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Kommentar: Wie der Kreml den Eurovision Song Contest zur Mausefalle machte | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Wie der Kreml den Eurovision Song Contest zur Mausefalle machte

Anton Schechowzow

/ 6 Minuten zu lesen

Das Einreiseverbot der russischen Teilnehmerin am Eurovision Song Contest in die Ukraine sorgt für Aufruhr. Auf der einen Seite wird der Regierung die Diskriminierung der körperlich behinderten Julia Samoylowa vorgeworfen, auf der anderen Seite eine Taktik Russlands vermutet. Eine Lösung des Konflikt ist jedenfalls nicht in Sicht.

Die Sängerin ist seit ihrer Kindheit auf den Rollstuhl angewiesen. Kritiker vermuten auch darin ein Motiv für das Einreiseverbot der russischen ESC-Kandidation (© picture-alliance/dpa)

Am 22. März 2017 untersagten die ukrainischen Behörden der russischen Vertreterin für den Eurovision Song Contest die Einreise in die Ukraine. Das dreijährige Einreiseverbot macht den Auftritt Julia Samoylowas bei dem vom 9. bis zum 13. Mai in Kiew stattfindenden Wettbewerb unmöglich. Der Grund für das vom ukrainischen Geheimdienst SBU verhängte Verbot ist, dass Samoylowa 2015 auf der Krim aufgetreten ist. Weil Russland die Krim 2014 illegal annektiert hat, müssen Künstler, die die Halbinsel besuchen wollen, nach ukrainischem Gesetz zuvor eine spezielle Genehmigung bei den ukrainischen Behörden einholen. Ohne diese gilt für sie ein Einreiseverbot und – sofern es sich um Sänger handelt – dürfen ihre Songs im ukrainischen Radio oder Fernsehen nicht gespielt werden. Auf Grundlage dieser Bestimmung hat die Ukraine bereits Dutzenden russischer und anderer ausländischer Künstler die Einreise ins Land verweigert, darunter etwa Gérard Depardieu und Steven Seagal.

Wie zu erwarten reagierte das offizielle Moskau wütend. Russlands Stellvertretender Außenminister Grigori Karasin nannte den ukrainischen Zug "einen weiteren ungeheuerlichen, zynischen und inhumanen Akt der Kiewer Behörden". Maria Sacharowa, eine Sprecherin des Außenministeriums, schrieb auf Facebook: "Die derzeitigen ukrainischen Behörden haben erneut gezeigt, dass sie ein von russophober Paranoia und nationalistischen Komplexen infiziertes Regime sind." Und sie fügte hinzu: "Kiew hat offensichtlich große Angst vor einem gebrechlichen Mädchen." Sacharowas Bemerkung über Samoylowas "Gebrechlichkeit" ist offenkundig ein Verweis auf deren Behinderung: Samoylowa ist seit ihrer Kindheit auf den Rollstuhl angewiesen. Die Sängerin wiederholte Sacharowas Bemerkungen, indem sie ihre Überraschung darüber zum Ausdruck brachte, dass Kiew anscheinend eine Bedrohung in "einem kleinen Mädchen wie mir" sehe.

Die ukrainische Entscheidung ist zwar rechtmäßig, mit dem Einreiseverbot schadet die Ukraine jedoch ihrem internationalen Ansehen. Die europäische Rundfunkunion EBU, die den Eurovision Song Contest produziert, veröffentlichte eine zweideutige Stellungnahme, in der es heißt, dass man "die lokalen Gesetze des Gastgeberlandes respektieren müsse", über die Entscheidung der Ukraine für das Einreiseverbot gegen Samoylowa jedoch "schwer enttäuscht" sei. Sie habe den Eindruck, "es widerspreche sowohl dem Geist des Contests als auch der Idee der Inklusion, die seinen Werten zugrunde liegt". Auch einige internationale Medien schienen mit Samoylowa zu sympathisieren und stellten deren Behinderung in den Mittelpunkt. So berichtete etwa die BBC: "Grund für den hiesigen entsetzten Aufschrei ist auch, dass die mit dem Einreiseverbot belegte Sängerin seit ihrer Kindheit auf den Rollstuhl angewiesen ist und das Motto des Eurovision Song Contest "Diversität feiern" lautet". Auch in den Äußerungen anderer großer Medien kamen die Worte Rollstuhl und Einreiseverbot im gleichen Satz vor, wobei impliziert wurde, dass die Entscheidung der Ukraine in ethischer Hinsicht fragwürdig sei.

Die in die Ecke gedrängte Ukraine

Derartige Reaktionen der großen internationalen Medien hat Moskau jedoch offenkundig erwartet und die Wut des Kreml scheint ein abgestimmter Akt des Informationskriegs zu sein, in dem sich Putins Regime als Teil seiner übergeordneten Strategie der hybriden Kriegsführung gegen die Ukraine befindet. Das offizielle Moskau wusste, dass Samoylowa auf der Krim aufgetreten ist und die Ukraine solchen Künstlern die Einreise verwehrt. Und es machte eine Person mit Behinderung zur russischen Vertreterin beim Eurovision Song Contest – in dem vollen Bewusstsein, dass die Ukraine gezwungen sein würde, ihr die Einreise zu verweigern und damit ihrem internationalen Ansehen zu schaden. Denn nach einiger Zeit wird das internationale Publikum sich zurückblickend eher daran erinnern, dass die Ukraine einer Person mit Behinderung die Einreise verwehrt hat, als an die legitimen Gründe dafür.

Die Moskauer Offiziellen wenden mit diesem Vorgehen einen Trick aus dem sowjetischen Informationskrieg an, die "reflexive Kontrolle". Der Militärexperte Timothy L. Thomas definiert sie "als Mittel, bei dem einem Partner oder Gegner spezifisch aufbereitete Informationen enthüllt werden, um ihn dazu zu verleiten, freiwillig eine vom Initiator der Aktion bestimmte und erwünschte Entscheidung zu treffen". Der Kreml präsentierte der Ukraine zwei Möglichkeiten, beides Mausefallen: Ließe sie Samylowa einreisen, verletzte sie ihre eigenen Gesetze und würde den "russischen Status" der Krim stillschweigend anerkennen. Hielte sie sich an die Rechtsstaatlichkeit und verweigerte ihr die Einreise – und das tat sie –, würde sie indirekt ihr Ansehen als ein europäischen Werten verpflichtetes Land schädigen. Sollte die Ukraine dem internationalen Druck nachgeben und das Einreiseverbot aufheben, wäre das für den Kreml umso besser, denn dann könnte er die Ukraine als Handlanger des Westens hinstellen.

Dass der Kreml seine Nominierung für den Eurovision Song Contest in Kiew zu politisieren versuchen würde, war bereits seit langem erwartet worden. Schließlich konnte sich Moskau keinesfalls die Chance entgehen lassen, auf den Sieg der Ukraine beim letztjährigen Eurovision Song Contest mit einem Gegenschlag zu reagieren. Letztes Jahr hat die ukrainische Sängerin mit krimtatarischen Wurzeln Jamala den Wettbewerb gewonnen, mit einem Song namens "1944", der allgemein als politisch aufgeladen wahrgenommen wurde: 1944 ordnete der sowjetische Diktator Joseph Stalin die Deportation der Krimtataren von der Krim an (siehe Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 169). Der Verweis auf Russlands Annexion der Krim war allzu offensichtlich. (Einige russische Politiker und Offizielle schlugen sogar einen Boykott des diesjährigen Wettbewerbs in Kiew vor.)

Der reflexiven Kontrolle begegnen

Sieht man vom bösen Willen des Kreml einmal ab, so macht die derzeitige Lage ein Versagen der Ukraine in zweierlei Hinsicht deutlich. Zum einen hat der SBU seine Arbeit nur unzureichend erledigt, zum anderen ist ein Mangel an Kreativität im Umgang mit dem heimtückischen Gegner festzustellen.

Erstens war es Aufgabe des SBU, alle nichtukrainischen Künstler, die auf der von Russland annektierten Krim auftreten und dabei ukrainisches Recht brechen, zu registrieren und sie unverzüglich mit einem Einreiseverbot in die Ukraine zu belegen. Hätte die Ukraine Samoylowa schon 2015, nachdem diese auf der Krim aufgetreten war, die Einreise in die Ukraine verweigert, hätte Moskau sie nicht für den Eurovision Song Contest ausgewählt und die Ukraine befände sich nicht in einer derart unangenehmen Situation. (Es besteht kaum Zweifel, dass Moskau auf andere Weise versucht hätte, der Ukraine zu schaden, aber das wäre eine andere Geschichte.) Das Allermindeste wäre aber gewesen, dass der SBU die potentiellen russischen Vertreter während des dortigen Auswahlprozesses beobachtet und abgeklärt hätte, ob sie ukrainische Gesetze gebrochen haben. In dem Fall wäre Samoylowa mit einem Einreiseverbot belegt worden, bevor sie die Vertreterin Russlands beim Eurovision Song Contest wurde.

Zweitens war schon die Einstellung der Ukraine, dass es nur zwei mögliche Antworten auf Moskaus Nominierung gibt, ein Zeichen für den Erfolg der reflexiven Kontrolloperation des Kreml. Nach dem Akzeptieren der von Moskau diktierten Spielregeln konnte die Ukraine nicht mehr gewinnen. Sie hätte allerdings den durch die Informationskriegsoperation des Kreml entstandenen Schaden begrenzen oder gar den Spieß umdrehen können. Die Ukrainer hätten, wie Sergej Sumlenny, Leiter der Kiewer Heinrich-Böll-Stiftung, auf Facebook schrieb, den Kreml überlisten können: "So hätte zum Beispiel Jamala die russische Sängerin am Flughafen abpassen und sagen können: Liebes Kind, du weißt offenbar gar nicht, was auf der Krim bisher passiert ist. Ich würde dich gern zu mir nach Hause einladen und dir die Geschichte meines Volks erzählen. Dann hätte es in den Medien Bilder davon gegeben, wie Jamala Julia die wahre Geschichte erzählt und auch das, wovon der Kreml nicht will, dass es erzählt wird."

Die Ukraine hätte auch, wie ein anderer Kommentator vorschlug, ein Treffen der russischen Sängerin mit ukrainischen Soldaten arrangieren können, die als Folge von Verletzungen, die sie sich bei der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression zugezogen haben, nun mit Behinderungen leben. Noch viele andere Ideen hätte die Ukraine haben können. Sie wären allesamt unleugbar politischer Natur gewesen, angesichts der Umstände gibt es jedoch keinen unpolitischen Weg, auf die reflexive Kontrolloperation des Kreml zu reagieren.

Heute scheint es keine Lösung des Problems der russischen Eurovision-Vertreterin zu geben. Nach der Verhängung des Einreiseverbots bot die EBU Russland in einem bislang unbekannten Schritt an, dass Samoylowa per Satellit am Wettbewerb teilnehmen könne. Dies würde, so führte sie aus, "dem Geist der Eurovision-Werte von Inklusion und dem diesjährigen Motto, Diversität feiern, entsprechen". Moskau lehnte das Angebot ab. Bis zu einem gewissen Grad verbessert das die reichlich unangenehme Situation der Ukraine, ist es nun doch vor allem Russland, das Sand in die Eurovision-Maschine streut. Dennoch ist die Gesamtsituation weit von einer Lösung entfernt und Moskau wird wohl weiterhin versuchen, dem internationalen Ansehen der Ukraine zu schaden.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

Der Beitrag erschien zunächst auf Englisch in der Reihe "Transit Online" des Externer Link: Wiener Instituts für die Wissenschaft vom Menschen (IWM). Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt dem Autor für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Fussnoten

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Dr. Anton Schechowzow ist im Rahmen des Forschungsprojekts "Ukraine in European Dialogue" Visiting Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM).