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Analyse: Die ukrainische "diasporic community" in Deutschland: Charakteristika und Engagement fürs Heimatland | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? 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Analyse: Die ukrainische "diasporic community" in Deutschland: Charakteristika und Engagement fürs Heimatland

Ljudmyla Melnyk Magdalena Patalong Richard Steinberg Richard Steinberg (Berlin/Hamburg) Magdalena Patalong (Berlin) Von Ljudmyla Melnyk (Berlin)

/ 12 Minuten zu lesen

Die ukrainische Gemeinde in Deutschland erlebte während des Euromaidans das Aufkommen neuer nichtstaatlicher Akteure. Basierend auf dem Forschungsprojekt „#EngageEUkraine – Engagement von Ukrainern in Polen und Deutschland“ befasst sich der vorliegende Artikel mit der Rolle der ukrainischen „diasporic community“ in Deutschland.

Ein Zettel liegt am 17.08.2014 in München (Bayern) auf dem Grab des umstrittenen ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera (1909-1959). (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Während des Euromaidan und danach erlebte die ukrainische Gemeinde in Deutschland das Aufkommen neuer nichtstaatlicher Akteure: zivilgesellschaftlich engagierte Ukrainer, die eine neue "diasporic community" neben einer bestehenden "alten Diaspora" prägten. Basierend auf dem Forschungsprojekt "#EngageEUkraine – Engagement von Ukrainern in Polen und Deutschland" geht dieser Artikel der Frage nach, ob die "diasporic community" als ein neuer homogener nichtstaatlicher Akteur auftreten kann. Basierend auf 44 Interviews mit zivilgesellschaftlich engagierten und in Deutschland lebenden Ukrainern hat die Analyse gezeigt, dass dieses Potential existiert: Die "diasporic community" trägt mit ihren Aktivitäten nicht nur indirekt zur Demokratisierung der Ukraine bei, sondern fungiert gleichzeitig auch als kulturelle Brücke zwischen Deutschland und der ukrainischen Gesellschaft. Damit hat sie das Potential, auch zur Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Staaten beizutragen.

Einleitung

Die Kiewer Euromaidan-Proteste von 2013 und 2014 können als Initialzündung für Bildung und Engagement einer Zivilgesellschaft in der Ukraine und in den ukrainischen Gemeinden in Deutschland betrachtet werden. Zudem schufen die Annexion der Krim durch die Russische Föderation und der Krieg in der Ostukraine ein Gefühl der Zugehörigkeit zur ukrainischen Gemeinde, das zur Unterstützung der Ukraine über eine ganze Reihe verschiedener Diaspora-Aktivitäten führte – von politischen Demonstrationen und Kulturveranstaltungen bis hin zu militärischer und humanitärer Hilfe. Der kontinuierliche und unmittelbare Informationsfluss über die Entwicklungen in der Ukraine führte zur Ausbildung starker Verbindungen zwischen dem "Heimatland" und der Diaspora. Das wirft die Frage auf, ob und wie die ukrainische Diaspora die Stabilisierung und Demokratisierung in der Ukraine unterstützen kann.

Ukrainer in Deutschland – ein erster Überblick

Laut Statistischem Bundesamt lebten 2014 etwa 128.000 Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft in Deutschland. Vergleicht man diese Zahl mit der von 1995 (30.000), zeigt sich ein signifikantes Wachstum. Die größten Gruppen von Ukrainern finden sich in Nordrhein-Westfalen (28.000), Bayern (ca. 24.000) und Baden-Württemberg (ca. 14.000). Die Hauptgründe, um nach Deutschland zu kommen, sind Familie (18.810), Ausbildung (5.830) und Arbeit (4.550).

Durch historische Umstände wurde Süddeutschland zum Zentrum der ukrainischen Diaspora. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden etwa drei Millionen Ukrainer nach Westeuropa vertrieben, rund 2,3 Millionen von ihnen wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Nach Kriegsende kehrten viele freiwillig in ihre Heimat zurück oder wurden zwangsweise in die Sowjetunion repatriiert, ein kleiner Teil blieb in deutschen und österreichischen Displaced-Persons-Lagern (DP-Lagern). 1947 lebten geschätzt 140.000 Ukrainer in deutschen DP-Lagern. Bis Herbst 1945 waren noch 50 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in der US-Zone (hauptsächlich in Bayern) geblieben, 25 Prozent in der britischen und fünf Prozent in der französischen Zone Westdeutschlands. Ende 1951 waren nur noch 22.000 Ukrainer in Westdeutschland, ein Großteil war in andere westliche Länder ausgewandert.

Die DP-Lager waren sowohl politische als auch soziale Zufluchtsstätten der Ukrainer. Ihre Bewohner organisierten zahlreiche kulturelle, soziale, politische und Bildungsaktivitäten. Zum Schutz der Rechte der Ukrainer und zur Koordinierung ihres Lebens in den DP-Lagern wurde 1945 die offizielle Zentralvertretung der Ukrainischen Emigration in Deutschland gegründet. Neben offiziellen internationalen Institutionen kümmerten sich auch Institutionen wie das Ukrainische Rote Kreuz um die medizinische Versorgung. Es war zwar nicht offiziell anerkannt, arbeitete aber als unabhängige Einrichtung. Zudem wurden zahlreiche Bildungs- und Erziehungsinstitutionen wie Kindergärten, Grund- und weiterführende Schulen sowie höhere Bildungsinstitute ins Leben gerufen und etablierten sich, beispielsweise die Ukrainische Hochschule für Wirtschaft (München), die Freie Ukrainische Akademie der Wissenschaften (Augsburg) und die Ukrainische Freie Universität (München). Im Zuge der Auswanderung der meisten Ukrainer in andere westliche Länder Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre übersiedelten auch viele höhere Bildungsinstitute in andere Länder. Die einzige Ausnahme bildet die Ukrainische Freie Universität, die noch immer in München existiert. Mit der Auswanderung der Mehrheit der ukrainischen DPs, darunter viele Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, endete die kurze Periode, in der Deutschland das Zentrum des kulturellen und wissenschaftlichen ukrainischen Lebens in Westeuropa war. Es folgte nicht nur ein Mangel an wissenschaftlichen ukrainischen Institutionen in Deutschland, sondern auch an bilateralen institutionellen Foren. Entsprechend beteiligten sich an der öffentlichen Debatte über die Ukraine in Deutschland keine Ukrainer mehr direkt, und auch andere historische Ereignisse wurden seit den frühen 1950er Jahren nicht mehr aus der ukrainischen Perspektive kommentiert. Dieses Fehlen einer ukrainischen Perspektive und ukrainischer Akteure in der deutschen Öffentlichkeit sowie die allgemeinen Nachkriegsumstände in Deutschland führten zur "Unsichtbarkeit" der Ukrainer und ihrer Belange. Dass die Ukraine kein unabhängiger Staat war und die Sowjetunion meist als homogener politischer Akteur wahrgenommen wurde, verstärkte diesen Effekt noch.

Die Politik der deutschen Regierung, vor allem die sogenannte Ostpolitik Willy Brandts, die auf einen Abbau der Spannungen zwischen Westdeutschland und Osteuropa ausgerichtet war, verstärkte diese Unsichtbarkeit zusätzlich. Es lag nicht im Interesse der westdeutschen Regierung, im Rahmen der Ostpolitik mit einzelnen Sowjetrepubliken gesondert in Kontakt zu treten – dies hätte die Beziehungen zur Sowjetunion weiter verkompliziert. In der Konsequenz wurde die Ukraine für viele Jahre zum "weißen Fleck" in der öffentlichen Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft. Diese Wahrnehmung blieb nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhalten – noch heute gilt die Ukraine häufig als Teil der russischen Einflusssphäre.

Die ukrainische "diasporic community" in Deutschland – Aufstieg eines neuen nichtstaatlichen Akteurs?

Diesen weißen Fleck in Bezug auf ukrainische Belange gibt es auf der mentalen Landkarte vieler Deutscher zwar immer noch, er könnte jedoch langsam gefüllt werden. Das liegt hauptsächlich an der Entstehung eines potentiellen neuen nichtstaatlichen Akteurs, der ukrainischen "diasporic community". Zu ihr zählen eine beträchtliche Zahl in Deutschland lebender Ukrainer, die nicht Teil der oben beschriebenen "alten Diaspora" und mit anderen Ukrainern auf nationaler und internationaler Ebene stark vernetzt sind. Hauptsächlich besteht diese Gruppe aus Arbeitsmigranten, Studenten und jüdischen Ukrainern, die in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen sind, sowie aus deren (deutschen) Ehepartnern. Die Interviews zeigen, dass viele von ihnen sich nicht als Teil der ukrainischen Diaspora begreifen, sondern als Ukrainer, die auf bestimmte oder unbestimmte Zeit in Deutschland leben. Häufig ist ihre Motivation, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, sehr hoch und sie waren vor dem Euromaidan genauso wenig untereinander vernetzt wie in Bezug auf ukrainische Themen zivilgesellschaftlich engagiert. Als die Ereignisse auf dem Kiewer Euromaidan zur Mobilisierung und Manifestation einer Zivilgesellschaft in der Ukraine führten, fand in Deutschland eine ähnliche Entwicklung wie in der Ukraine statt. Der Euromaidan war die Initialzündung für die Vernetzung der Ukrainer in Deutschland und für ihr Engagement, aus dem heraus eine "diasporic community" entstand.

Das Gefühl, dass Hilfe notwendig sei, sowie ein wachsendes Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe der Ukrainer in Deutschland motivierte viele, sich an Solidaritätsprotesten und gemeinschaftlichen Aktionen zu beteiligen. Ende 2013 und Anfang 2014 kam es zu einer Vielzahl politischer Aktivitäten, deren Intensität, Organisation, Ziele und Mittel sich seitdem ständig verändern. Die Interviews zeigen, dass viele Aktivitäten seit ihrer Gründung den Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung durchlaufen. Der Einsatz sozialer Medien zur Initiierung von Protesten und gemeinschaftlichen Aktivitäten ermöglichte vermutlich nicht nur diesen Prozess, sondern war auch Mittel zur Etablierung neuer Kontakte und zum Ausbau persönlicher Netzwerke.

Neben den sozialen Medien spielte auch die Kirche eine entscheidende Rolle für die Vernetzung der Mitglieder der "diasporic community" untereinander. Vor dem Euromaidan war die Kirche (vor allem die Ukrainische griechisch-katholische Kirche) die einzige Plattform für Ukrainer in Deutschland, um sich zu treffen, zu diskutieren und Ideen auszutauschen. Während des Euromaidan gewann dieser Austausch zunehmend an Bedeutung. Darüber hinaus wurde der Vernetzungsprozess auch von Ukrainern selbst angetrieben, etwa über die Abhaltung sogenannter Stammtische. Weiterhin legten zunehmend auch die ukrainische Botschaft und die Generalkonsulate in Deutschland einen Fokus auf die Vernetzung von Ukrainern in Deutschland, etwa über die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen.

Weiterhin machten die Interviews deutlich, dass die gemeinsamen Werte der Gruppe grundlegend für die Vereinigung der Mitglieder der Diaspora und ihrer unterschiedlichen Formen des Engagements sind. Genannt werden vor allem "Euromaidan-Werte" und "europäische Werte", wie sie in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union aufgeführt werden, etwa Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Für die Interviewten entsteht durch diese gemeinsame Schnittmenge auch eine konstante Verbindung zum Euromaidan in Kiew und zur Zivilgesellschaft in der Ukraine. Angesichts der Breite und der fortschreitenden Institutionalisierung des Engagements der Ukrainer in Deutschland ist davon auszugehen, dass eine solchermaßen stabilisierte "diasporic community" langfristig betrachtet das Potential hat, als nichtstaatlicher Akteur zu fungieren.

Das Engagement der "diasporic community"

Die ersten ukrainischen Diasporainitiativen, die im November 2013 in Deutschland entstanden, organisierten hauptsächlich politische Proteste und Informationsaktivitäten (zum Beispiel die Euromaidan Wache Berlin). Ihr Engagement bestand nicht nur aus Solidaritätsbekundungen mit den Protesten in Kiew, viele Informationsinitiativen richteten sich genauso an die deutsche Öffentlichkeit. Die Interviewten berichteten, dass viele der zuvor politisch ausgerichteten Initiativen das Spektrum ihrer Betätigung im Zuge der ersten gewalttätigen Vorfälle auf dem Euromaidan und des nachfolgenden Kriegs in der Ostukraine ausweiteten – und ihre Aktivitäten nun auf die Ukraine konzentrieren, etwa in Form von humanitärer Hilfe für die an den Folgen des Kriegs in der Ostukraine leidendenden Ukrainer oder durch militärische Unterstützung der ukrainischen Armee. Gleichzeitig gewinnen kulturelle sowie Informationsaktivitäten in Deutschland wieder an Bedeutung, da der Bedarf besteht, der deutschen Öffentlichkeit ukrainische Belange zu erklären und den "weißen Fleck" auf der mentalen Karte der Deutschen zu füllen.

Das Engagement in der Ukraine

Humanitäre und militärische Hilfe sind zentral für das Engagement der "diasporic community". Zu ihren Hauptaktivitäten zählen die Versorgung von Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen wie Waisenhäusern mit Geräten und Medikamenten, die Unterstützung von Familien und Hinterbliebenen von Soldaten sowie Flüchtlingen und – zu Beginn des Konflikts in der Ukraine – die Ausstattung der ukrainischen Armee, etwa mit Uniformen und Schutzwesten. Dieses Engagement wurde für notwendig erachtet, weil der Staat – an den Folgen des Krieges in der Ostukraine und der Wirtschaftskrise leidend – nicht in der Lage schien, dies selbst zu leisten. Im Rahmen der humanitären Hilfe kooperieren ukrainische Aktivisten in Deutschland oft mit der Zivilgesellschaft in der Ukraine. Die Interviewten betonten, dies diene nicht nur als Kontrollmechanismus, der sicherstellen soll, dass Spenden ihre Empfänger erreichen, sondern sei auch von entscheidender Bedeutung, um Informationen aus der Ukraine zu erhalten. Die Mitglieder der "diasporic community" teilen – wie oben beschrieben – europäische Werte und bestehen im Rahmen ihrer Aktivitäten und Kooperationen mit Partnern in der Ukraine auch strikt auf diese Werte. So wird etwa ihr Engagement demokratisch strukturiert, so dass Entscheidungsfindungen oft auf Diskussionen basieren, an denen sich alle beteiligen können. Zudem folgen die Interviewten bei ihren Aktivitäten Transparenzregeln, beispielsweise indem Ausgaben und Tätigkeitsberichte veröffentlicht werden – nicht nur um das Vertrauen der deutschen Partner zu gewinnen, sondern auch um das diesen Regeln zugrunde liegende normative Konzept zu stärken. Das beeinflusst auch die Arbeit mit den Partnern in der Ukraine – die Interviewten geben an, dass sie sich nicht nur der Verlässlichkeit ihrer Partner versichern, sondern auch auf deren Seite Transparenz erwarten. Langfristig kann das Eintreten für demokratische Normen und die Anforderung an die Partner in der Ukraine, diese Normen zu erfüllen, die Zivilgesellschaft in beträchtlichem Maße beeinflussen und zu einer grundlegenden Demokratisierung der Ukraine von unten her führen.

Das Engagement in Deutschland

Ein wichtiger Teil der ukrainischen Aktivitäten in Deutschland soll die Zivilgesellschaft in der Ukraine unterstützen und stabilisieren und trägt so indirekt zu einer Demokratisierung des Landes bei. Gleichzeitig kann unter den Aktivisten aber auch der Trend beobachtet werden, sich wieder auf kulturelle und Informationsaktivitäten in Deutschland zu konzentrieren. Diese richten sich nicht nur an Mitglieder der "diasporic community", sondern auch an die deutsche Gesellschaft – sie sollen die Lücke zwischen der deutschen Gesellschaft und den Ukrainern schließen und deren beschränkte Sichtbarkeit ausweiten, wie die Interviewten häufig betonten. So haben die ukrainischen Aktivisten beispielsweise den Eindruck, dass der Euromaidan von der deutschen Gesellschaft falsch wahrgenommen wurde, indem er in der öffentlichen Debatte in Deutschland häufig mit einer rechten Bewegung gleichgesetzt wurde. Sie setzten sich aktiv für eine Veränderung dieser Sichtweise ein, etwa durch die Übersetzung ukrainischer Nachrichten ins Deutsche, durch die Verwendung ihrer Parolen auf zahlreichen Demonstrationen in deutscher Sprache sowie durch die Organisation von Informationsveranstaltungen, auf denen sie erklärten, dass es dem Euromaidan nicht um Nationalismus, sondern um europäische Werte ging.

Gleichzeitig äußerten die Interviewten den Eindruck, dass die ukrainische Kultur und Geschichte häufig mit der russischen assoziiert wird. Das scheint hauptsächlich an der historischen Wahrnehmung der Ukraine als reinem "postsowjetischen" Staat zu liegen, der weiterhin Teil der russischen Einflusssphäre ist. Die engen Verbindungen zwischen Deutschland und Russland verstärken dieses Verständnis von der Ukraine genauso wie der starke Einfluss der russischen Propaganda in Deutschland, so die Interviewten. Um dieser Wahrnehmung etwas entgegenzusetzen, organisieren Aktivisten verschiedene Veranstaltungen zu ukrainischer Kultur und Geschichte.

Als weiteres Problem macht die "diasporic community" die Indifferenz vieler Deutscher in Bezug auf das Engagement von Ukrainern aus. Obwohl der Euromaidan, die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine lange in den deutschen Medien präsent waren und die Deutschen die humanitäre Hilfe für die Ukraine unterstützt haben, beschrieben viele der Interviewten einen Mangel an Unterstützung für die Aktivitäten der "diasporic community". Dies zeigte auch die geringe Vernetzung zwischen der "diasporic community" und anderen deutschen Akteuren, etwa Zivilgesellschaft, Medien und politischen Institutionen. Dieses Problem geht nicht nur auf eine fehlende oder kritische Wahrnehmung des ukrainischen Engagements durch die deutsche Gesellschaft zurück, sondern liegt auch an fehlenden Plattformen für gemeinsame Initiativen. Nur wenige deutsche Institutionen haben mit ukrainischen Akteuren in der Ukraine selbst oder in Deutschland vor 2014 zusammengearbeitet. Die wenigen von den Interviewten erwähnten Organisationen halten meist nur einmal jährlich stattfindende Konferenzen oder runde Tische ab, verfolgen aber keine langfristigen Aktivitäten – etwa zum Kapazitätsaufbau in der Ukraine –, die auch die in Deutschland lebenden Ukrainer durch ihre Qualifikationen und interkulturellen Kompetenzen unterstützen könnten. Einige wenige Ausnahmen sind die "Kiewer Gespräche" und bilaterale Initiativen wie die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission, das UKRAINE Network oder das Ukrainelab-Forum, die nach dem Euromaidan gegründet wurden und hauptsächlich Vernetzungsforen sind. Trotz dieser Initiativen finden Kooperationen zwischen deutschen und ukrainischen zivilgesellschaftlichen Akteuren insgesamt nur in sehr begrenztem Ausmaß statt. Die Anläufe von Ukrainern, Zugang zur deutschen Öffentlichkeit zu finden, haben meist kaum langfristigen Erfolg. Mit ihrem Engagement bemüht sich die "diasporic community" dennoch aktiv, die deutsche Wahrnehmung von der Ukraine zu beeinflussen, so dass langfristig das Potential entsteht, den "weißen Fleck" auf der mentalen Landkarte der Deutschen zu füllen und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine positiv zu beeinflussen.

Fazit

In der Geschichte waren die Ukrainer lange Zeit eine unsichtbare Gemeinschaft, ein "weißer Fleck" auf der mentalen Landkarte der deutschen Öffentlichkeit. Der Euromaidan führte zur Entstehung einer neuen Gruppe: der "diasporic community". Der hohe Vernetzungsgrad ihrer Mitglieder untereinander und deren gemeinsame europäische Wertebasis verschaffen dieser Gruppe das Potential, als neuer nichtstaatlicher Akteur aufzutreten, sollten sich die Institutionalisierung und Professionalisierung ihres Engagements fortsetzen. Zur Abschätzung ihres Potentials wurden zwei Hauptbereiche des Engagements analysiert. Es hat sich gezeigt, dass die beschriebenen Aktivitäten das Potential besitzen, die Stabilisierung und Demokratisierung der Ukraine langfristig zu unterstützen – durch Bereitstellung von gezielter Hilfe und durch Verbreitung demokratischer Praktiken in Zusammenarbeit mit Akteuren der ukrainischen Zivilgesellschaft. Gleichzeitig erlebt die "diasporic community" in Deutschland einen neuen Trend: Immer mehr Aktivisten arbeiten in deutschen Projekten, die den Aufbau von Kapazitäten in der Ukraine unterstützen. Damit stellen sie nicht nur ihre Expertise zur Verfügung, sondern bilden mit ihrer interkulturellen Kompetenz auch eine Brücke zwischen deutscher und ukrainischer Zivilgesellschaft.

Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt

Dies ist eine gekürzte Fassung des Artikels, der erstmalig in Ukraine-Analytica 2 (4)/2016, S. 49–57 auf Englisch publiziert wurde. Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt der Zeitschrift Ukraine-Analytica und den Autoren für die Erlaubnis zum Nachdruck. Die ganze Studie zur ukrainischen Diaspora "#EngagEUkraine. Engagement der Ukrainer in Polen und Deutschland" ist unter dem folgenden Link zu finden: Externer Link: http://iep-berlin.de/wp-content/uploads/2016/05/EngagEUkraine.-Engagement-der-Ukrainer-in-Polen-und-Deutschland.pdf.

Die vollständige Version des Artikels auf Englisch finden Sie unter Externer Link: http://ukraine-analytica.org/wp-content/uploads/germany.pdf.

Lesetipps

Fussnoten

Ljudmyla Melnyk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP) und Leiterin des Projektes zur Förderung ukrainischer Denkfabriken. Zu ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten gehören die Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine sowie interkulturelle Kommunikation. Studium: Lessja Ukrajinka-Universität Wolhynien (Magister) und Johannes Gutenberg-Universität Mainz (M.A.).

Magdalena Patalong ist Projektmitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP). Sie beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Zivilgesellschaft in Osteuropa sowie der Östlichen Partnerschaft und den EU-Russland Beziehungen. Studium: Ludwig-Maximilians-Universität München (B.A.) und Freie Universität Berlin (M.A.).

Richard Steinberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg (UHH) und am Institut für Europäische Politik (IEP) in Berlin. Er promoviert derzeit am Lehrstuhl für Europäische Integrationsgeschichte der UHH zum Thema »Das Konzept der Krise in der europäischen Integrationsgeschichte«. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit sind Geschichte der Europäischen Integration und soziale Integration der Europäischen Union. Richard Steinberg ist Alumnus der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw).