer Eskalation der Gewalt vermutlich vorzuziehen, auch wenn eine solche Eskalation von innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken könnte. Tatsächliche Fortschritte in Richtung Reintegration der besetzten Gebiete wären für die ukrainische Führung eher eine unwillkommene Überforderung – sowohl finanziell als auch verwaltungstechnisch. Außerdem wäre eine Reintegration für sie von Nachteil, was Wahlen betrifft. Auch wenn es schwierig ist zu wissen, welche Meinungen die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger in den okkupierten Territorien vertreten, gibt es genügend Indizien dafür, dass diese Menschen die Regierung in Kiew und den Präsidenten nicht unterstützen.
Russland hat wenig Interesse daran, die besagten Gebiete als Teil des eigenen Landes zu sehen. Es wird zunehmend klar, dass die russische Führung die Ressourcen, die zurzeit für die Region verwendet werden, gern reduzieren würde. Das lässt sich aber bislang nicht verwirklichen, ohne dass die russische Führung auf einige ihrer Ziele bezüglich der Kontrolle dieser Regionen verzichtet. Von daher ist auch Russland mit dem Status quo mehr oder weniger zufrieden, auch weil die russische Elite zurzeit mit den Präsidentschaftswahlen beschäftigt ist. Nach den Wahlen ist es unwahrscheinlich, dass das russische Interesse am Donbas stark zunehmen wird. Allerdings sind Russlands außenpolitische Handlungen oft volatil und hängen von einer komplexen Konstellation von Interessen ab. Von daher ist v.a. auf Russland zu schauen, wenn es um eine mögliche Veränderung der Lage im Donbas geht.
Die sogenannten Separatisten sind auf keinen Fall an einer Reintegration der Gebiete in die Ukraine interessiert, da sie dadurch ihre Macht und ihren Zugang zu Ressourcen verlieren würden. Vermutlich würden sie aber auch nicht mehrheitlich für eine erneute Eskalation der Gewalt plädieren, weil eine solche Entwicklung die Stabilität der bestehenden teils kriminellen Netzwerke in Frage stellen könnte, die ihre Position sichern. Sie wünschen sich eine stärkere (insbesondere materielle) Unterstützung durch Russland, können aber mit der momentanen Situation leben.
Westliche Akteure (Deutschland, Frankreich, die USA, die EU) haben ein Interesse daran, einer Lösung für den Konflikt näherzukommen, aber ihr Interesse ist nicht stark genug, um Anreize zu setzen, die die direkt involvierten Akteure dazu bewegen könnten. Der "Westen" möchte Stabilität, und sie wäre am ehesten bei einer nachhaltigen Lösung gegeben, aber es ist auch für westliche Akteure durchaus möglich, mit dem Status quo umzugehen. Der US-Sonderbeauftragte für Verhandlungen mit der Ukraine, Kurt Volker, hat versucht, dem Verhandlungsprozess neuen Atem einzuhauchen, aber auch er hat wohl inzwischen verstanden, mit welchen Hindernissen hierbei zu rechnen ist.
Ausblick
Im Hinblick auf die Position der verschiedenen Akteure ist also die Fortsetzung des Status quo die wahrscheinlichste Option. Wer am meisten darunter leidet, ist die lokale Bevölkerung, insbesondere in der DNR und LNR, aber auch in der Nähe der Konfliktlinie. Und die über zwei Millionen (Binnen)Flüchtlinge, davon mehr als 1,6 Millionen in der Ukraine. Einige Störungen des Handels zwischen den okkupierten und den nicht okkupierten Teilen haben weitreichende Folgen für die Versorgung der Bevölkerung. Unter anderem deshalb ist es wichtig, auf die soziale Lage zu fokussieren und sich mit kleinen Verbesserungsmöglichkeiten zu beschäftigen, die im Alltag helfen können. Dies kann im Rahmen der trilateralen Kontaktgruppe geschehen, muss aber nicht darauf begrenzt bleiben.
Etwaige Änderungen der Lage werden eher von Russland als von den anderen Akteuren eingeleitet und könnten sowohl in Richtung Eskalation als auch in Richtung Diplomatie gehen. Ein weiteres mögliches Szenario wäre ein Aufgreifen russischer Vorschläge durch westliche Akteure, die unter Umständen Druck auf die Ukraine ausüben könnten, diesen Vorschlägen zu entsprechen. Beide Optionen bedeuten, dass man insbesondere die Evolution der russischen Interessenlage im Blick haben muss, um die weitere Entwicklung des Donbas-Konflikts zu verstehen.