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Analyse: "Eine Evolution der Würde?" Straßenproteste in der Ukraine im Oktober 2017 | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: "Eine Evolution der Würde?" Straßenproteste in der Ukraine im Oktober 2017

Johann Zajaczkowski

/ 10 Minuten zu lesen

Mitte Oktober flammte in Kiew eine Protestwelle auf, die die politische Tagesordnung mit relevanten Themen überschwemmte. Doch was genau forderten die Aktivisten und wie erfolgreich waren sie? Über Massenmobilisierung, Rückhalt in der Bevölkerung und Reaktionen der Regierung.

Ein Mann protestiert mit einer Flagge der Euromaidan-Bewegung vor dem ukrainischen Parlament (Werchowna Rada). (© picture-alliance, NurPhoto)

Zusammenfassung

Die Ukraine erlebte im Oktober 2017 die größten Straßenproteste seit der Revolution der Würde. Das Protestbündnis konnte systemrelevante Reformen auf die Agenda setzen – die Wahlreform, die Aufhebung der Immunität und die Gründung eines Antikorruptionsgerichts. Die Regierungskoalition hat sich zwar kompromissbereit gezeigt, setzt aber auf eine Verzögerungstaktik, die auch im Kontext anstehender Wahlen gesehen werden muss. Die "Straßenpolitik" wird vom radikalem Lager fortgesetzt. Trotz anhaltender sozioökonomischer Deprivation ist ein "Maidan 3.0" vorerst nicht zu erwarten.

Ungewohntes Protestbündnis mit konkreten Forderungen

Rund fünftausend Menschen versammelten sich am Dienstagmorgen des 17. Oktober 2017 vor dem ukrainischen Parlament (Werchowna Rada). Mit der Forderung nach einer "großen politischen Reform" hatte ein breites Bündnis zu den Protesten aufgerufen. Unter den Organisatoren befanden sich neben sechs prominenten zivilgesellschaftlichen Dachverbänden und Organisationen neun politische Parteien sowie elf einzelne Abgeordnete.

Das politische Spektrum der beteiligten Kräfte reichte von Vertretern der LGBT-Szene und des liberalkonservativen Reformerflügels – darunter die im Westen wohlgelittenen "drei Musketiere" Salischtschuk, Leschtschenko und Najem sowie der kürzlich in die Ukraine zurückgekehrte Reformpopulist Saakaschwili und seine Partei "Bewegung neuer Kräfte" –, über den ehemaligen Kommandeur des Donbass-Bataillons und "Selbsthilfe"-Abgeordneten Sementschenko bis hin zum Nationalkorps, das im Oktober 2016 als parteipolitischer Arm des Asow-Bataillons gegründet wurde.

Das Bündnis einigte sich auf drei konkrete Forderungen im gesetzgeberischen Bereich, die auf einen tiefgreifenden Wandel der politischen Spielregeln abzielen. So wird erstens die Einführung eines Verhältniswahlsystems mit offenen Parteilisten gefordert. Zweitens geht es um die Revision der Immunitätsbestimmungen für Abgeordnete. Die dritte Forderung betrifft die Gründung eines Antikorruptionsgerichts.

Die Forderungen wurden – neben dem Prinzip der Gewaltfreiheit – im Vorfeld in einem Memorandum festgehalten. Dieses wurde allerdings nicht weiter verfolgt. So hatten Saakaschwili und Sementschenko bereits gegen Mittag den Aufbau von Zelten an der Hruschewskij-Straße, die an der Rada vorbeiführt, initiiert. Etwa zur selben Zeit begann Saakaschwili damit, sich in Zielsetzung und Rhetorik von seinen Partnern abzusetzen – und forderte lauthals, die "Ziege hinauszujagen", also ein Amtsenthebungsverfahren gegen Poroschenko einzuleiten. Darüber hinaus kam es zu gewaltförmigen Ausbrüchen: So wurden zwei Abgeordnete körperlich angegangen, ein Abgeordneter wurde mit Eiern beworfen, einige Parlamentarier gelangten nur durch einen "Walk of Shame" ins Parlamentsgebäude oder wurden am Hinausgehen gehindert.

Im Ergebnis trat nur zweieinhalb Tage nach dem Beginn der Proteste ein Großteil der beteiligten Kräfte aus dem Bündnis aus. Übrig blieben Saakaschwili und seine Bewegung sowie die beiden Selbsthilfe-Abgeordneten Sobolew und Sementschenko, die weiterhin (Stand 07.11.2017) vor dem Parlament ausharren.

