Zusammenfassung
Obwohl das ukrainische Parteienrecht nur landesweit aktive Parteien vorsieht, gibt es de facto Parteien, die als ausschließlich regionale Parteien organisiert sind. Der vorliegende Beitrag analysiert die Merkmale und Perspektiven dieser regionalen Parteien und ihren Einfluss auf den derzeit stattfindenden Wandel der ukrainischen Parteienlandschaft.
Einleitung
Regionale Parteien werden hier verstanden als Parteien, die sich sowohl in ihrer Organisation als auch in ihrer Programmatik vorrangig auf eine Region in der Ukraine beziehen. Einen Überblick über die entsprechenden Merkmale im Vergleich zu nationalen, d. h. landesweiten Parteien gibt Tabelle 1.
Regionale Parteien stehen im Widerspruch zu den rechtlichen Anforderungen an politische Parteien, so dass bei der Reform des Parteiensystems in der Ukraine ein Regulierungskonflikt entsteht. Verschärft werden könnte dieser Konflikt bezüglich regionaler Parteien potentiell im Hinblick auf die separatistischen und nicht anerkannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk.
Rechtliche Forderung nach landesweiten Parteien
Im Unterschied zum Beispiel zu Deutschland, wo es für Parteien möglich ist, sich nur in einem Bundesland zu organisieren, wie etwa die CSU nur in Bayern vertreten ist und auch bei Bundestagswahlen nur in Bayern Kandidaten aufstellt, muss der Begriff der regionalen Partei in der Ukraine in Anführungszeichen verwendet werden, da solche Parteien aus rechtlicher Perspektive nicht existieren.
Jedweder "Regionalismus" wird in der Ukraine, die historisch zu mehreren verschiedenen Staaten gehört hat, von vielen Gesetzgebern skeptisch gesehen. Eine Bestätigung hat diese negative Einstellung gegenüber separatistischen Strömungen insbesondere in Folge der Ukraine-Krise mit der Annexion der Krim und dem bewaffneten Konflikt in der Ostukraine gefunden.
Die ukrainische Verfassung konzentriert sich bei der Regelung politischer Institutionen auf die Förderung einer einheitlichen ukrainischen Nation. Anstelle von Föderalismus wurde so ein Zentralstaat mit einer starken exekutiven Vertikale gewählt, in dem z. B. die Gouverneure in den Regionen vom nationalen Präsidenten ernannt werden. Die Erwartung war, dass die politischen und staatlichen Institutionen dieses Ziel verinnerlichen und strukturell übernehmen werden.
Entsprechend dieser Logik wurden in das Parteirecht die Bestimmung aufgenommen, dass politische Parteien von einem "gesamtnationalen Programm der gesellschaftlichen Entwicklung" geprägt sein sollen und weder durch ihr Programm noch durch ihre Tätigkeit die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine gefährden dürfen, so das Parteiengesetz von 2001.
Politische Parteien werden deshalb auch zuerst auf der zentralen (nationalen) Ebene durch das Justizministerium registriert, wobei eine Registrierung nur möglich ist, wenn nicht weniger als 10.000 Unterschriften aus nicht weniger als zwei Dritteln der Regionen und (nach der gesetzlichen Regelung von 2001 auch aus) nicht weniger als zwei Dritteln der Bezirke der Städte Kiew und Sewastopol sowie der Autonomen Republik Krim vorgelegt werden.
Bei der Registrierung einer Partei müssen folgende Dokumente vorgelegt werden: Unterlagen zu den Parteigründern, Beschluss über die Gründung der Partei, Informationen zu den Entscheidungsorganen der Partei, ihre Satzung und ihr Programm. Für die Registrierung wird eine Verwaltungsgebühr von 140 Mindestlohnsätzen (derzeit ca. 7.500 Euro) erhoben. Seit April 2014 wurden auf diese Weise über 150 neue Parteien registriert und zum 01. Oktober 2016 betrug die Gesamtzahl der in der Ukraine registrierten politischen Parteien 350.
Im Anschluss an die Registrierung soll die Partei innerhalb eines halben Jahres ihre regionalen und lokalen Vertretungen in nicht weniger als in zwei Dritteln der Regionen sowie in Kiew (und nach der alten gesetzlichen Regelung auch auf der Krim und in Sewastopol) gründen. Die regionalen Verbände der Parteien werden durch die jeweiligen Zweigstellen des Justizministeriums registriert.
De facto regionale Parteien
Die rechtlichen Vorgaben zur Förderung landesweiter Parteien hindern aber einige Parteien nicht daran, ihre tatsächliche Tätigkeit auf eine Region zu beschränken. Der rechtlich vorgesehene landesweite Charakter bezieht sich nämlich nur auf die formale Präsenz über Vertretungen in einer Mehrzahl der Regionen des Landes, nicht aber auf tatsächliche Aktivitäten oder Wahlergebnisse.
Dementsprechend gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Anzahl der formal registrierten regionalen und lokalen Vertretungen und dem Wahlerfolg der Partei. Zum Beispiel verfügt die Sozialistische Partei der Ukraine formal landesweit über mehr als 31.000 Vertretungen, während es in der Ukraine insgesamt nur 30.000 Städte und Ortschaft gibt. Bei den Parlamentswahlen 2012 erreichte die Partei trotzdem landesweit nur 0,45 % der Stimmen (entsprechend gut 90.000 Wählern, also umgerechnet etwa drei pro Vertretung). 2014 nahm die Partei an den landesweiten Parlamentswahlen nicht einmal teil. Umgekehrt erhielt die Partei Selbsthilfe ("Samopomitsch") mit nur 195 eigenen Vertretungen landesweit bei den Parlamentswahlen 2014 fast 11 % der Stimmen (mehr als 1,7 Millionen Wähler).
Neben Parteien, die ihren landesweiten Anspruch aufgrund fehlender Popularität nicht einlösen können, gibt es aber auch Parteien, die sich bewusst auf eine Region oder gar (als "Rathaus-Partei") auf eine Stadt beschränken. Dabei nehmen die meisten Mitglieder dieser Parteien und auch ihre Wähler die Parteien als regionale oder lokale Interessenvertreter wahr. So erklärt zum Beispiel ein Anhänger auf der Internet-Seite der Ukrainischen Meeres-Partei von Serhii Kiwalow, die nur in Odessa antritt, dies sei "eine Partei, die die Bedürfnisse der Region den Behörden des Landes und jedem Bürger des Landes vermitteln kann. Ich bin beeindruckt von der Partei, weil sie aus Odessa ist".
Stärkung der regionalen Perspektive
In den letzten Jahren ist die regionale und lokale Perspektive für ukrainische Parteien immer wichtiger geworden. Ein Grund hierfür war die bei den Lokalwahlen 2010 zum ersten Mal geltende Forderung, dass alle Kandidaten Parteimitglieder sein müssen. Einzige Ausnahme waren 2010 ländliche Wahlkreise, in denen auch unabhängige Kandidaten antreten konnten. Für die Lokalwahlen 2015 wurden unabhängige Kandidaten auch für die Bürgermeisterwahl erlaubt.
Zusätzlich führte die nach dem EuroMaidan einsetzende Dezentralisierungs-Debatte in Kombination mit zunehmender zivilgesellschaftlicher Initiative auf lokaler Ebene ebenfalls zu einer Stärkung regionaler Parteien. Die politischen Parteien erwarteten, dass die Dezentralisierung zu einer größeren Bedeutung der regionalen und lokalen Ebene führen würden. In Vorbereitung auf diese Entwicklung mobilisierten die Parteien zusätzliche Ressourcen. Die partei-interne Übergabe von Finanzmitteln und Kompetenzen an die regionale und lokale Ebene wurde eingeleitet. Da die Dezentralisierung im nationalen Parlament umstritten ist, ist derzeit noch nicht absehbar, ob diese partei-internen Entwicklungen von Dauer sein werden.
Die regionalen Parteien
Die eigentlichen regionalen Parteien, die wirklich nur in einer Region aktiv sind, sind ebenfalls in das informelle politische Machtgefüge des Landes eingebunden.
Es gibt Phantomparteien, die nur aktiv werden, um über die Vertretung in Wahlkommissionen und Zugriff auf Sendeplätze für Wahlwerbung den Verlauf der Wahlen zu manipulieren und die oft nicht einen einzigen Kandidaten für die Wahlen aufstellen. Sie handeln offensichtlich im Interesse anderer Parteien, die selber nicht für Manipulationen haftbar gemacht werden wollen. Bei den Lokalwahlen 2015 haben so neun in Wahlkommissionen vertretene Parteien keinen einzigen Kandidaten für die Wahl nominiert. Diese Parteien werden als "technische" Parteien bezeichnet.
Die "echten" regionalen Parteien konzentrieren ihre Wahlkämpfe auf die regionale oder lokale Identität. Dadurch erhalten sie landesweit wenig Aufmerksamkeit und werden auch in der nationalen Medienberichterstattung kaum wahrgenommen. So müssen die regionalen Parteien auch keine Antworten auf die allgemeinen Probleme des Landes geben und sich ideologisch nicht festlegen. Sie präsentieren sich vielmehr als effektive Interessenvertreter ihrer Region oder Stadt in einem weitgehend apolitischen Sinne.