Reaktion auf die Proteste seitens der Regierung

Nachdem sich die beiden Regierungsparteien Block Petro Poroschenko (BPP) und Volksfront im Vorfeld der Proteste noch kompromisslos gezeigt hatten, ließen sie am Protesttag verkünden, dass sie am 19. Oktober über zwei der drei Forderungen abstimmen würden.

Von den drei Gesetzesvorlagen zur Wahlreform (Nr. 1068; 1068-1; 1068-2) erlangte am 19. Oktober keine einzige die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Zu Beginn der darauffolgenden Sitzungswoche Anfang November wurden schließlich zwei weitere Wahlgesetzvorlagen (Nr. 3112; 3112-1) diskutiert – davon fand der zweite, der maßgeblich auf den Parlamentsvorsitzenden Andrij Parubij (Volksfront) zurückgeht, unerwartet die Mehrheit.

Seit 2011 kommt ein Mischsystem aus Verhältnis- und Mehrheitswahl mit geschlossenen Parteilisten zur Anwendung. Dabei ist das Mehrheitswahlsystem im ukrainischen Kontext ein "effektives" Instrument der Patronagepolitik. In der Regel sichern sich Direktwahlkandidaten – nicht selten Geschäftsmänner – Wählerstimmen über Patronage, Ressourcen, Zwang. Perpetuiert wird dieses System durch geschlossene Parteilisten. Hierbei entscheiden intransparente Verhandlungen um den Listenplatz, der den Einzug in die Rada sicherstellt und entsprechend hochdotiert ist. Die beiden Regierungsparteien gaben bei der Abstimmung zur Wahlreform die wenigsten Ja-Stimmen ab (BPP – 57/138; Volksfront – 38/81). Aktuell hat der BPP rund 60, die Volksfront rund 20 direkt gewählte Abgeordnete. Das Abstimmungsverhalten ist auch im Kontext einer derzeit hinter den Kulissen diskutierten Vereinigung von BPP und Volksfront im Zuge der anstehenden Parlamentswahlen im Herbst 2019 zu sehen: Im Falle einer Vereinigung könnte durch die gemeinsame Parteiliste weit weniger Abgeordneten der Einzug in die Rada gesichert werden; es entstünden unweigerlich Verlierer. Kleinere "Satellitenparteien" wie die "Wiedergeburt" oder der "Volkswille", die situative Abstimmungsbündnisse mit der Regierungskoalition eingehen, verdanken ihre parlamentarische Existenz gar ausschließlich den Einerwahlkreisen. Somit ist davon auszugehen, dass die Wahlreform in der zweiten Lesung kassiert wird. Ohnehin sieht der Entwurf von Andrij Parubij offene Listen nur auf regionaler Ebene vor.

In Bezug auf die Aufhebung der Immunität brachte Poroschenko kurz vor Beginn der Protestaktion ein eigenes Gesetzesprojekt (Nr. 7203) ein, dass das Inkrafttreten der Reform erst 2020 – also nach dem Wahlmarathon 2019 – vorsieht. Die Abgeordneten dieser Legislaturperiode würde es somit nicht tangieren. Vor den Oktober-Protesten existierte lediglich ein Abgeordnetenentwurf (Nr. 6773), der seit Sommer 2017 in den zuständigen Fachkomitees verharrte. Bei der Abstimmung vom 19. Oktober beschloss die Rada mit großer Mehrheit, dem Verfassungsgericht beide Gesetzesvorhaben zur Prüfung zu übermitteln. Die Entwürfe sollen kommentiert und anschließend weiter verhandelt werden.

Die Aufhebung der Immunität ist als abstrakt-populistische Forderung in der Bevölkerung beliebt. Dies erklärt, weshalb Poroschenko das Thema im sich anbahnenden Wahlkampf prominent besetzen will – und parallel dazu auf dem gesetzgeberischen Feld eine Verzögerungstaktik fährt. Einen Vorgeschmack auf den Vereinnahmungsversuch bot eine Bemerkung kurz vor Beginn der Proteste. Demnach sei er froh darüber, dass "die Teilnehmer der Proteste die Forderungen des Präsidenten unterstützen." Unklar ist, wie lange der vom Präsidenten eingebrachte Gesetzesentwurf beim Verfassungsgericht verbleiben wird. Entsprechend einmütig machten Koalition wie Opposition den Weg frei für das weitere Prozedere. Unabhängig davon: Fortschritt zu simulieren ist etwas anderes, als das Gesetz (das eine verfassungsändernde Mehrheit von 300 Stimmen benötigt) tatsächlich zu verabschieden – ganz zu schweigen von der konkreten Aufhebung der Immunität einzelner Abgeordneter, die, solange keine unparteilichen Gerichte existieren, stets Gefahr läuft, politisch instrumentalisiert zu werden.

Bei der Justizreform hätte Poroschenko, dem hier die Gesetzesinitiative obliegt, auf Grundlage des Entwurfes Nr. 6011 und der Empfehlungen der Venedig-Kommission einen überarbeiteten Gesetzesentwurf einbringen sollen. Doch anstatt das Reformvorhaben zur Abstimmung zu bringen, ließ Poroschenko über seine Rada-Fraktion die Gründung einer interfraktionellen Arbeitsgruppe kolportieren, die sich des Themas annehmen soll. Die Gründung einer Arbeitsgruppe ist in der Ukraine aber ein übliches Mittel zur Verschleppung von Gesetzesentwürfen. Auch ein prozeduraler Trick könnte zur Anwendung kommen. Laut Verfassung darf nur der Präsident die Gesetzentwürfe über die Änderungen im Gerichtswesen ins Parlament einbringen. Deswegen muss der Entwurf der Abgeordneten rein formal zurückgenommen werden. Die Autoren des Gesetzes haben zwar bereits die Rücknahme beantragt, allerdings muss dieser Vorgang von einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen werden. Anfang November scheiterte aber die Abstimmung in dieser Frage wegen fehlender Unterstützung seitens der Regierungskoalition.

Die Gründung eines Antikorruptionsgerichts firmiert prominent auf der gemeinsamen Reformagenda von IWF/EU und der Ukraine und wird in der Debatte um die Justizreform als unabdingbares Komplement zum April 2015 geschaffenen Nationalen Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) erachtet. Bislang kann das NABU zwar in Korruptionsfällen ermitteln, doch die Verhandlung der Fälle obliegt den nach wie vor korrupten und politischem Druck ausgesetzten Justizbehörden.

Poroschenko will größere Korruptionsskandale zur Wahlkampfzeit unbedingt vermeiden. Ein autonom im Verband mit NABU handelndes Antikorruptionsgericht hätte die Möglichkeit, sich in puncto Korruption auch "großer Fische" anzunehmen – und würde damit zu einer unmittelbaren Bedrohung der herrschenden Elite heranwachsen. Einen Vorgeschmack dafür boten die jüngst durch das NABU eingeleiteten Korruptionsverfahren gegen enge Vertraute des Präsidenten und Schlüsselfiguren in der Machtvertikale, die nur Dank willfähriger Gerichte ergebnislos blieben.

Gleichzeitig darf Poroschenko seine internationalen Partner nicht vor den Kopf stoßen. Die Gründung eines Antikorruptionsgerichts wäre auch insofern relevant, als die Konditionalität der 17,5 Milliarden Dollar umfassenden IWF-Kreditlinie auf dem Fortschritt in der Korruptionsbekämpfung fußt. Derzeit wird die nächste Tranche in Höhe von 1,9 Milliarden US-Dollar zurückgehalten. Doch in dem Maße, in dem die Ukraine ihre makroökonomische Stabilität zurückerlangt, könnte diese Form der Konditionalität ihre Effektivität verlieren. Im September hat die Ukraine Eurobonds in Höhe von drei Milliarden US-Dollar auf dem internationalen Finanzmarkt platziert. Doch da die neugewonnene Kreditwürdigkeit nicht zuletzt aus der Mitgliedschaft der Ukraine im IWF-Programm resultiert und die Westintegration im militärischen und wirtschaftlichen Bereich zunehmend tiefer wird, gilt ein offener Bruch mit den Partnerorganisationen als unwahrscheinlich.

Aussichten der "Straßenpolitik" von liberalen Reformkräften

Doch inwieweit handelt es sich bei dem situativen Bündnis zwischen Reformkräften und dem radikalen Lager (samt dem taktischen Repertoire institutionalisierter Straßenproteste) um ein neues Modell, das in der Lage ist, langfristig Entscheidungsfindungsdruck aufrechtzuerhalten?

Die Institutionalisierung der Straßenproteste ist mit großem Aufwand verbunden. Die Choreographie des Protestcamps ist insofern der Revolution der Würde nachempfunden, als eine kleine Anzahl von Protestlern während der Woche im Camp ausharrt und es jeweils an den Wochenenden sowie an den themenrelevanten Sitzungstagen – initiiert von Saakaschwili – zu einer größeren Mobilisierungswelle kommt. Somit könnte das Modell – im Zuge abnehmender Konditionalität und innerhalb enger thematischer Grenzen – eine Ergänzung zum klassischen "Sandwich"-Modell (reformorientierte Kräfte in Parlament und Zivilgesellschaft und westliche Partner üben Reformdruck aus) darstellen.

Allerdings sind mit Blick auf aktuelle Umfragewerte die Aussichten auf eine Machtperspektive des reformorientierten (liberalen) Lagers – dessen Wählerpotenzial in der Ukraine sich auf maximal 20 % beläuft – gering. Jüngsten Umfragen zufolge würden sowohl die Demokratische Allianz mit Namen wie Salischtschuk, Leschtschenko und Najem (0,4 %) als auch Saakaschwilis Partei "Bewegung neuer Kräfte" (1,7 %) im Falle vorgezogener Neuwahlen an der Fünfprozenthürde scheitern. Eine Vereinigung dieser Parteien ist somit eine Frage des politischen Überlebens, zumal Najem und Co. aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erneut über die Kandidatenliste des BPP antreten können – und wollen. Im vergangenen Jahr hatte es bereits einen Einigungsversuch zwischen Demokratischer Allianz und Bewegung neuer Kräfte gegeben. Gescheitert war die Vereinigung an unvereinbaren Vorstellungen der Einflussgruppen innerhalb dieser Parteien in Bezug auf Parteitypus und -führung. So hatten die persönlichen Ambitionen Saakaschwilis, der während der Verhandlungen auf dem Posten des Parteivorsitzenden beharrte, eine Kompromisslösung erschwert. Folglich könnte sein Abgang – Generalstaatsanwalt Luzenko hat Saakaschwili mit der Auslieferung nach Georgien gedroht – eine Neuordnung des liberalen Lagers erleichtern. Andererseits bleibt es auf die Mobilisierungsfähigkeit des staatenlosen Politikers angewiesen. Saakaschwilis Verhalten während der Proteste scheint ihm bisher nicht geschadet zu haben: Aus dem Umfeld der Euroreformer heißt es, dass eine Vereinigung von Demokratischer Allianz und der Bewegung neuer Kräfte weiterhin möglich sei.

Der Selbsthilfe-Partei des Lwiwer Bürgermeisters Sadowij käme in einer solchen liberalen Vereinigung unter Umständen die Rolle des Königsmachers zu. Sie ist die einzige reformorientierte Oppositionspartei, die am Protestbündnis beteiligt war und laut Umfragen derzeit mit einem Einzug in die Rada (5,9 %) rechnen könnte. Am Vereinigungsversuch im vergangenen Jahr war die Partei beteiligt, ebenso wie bei einem neuen Anlauf zu Beginn dieses Jahres. Dass die Partei durch eine Reihe von Rückschlägen mit sinkenden Umfragewerten kämpft, dürfte den Vereinigungsdruck erhöhen. Umgekehrt dürfte das liberale Lager von den etablierten Parteistrukturen der Selbsthilfe profitieren.

Die Oppositionspartei mit den derzeit höchsten Umfragewerten ist die populistische Vaterlandspartei von Timoschenko. Im Falle vorgezogener Wahlen käme sie derzeit mit 10 % auf den zweiten Platz. Die Vaterlandspartei verfügt über einen gut ausgebauten Parteiapparat mit langjähriger politischer Erfahrung und über eine treue Wählerschaft. Bei einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl käme Timoschenko, die bereits ihre Kandidatur bekanntgegeben hat, mit 8,4 % auf den zweiten Platz – direkt hinter dem amtierenden Präsidenten, der bei 14 % läge. Diese komfortable Lage erklärt auch, weshalb sie sich bei den Protesten auf eine Solidaritätsadresse im Vorfeld beschränkte: Positive Berichterstattung über die Aktion hätte nur der Popularität Saakaschwilis, dem inoffiziellen "Kopf" der Proteste, Vorschub geleistet, eine mögliche Eskalation hätte ihren Umfragewerten geschadet.

Protestpotenzial in der Bevölkerung

Objektiv betrachtet haben die Ukrainer allen Grund, auf die Straße zu gehen. Dem jüngsten Bericht der Weltbank zufolge ist die Armutsrate im Land nach wie vor höher als vor der Revolution. Knapp 70 % der Ukrainer erachten die Situation im Land als "angespannt", mehr als die Hälfte hält eine Neuauflage der Revolution für "sehr" oder "einigermaßen möglich". Die Schuld hierfür geben 74 % der Ukrainer der Untätigkeit von Regierung und Parlament.

Trotz Ankündigungen blieb eine breite Massenmobilisierung aus, die Mobilisierung beschränkte sich in erster Linie auf die Stammklientel der Protestkoalition. Hierfür sind vier Gründe maßgeblich.

Erstens werden die Themen auf der Protestagenda als polittechnische Themen wahrgenommen, die mit der sozioökonomischen Lebenswirklichkeit der meisten Ukrainer nichts gemein haben. Von den drei vorgeschlagenen Themen ist nur die Aufhebung der Immunität ein politischer Dauerbrenner in der Ukraine und wird häufig vom populistischen Lager gefordert. Der Nexus zwischen einer langwierigen und umfassenden Reform der politischen Spielregeln und der Verbesserung der eigenen Lage ist jedoch vielen nicht vermittelbar.

Zweitens werden die "richtigen" Themen häufig von umstrittenen Politikern aufgegriffen und dadurch diskreditiert. Deutlich wurde dies zuletzt, als Timoschenko einen "Tarifmaidan" gegen die Erhöhungen der Heizkosten für private Haushalte ausrief. Die Ankündigung blieb folgenlos, stattdessen besetzten Akteure von noch zweifelhafterem Ruf (wie etwa Ljaschko von der "Radikalen Partei") die thematische Nische. Das linke politische Spektrum, das sich sozioökonomischer Themen traditionsgemäß annehmen könnte, ist strukturell marginalisiert und vollkommen diskreditiert.

Drittens bedingt der Krieg mit Russland eine gewisse Zurückhaltung gegenüber radikalen Protesten, da diese mit einem Zusammenbruch der Regierung assoziiert werden, der sofort von russischer Seite ausgenutzt würde.

Viertens ist das Verhalten der herrschenden Elite von Bedeutung. In dieser Hinsicht sind die Proteste ein wichtiges Lehrstück für deeskalierendes Verhalten: nicht auf Provokationen eingehen, das Protestlager in Ruhe lassen, in der Sache selbst Zugeständnisse machen – und diese dann systemimmanent verzögern. Solange die Regierung diese Linie einhält und damit eine Gewaltspirale verhindert, solange ist kein neuer Maidan zu erwarten.

Ausblick

Die Erfolgsbilanz der Proteste fällt durchwachsen aus. In taktischer Hinsicht ist hier neben dem Agenda-Setting – sowohl Immunität als auch Wahlreform standen zu Beginn der Proteste nicht auf der Tagesordnung – die Disziplinierung des Abstimmungsverhaltens zu nennen, die durch den Druck der Straße zustande kam. Dass dies in Teilen auch auf ein latentes Einschüchterungsklima zurückzuführen ist, sollte dabei nicht unterschlagen werden. Inhaltlich wurden der reguläre politische Prozess vorangebracht und Zusagen des Präsidenten generiert, die als Benchmark für weitere Reformschritte nutzbar gemacht werden können – auch wenn der herrschenden Koalition nach wie vor umfassende Möglichkeiten zur Verzögerung zur Verfügung stehen.

Der Autor dankt Maryna Bardina (Beraterin im Abgeordnetenbüro von Serhij Leschtschenko), Mattia Nelles (DAAD-Assistent an der Kiew-Mohyla-Akademie), und Denis Trubetskoy (freischaffender Journalist) für wertvolle Anmerkungen. Für die im Text wiedergegebenen Inhalte ist ausschließlich der Autor verantwortlich.

Fussnoten

Johann Zajaczkowski war von 2014 bis 2016 als Fachlektor der Robert-Bosch-Stiftung an der Kiew-Mohyla-Akademie tätig. Zur Zeit promoviert er als Fellow der Zeit-Stiftung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit einer Arbeit zu den ukrainischen Freiwilligenbataillonen und ihrer Transformation in politische Akteure.