Dabei sind diese regionalen Parteien in der Regel in nationale politische Netzwerke integriert. Die erfolgreiche regionale Partei von Transkarpatien "Jedinij Zentr" hat so den – in der nationalen Politik früher als Minister und Leiter der Präsidialverwaltung sowie jetzt als Parlamentsabgeordneten aktiven – Viktor Baloha als Patron. Die in der Region Winnyzja aktive Partei "Winnizka Jewropejska Stategija" hat Wolodymyr Hrojsman als Patron, den derzeitigen Ministerpräsidenten, ehemaligen Parlamentspräsidenten und Abgeordneten der Partei von Präsident Poroschenko. Die regionale Partei "Tscherkaschtschany" aus der namensgebenden Region Tscherkasy hat regionale Abgeordnete der durch den Oligarchen Dmitro Firtasch unterstützten Partei "Ridne Misto" übernommen und wird jetzt inoffiziell durch Mitglieder der Partei Vaterland ("Batkiwschtschyna") von Julia Timoschenko koordiniert. Die Partei "Dovirjaj Dilam" des Bürgermeisters von Odessa, Genadij Truchanow, gilt als Vertreter der Interessen des Oligarchen und ehemaligen Gouverneurs von Dnipropetrowsk, Igor Kolomoiskij. Die in Chmelnyzkij aktive Partei "Sa Konkretni Spravy" wird ebenfalls von einem ukrainischen Oligarchen unterstützt, Alexander Gerega, der in der Ukraine eine sehr erfolgreiche Kette von Baumärkten betreibt.
Die Offenlegung des Wesens dieser Parteien ist gleichzeitig die Antwort auf die Frage nach ihrer politischen Zukunft. Da sie von ihrem "Gönner" abhängig sind, folgen sie seinen Höhen und Tiefen.
Unter den regionalen Parteien besitzen die Parteien der ethnischen Minderheiten eine besondere Stellung. Größere Bedeutung haben die zwei Parteien der ethnischen Ungarn in Transkarpatien, wo ca. 150.000 Ungarn (entsprechend knapp 13 % der regionalen Bevölkerung) wohnen. Diese beiden Parteien sind ein separates Phänomen und sind stark durch den Rechtsruck in der ungarischen Politik geprägt. Auch hier gibt es aber Verbindungen in die nationale ukrainische Politik. Der Vorsitzende einer der beiden ungarischen Parteien sitzt so für den Block Poroschenko im nationalen Parlament.
Schlussfolgerungen
Trotz der fehlenden rechtlichen Anerkennung existieren de facto in der Ukraine relativ stabile Parteien, die eindeutig nur regionalen oder lokalen Charakter haben. Diese Parteien sind aber nicht Ausdruck einer regionalen Isolation, sondern sind gut in die informellen Netzwerke der nationalen Politik integriert. Sie sind damit ein weniger sichtbarer, aber durchaus wichtiger Teil der informellen Machtkämpfe in der ukrainischen Politik. Die regionalen Parteien bringen ihrer Region materielle Vorteile durch die Interessenvertretung in der nationalen Politik und sichern nationalen Politikern gleichzeitig stärkeren Einfluss auf der regionalen Ebene.
Die relative Stabilität regionaler Parteien basiert dabei auf personellen Netzwerken und dem Verzicht auf eine ideologische Positionierung, die es ihnen erlaubt eine Identifizierung mit Machthabern oder Opposition zu vermeiden. In ihrer derzeitigen Form stellen die regionalen Parteien deshalb kein Gegengewicht zu den nationalen Parteien dar, sondern sind eher ihr verlängerter Arm in den Regionen.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines
Lesetipps
Das Gesetz "Über die politischen Parteien der Ukraine" vom 05.04.2001 ist im Internet abrufbar unter Externer Link: http://zakon2.rada.gov.ua/laws/show/2365-14
Mit den im Beitrag erwähnten "technischen" Parteien beschäftigen sich ausführlich: Boyko N., Herron E.: Assessing Bureaucratic Technical Parties in Postcommunist Politics: Evidence from Ukraine’s 2012 Parliamentary Election Administration, Paper prepared for presentation at the Midwest Political Science Association Conference, April 2–6, 2014, im Internet veröffentlicht unter Externer Link: http://cifragroup.org/wp-content/uploads/2014/04/boyko.herron.2h.pdf