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Analyse: Die psychischen Langzeitfolgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die psychischen Langzeitfolgen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl

Alexander M. Danzer Natalia Danzer

/ 12 Minuten zu lesen

Am 26. April 2016 jährte sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zum 30. Mal. Der Reaktorunfall in der Ukraine war der bisher schlimmste seiner Art in der Geschichte der Kernenergie. Die Folgen für die Bevölkerung sind bis heute spürbar.

Die ukrainische Stadt Prypjat liegt in unmittelbarer Nähe AKW Tschernobyl. Nach dem Super-GAU wurde eine Zone von knapp 30 Kilometern im Umkreis zur Sperrzone erklärt. Sie ist noch heute unbewohnbar. (© picture alliance / AP Photo)

Die Atomkatastrophe verseuchte auf lange Frist die Umwelt in der Umgebung des Kraftwerks und verursachte insbesondere bei stark betroffenen Kindern teils schwerwiegende gesundheitliche Schäden. Enorm sind auch die finanziellen Langzeitfolgen: Seit der Katastrophe wendet die Ukraine jährlich 5–7 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, um das zerstörte Kraftwerk und die Umgebung zu sichern und zu dekontaminieren sowie um Betroffene zu entschädigen. Eine aktuelle Forschungsarbeit zeigt nun auf, dass die tatsächlichen Folgekosten der Katastrophe weit darüber hinausgehen: Das Reaktorunglück von Tschernobyl verursachte über nunmehr drei Jahrzehnte hinweg für weite Teile der ukrainischen Bevölkerung eine verringerte Lebenszufriedenheit und eine schlechtere mentale Gesundheit. Erstaunlicherweise trifft dies auch auf die breite Masse der Bevölkerung zu, die lediglich von niedrigen Strahlenwerten betroffen waren, die in der Medizin als gesundheitlich unbedenklich gelten. Ursächlich für die negativen psychischen Langzeitfolgen sind daher höchstwahrscheinlich nicht die erhöhten Strahlenwerte, sondern die Verunsicherung und Ängste über zukünftige Erkrankungen, die sich auch in pessimistischeren Einschätzungen der Lebenserwartung widerspiegeln. Werden diese psychischen Effekte in finanzielle Gegenwerte umgerechnet, beläuft sich der aggregierte jährliche Wohlfahrtsverlust der faktisch nicht direkt betroffenen ukrainischen Bevölkerung auf 2–6 % des BIP. Hinzu kommt, dass sich ein Teil der betroffenen Erwerbsbevölkerung stärker auf staatliche Unterstützung verlässt und finanzielle Geldleistungen in Höhe von 0,5–0,6 % des Bruttoinlandsprodukts bezieht. Diese Ergebnisse weisen auf hohe zusätzliche externe Kosten der Katastrophe hin, die in bisherigen Betrachtungen unberücksichtigt blieben.

Einleitung

Am 26. April 1986 explodierte Reaktor 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl im Norden der Ukraine. Die unmittelbare Umgebung wurde so stark radioaktiv verseucht, dass die gemessenen Strahlenwerte (350–6.000 Millisievert, mSv) die durchschnittliche jährliche natürliche Strahlendosis von 2,1 mSv (terrestrische und kosmische Strahlung, auch Hintergrundstrahlung genannt) um das bis zu 3.000fache überstiegen. Im Umkreis von 30 Kilometern wurde eine Sperrzone eingerichtet, und mehr als 100.000 Bewohner wurden umgesiedelt. Die medizinische, epidemiologische und ökonomische Forschung hat sich bislang größtenteils mit den gesundheitlichen Folgen der am stärksten Betroffenen beschäftigt: Ersthelfer, Feuerwehrleute, Aufräumarbeiter (sogenannte Liquidatoren) und Personen, die sich in unmittelbarer Nähe zum Unglücksort aufhielten und im weiteren Verlauf evakuiert wurden. Insgesamt entsprechen diese Gruppen etwa 4 % der ukrainischen Bevölkerung.

Die freigesetzte Menge radioaktiver Stoffe kontaminierte weite Teile der Ukraine, Weißrusslands und des westlichen Russlands. Starke Winde sorgten je nach regionalem Niederschlag innerhalb der Ukraine für unvorhergesehene und lokal sehr unterschiedlich starke zusätzliche Strahlenbelastungen, vor allem durch die beiden radioaktiven Isotope Jod-131 und Caesium-137. Die ukrainische Bevölkerung außerhalb der Sperrzone war dementsprechend unterschiedlich starker Strahlenbelastung ausgesetzt, die in keinem systematisch-linearen Zusammenhang zur Distanz zum Atomkraftwerk stand. Insgesamt blieb die zusätzliche Strahlenbelastung für diese Bevölkerungsgruppe, die nicht zu den oben genannten stark betroffenen Gruppen gehörte, jedoch vergleichsweise niedrig. In den Monaten nach dem Unfall überstieg die zusätzliche Caesium-137 Strahlendosis in keiner Region 2,1 mSv. Im Durchschnitt lag sie bei 1 mSv pro Jahr und war damit halb so hoch wie die jährliche natürliche Belastung an kosmischer und terrestrischer Strahlung in der Ukraine. Zum Vergleich: Ein Umzug von der Nordsee in den Bayerischen Wald erhöht die natürliche Strahlenbelastung um circa 2–3 mSv pro Jahr.

Unsicherheit und Angst

Die leicht erhöhten Strahlenwerte, von denen 96 % der ukrainischen Bevölkerung betroffen waren, werden nach medizinischen Maßstäben als unbedenklich eingestuft. Die Wahrscheinlichkeit, dass körperliche oder neurologische Folgeschäden auftreten, gilt als gering. Trotzdem sind psychische Langzeitfolgen aus mehreren Gründen denkbar. Die Menschen waren nach dem Reaktorunfall erheblicher Unsicherheit und großen Ängsten ausgesetzt. Die fehlende Informations- und Aufklärungspolitik der Sowjet-Regierung stand zudem in starkem Widerspruch zu den von der Regierung ergriffenen Gegenmaßnahmen, die regional in unterschiedlicher Intensität ausgeführt wurden. Die Bevölkerung wusste nicht, wie hoch ihre individuelle Strahlenbelastung tatsächlich war, konnte diese aber aus der Intensität der Gegenmaßnahmen ableiten. Die augenscheinlichsten Maßnahmen waren die Verteilung von Jod-Prophylaxe-Tabletten sowie umfangreiche Schilddrüsen- und Bluttests. Die Diskrepanz zwischen staatlicher Geheimhaltungspolitik und den tatsächlich ergriffenen Gegenmaßnahmen führte in der Bevölkerung zu Verunsicherung über das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe und lieferte einen idealen Nährboden für Gerüchte um gesundheitliche Folgen. Die Tatsache, dass Radioaktivität diffus, geruchlos und unsichtbar ist und die körperliche Gesundheit eines Menschen schleichend und zunächst unbemerkt zerstören kann, schürte tiefe Verunsicherung und Angst.

Identifikation durch regionale Variation in der zusätzlichen Strahlenbelastung

In dem zugrundeliegenden Forschungspapier werden die psychischen (Langzeit-)Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl auf diejenigen 96 % der ukrainischen Bevölkerung untersucht, die einer vergleichsweise niedrigen zusätzlichen Strahlenbelastung ausgesetzt waren und keine klinisch nachweisbaren körperlichen Folgen aufweisen.

Zur Analyse werden Daten einer national-repräsentativen Stichprobe der ukrainischen Längsschnittbefragung (Ukrainian Longitudinal Monitoring Survey, ULMS) der Jahre 2003, 2004 und 2007 herangezogen. Aus der Untersuchungsgruppe werden Personen, die nach dem Reaktorunfall geboren wurden, ausgeschlossen. Außerdem werden stark Betroffene wie Aufräumarbeiter und umgesiedelte Personen nicht berücksichtigt. Somit verbleiben in der untersuchten Stichprobe 11.922 Jahr-Personen-Beobachtungen.

Die ULMS Befragung enthält neben soziodemographischen Indikatoren auch Informationen zum Wohnort der Befragten zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986 sowie zur mentalen Gesundheit (subjektive Lebenszufriedenheit). Als weiterer Indikator für die mentale Gesundheit werden ärztlich attestierte Depressionen in einem zweiten Datensatz, der ukrainischen Haushaltsbefragung (UHBS) des Statistischen Amtes von 2004 bis 2006, abgefragt. Die Effekte der Katastrophe werden durch das Ausmaß an zusätzlicher Caesium-137 Strahlung, die regional deutlichen Schwankungen unterlag, identifiziert. Die Strahlungswerte entstammen offiziellen Statistiken, die mit den Individualdaten anhand des Wohnortes des Jahres 1986 verknüpft werden. Dadurch können Befragte, die der Katastrophe stärker ausgesetzt waren, mit jenen verglichen werden, die kaum davon betroffen waren. Eine empirische Voraussetzung zur Bestimmung des kausalen Effekts der Katastrophe auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung ist, dass die zusätzliche radioaktive Strahlung die ukrainischen Regionen zufällig und unvorhersehbar traf, was durch exogene Wetterlagen gegeben ist.

Da die zusätzliche Strahlenbelastung in der verwendeten Stichprobe gering war, können mögliche Unterschiede in psychischen Langzeitschäden zwischen beiden Gruppen nicht ursächlich auf die radioaktive Strahlung zurückgeführt werden. Vielmehr erscheint es plausibel, dass unterschiedlich starke Katastrophen-Signale, die durch staatliche Gegenmaßnahmen ausgelöst wurden, den Bewohnern ihre mögliche Gefährdung andeuteten und dadurch psychische Probleme auslösten.

Maße für mentale Gesundheit

Der mentale Gesundheitszustand einer Bevölkerung ist von hoher Bedeutung für die Wohlfahrt einer Volkswirtschaft. Die psychischen (Langzeit-)Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl werden durch drei Indikatoren dargestellt. Das erste Maß für die mentale Gesundheit eines Menschen ist seine subjektive Lebenszufriedenheit. In der Bevölkerungserhebung (ULMS) wurden die Individuen nach der allgemeinen Zufriedenheit mit ihrem Leben befragt, und zwar auf einer 5-Punkte-Skala von überhaupt nicht (1) bis sehr zufrieden (5). Der Mittelwert liegt bei 2,59. Als zweiter Indikator für das mentale Wohlergehen wird die Tatsache herangezogen, ob Befragte mehr als 6 Monate lang an (diagnostizierten) Depressionen oder chronischen Angstzuständen litten (UHBS Daten). Ein dritter Indikator, der Hinweise auf die psychische Verfassung geben kann, ist die subjektive Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit bis zu einem bestimmten Alter (ULMS). Dieser Indikator gibt Auskunft darüber, wie optimistisch oder pessimistisch die Leute ihre eigene Lebenserwartung einschätzen. Wenn die Reaktorkatastrophe die Zukunftssorgen über künftige Krankheiten erhöht hat, sollte sich dies auch in pessimistischeren Einschätzungen der verbleibenden Lebenszeit widerspiegeln.

Ergebnisse: Reaktorkatastrophe verringert langfristig die Lebenszufriedenheit in der Ukraine

Die Ergebnisse der Regressionsanalysen bestätigen, dass die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Lebenszufriedenheit der ukrainischen Bevölkerung selbst nach über 20 Jahren noch signifikant negativ beeinflusst: Hat eine Person 1986 eine zusätzliche Strahlenbelastung in Höhe der natürlichen jährlichen Hintergrundstrahlung erhalten, reduziert sich ihre Lebenszufriedenheit durchschnittlich um 18 % einer Standardabweichung. Zum Vergleich: Der Tschernobyl-Effekt ist beinahe so groß wie der negative Einfluss einer chronischen körperlichen Erkrankung und ungefähr halb so groß wie der Effekt von Arbeitslosigkeit auf die Lebenszufriedenheit. Vor dem Hintergrund, dass dieser langfristige Effekt aus einer "unwirksamen" Maßnahme (in Form medizinisch unbedenklicher Strahlenbelastung) resultiert, erscheint die Größe dieses Effekts beachtlich.

Dieser kausale Effekt der Tschernobyl-Katastrophe wird in Abbildung 1 illustriert: Eine durch die Reaktorkatastrophe verursachte zusätzliche Strahlenbelastung von einer jährlichen Dosis natürlicher Hintergrundstrahlung (2,1 mSv) senkt die Wahrscheinlichkeit, mit seinem Leben "sehr zufrieden" zu sein, um 13,5 Prozentpunkte. Die Wahrscheinlichkeit, mit seinem Leben "sehr unzufrieden" zu sein, erhöht sich hingegen um fast 7 Prozentpunkte.

Diese Ergebnisse zur verringerten Lebenszufriedenheit erweisen sich in unterschiedlichen Sensitivitätsanalysen und bei Verwendung alternativer Schätzverfahren als robust. Beispielsweise sind die Ergebnisse nicht durch die Entfernung des Wohnorts der befragten Personen zu einem (beliebigen) Atomkraftwerk zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls oder zum Zeitpunkt der Befragung verzerrt. Bei einer solchen Verzerrung wäre vorstellbar gewesen, dass die Befragten womöglich "nur" wegen der Nähe zu einem Atomkraftwerk ängstlicher oder unzufriedener mit ihrem Leben sind.

Weitere Ergebnisse zu psychischen Langzeitfolgen

Die Ergebnisse zur Lebenszufriedenheit basieren auf subjektiven Empfindungen. In der Medizin werden solche Angaben zur Lebenszufriedenheit als Maß für die mentale Gesundheit verwendet. Inwieweit die empirischen Ergebnisse zur Lebenszufriedenheit sich auch tatsächlich in einer Verschlechterung von objektiv gemessener mentaler Gesundheit äußern, das heißt in Form von medizinisch diagnostizierten Depressionen und Angststörungen, wird anhand eines weiteren Datensatzes der amtlichen Statistik (UHBS) untersucht. Es zeigt sich (s. Tabelle 1), dass der Reaktorunfall von Tschernobyl die Wahrscheinlichkeit, unter Depressionen und Angststörungen zu leiden, langfristig um 1,7 Prozentpunkte erhöht hat (die Schätzung beruht abermals lediglich auf der Bevölkerung außerhalb der Sperrzone).

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Depressionsrate in der Ukraine im internationalen Vergleich mit 9 % relativ hoch; 7 % leiden an chronischen Angstzuständen. Insgesamt sind 12 % der ukrainischen Bevölkerung von einer der beiden psychischen Krankheiten betroffen (inklursive Doppelerkrankungen). Entsprechend ärztlich diagnostiziert sind allerdings Depressionen und Angststörungen bei lediglich 3 % der Bevölkerung. Setzt man das Regressionsergebnis von 1,7 ins Verhältnis zu den 3 %, zeigt sich ein beachtlicher Effekt der Tschernobyl-Katastrophe.

Wie lassen sich diese langfristigen negativen psychischen Effekte der Reaktorkatastrophe erklären, wenn davon auszugehen ist, dass es keine physischen Beeinträchtigungen in der breiten Masse der gering betroffenen Bevölkerung gab? Wie bereits ausgeführt, liegt die Vermutung nahe, dass die schlechtere mentale Gesundheit in der Verunsicherung und der Angst der Bevölkerung über mögliche zukünftige Erkrankungen begründet liegt. Wenn dies der Fall ist, so sollten Personen, die stärker von der Katastrophe betroffen waren, auch eine geringere subjektive Lebenserwartung aufweisen als Personen, die vergleichsweise weniger stark betroffen waren. Genau dieses Ergebnis zeigt die Analyse der subjektiv eingeschätzten Überlebenswahrscheinlichkeit: Diese sinkt in Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl drastisch. Eine zusätzliche radioaktive Belastung in Höhe einer jährlichen Dosis an Hintergrundstrahlung reduziert die individuell erwartete Überlebenswahrscheinlichkeit in der Ukraine außerhalb der Sperrzone um 7,5 Prozentpunkte (vgl. Tab. 1). Durch eine Umrechnung in Lebensjahre zeigt sich, dass dieser Effekt einer Verkürzung der subjektiven Lebenserwartung um durchschnittlich drei Jahre entspricht.

Höhere Abhängigkeit von Sozialtransfers

Welche Auswirkungen haben die psychischen Langzeitfolgen – gesunkene Lebenszufriedenheit, gestiegene Depressionsrate und geringere subjektive Lebenserwartung – für die ukrainische Gesellschaft? Psychische Krankheiten gehen oft mit Lethargie und Antriebslosigkeit einher. Deshalb soll untersucht werden, ob dies zu größerer Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen (wie beispielsweise Sozialhilfe) führt. Diese These bestätigt sich in weiteren Regressionsanalysen. In stärker belasteten Regionen bezieht ein größerer Teil der Erwerbsbevölkerung in Folge der Tschernobyl-Katastrophe Sozialleistungen als in weniger betroffenen Gebieten. Der Anteil der Sozialleistungen am Einkommen steigt um 3,5–4,4 Prozentpunkte pro zusätzlicher Jahresdosis an Hintergrundstrahlung an.

Aggregierter Wohlfahrtsverlust

Die negativen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe für die subjektive Lebenszufriedenheit deuten auf einen massiven gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsverlust hin. Anhand des sogenannten Lebenszufriedenheitskonzepts (life satisfaction approach) lässt sich dieser aggregierte Wohlfahrtsverlust monetär beziffern. Die dem Konzept zugrundeliegende Frage lautet vereinfacht: Welchen Geldbetrag müsste eine betroffene Person erhalten, um den aus der Katastrophe resultierenden Verlust an Lebenszufriedenheit auszugleichen? Dahinter steht die Annahme, dass zusätzliches Einkommen das subjektive Wohlbefinden erhöht und damit den Verlust an Wohlbefinden durch die Katastrophe hypothetisch kompensieren kann.

Die Schätzungen des aggregierten Wohlfahrtsverlusts wurden für zwei Szenarien durchgeführt. Wie bei allen vorangegangenen Analysen wurden die 96 % der Bevölkerung betrachtet, die außerhalb der Sperrzone unterschiedlich niedrig dosierter Strahlung ausgesetzt waren. Im ersten Szenario erhalten alle Betroffenen eine Ausgleichszahlung, im zweiten Szenario all diejenigen, die in radioaktiv stärker belasteten Regionen (über einem bestimmten Grenzwert) lebten.

Je nach Schätzung ergeben sich Ausgleichszahlungen in Höhe von 17–75 % des durchschnittlichen Monats-Haushaltseinkommens, das entspricht 14–148 US-Dollar (Referenzjahr 2004). Der aggregierte Wohlfahrtsverlust liegt damit – je nach Szenario – bei jährlich 2,2–5,5 % des nationalen Bruttoinlandsprodukts (s. Tabelle 2). Die Berücksichtigung dieser Kosten würde zu einer Verdopplung der tatsächlichen staatlichen Katastrophenausgaben für den Reaktorrückbau und die Umsiedlung und Kompensation der Liquidatoren führen.

Schlussbetrachtung

Der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 gilt als die verheerendste Nuklearkatastrophe der Geschichte. Folgen wie hohe gesundheitliche Schäden für die am stärksten betroffenen Menschen, insbesondere für Kinder, und die starke Schädigung der Umwelt sind unumstritten. Das gesamte Ausmaß der Katastrophe ist allerdings bis heute nicht geklärt. Die genaue Erfassung aller direkten und indirekten Folgen für Mensch und Natur stellt allein schon wegen eingeschränkter Datenverfügbarkeit eine große Herausforderung dar. Langzeitfolgen der zusätzlichen radioaktiven Belastung in der Umgebung des Reaktors können in kurzfristigen Schätzungen nur unzureichend erfasst werden. Außerdem ist es sehr schwierig zu bestimmen, welche Krankheiten, zum Beispiel Krebserkrankungen der Schilddrüse, kausal auf die Nuklearkatastrophe zurückzuführen sind, da diese Erkrankungen zum Teil noch Jahrzehnte später auftreten können.

In dem zugrundeliegenden Forschungspapier wurde ein in der bisherigen Forschung vernachlässigter Aspekt der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl betrachtet: Die psychischen Langzeitfolgen für die breite Masse der ukrainischen Bevölkerung, die nach aktuellem medizinischen Stand mit geringer und gesundheitlich unbedenklicher zusätzlicher radioaktiver Strahlung belastet wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass sich diese Menschen große Sorgen um den eigenen Gesundheitszustand machten. Diese Sorgen entstanden zu einem beträchtlichen Teil aus widersprüchlichem staatlichem Handeln. Einerseits wurden staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen der Katastrophe ergriffen, wie die Verteilung von Jod-Prophylaxe-Tabletten oder die Durchführung von medizinischen Kontrolluntersuchungen. Andererseits blockierte der Staat die Informations- und Aufklärungsarbeit. Diese Situation war ein idealer Nährboden für Gerüchte um die tatsächliche Gefahr und potentielle Gesundheitsimplikationen der Reaktorkatastrophe. Unsicherheit und Zukunftsangst lösten chronische Angstgefühle und Depressionen aus; die eigene Lebenserwartung wurde deutlich pessimistischer eingeschätzt. Viele Ukrainer berichteten einen Rückgang ihrer Lebenszufriedenheit. Dieser langfristig schlechtere mentale Gesundheitszustand verursachte einen bis in die 2000er Jahre (und vermutlich bis heute) andauernden gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsverlust für die Ukraine. Schätzungen zufolge beläuft sich der aggregierte Wohlfahrtsverlust durch die gesunkene Lebenszufriedenheit auf jährlich 2,5–5,5 % des BIP der Ukraine. Darüber hinaus führen psychische Krankheiten zu höheren Abhängigkeiten von staatlichen Transferleistungen, die in der Untersuchung mit jährlich 0,5 % des ukrainischen BIP beziffert werden.
Diese Werte stellen Untergrenzen dar, da in der Untersuchung die am stärksten betroffenen Personen aus der unmittelbaren Umgebung des Kraftwerks und die Aufräumarbeiter (zusammen 4 % der Bevölkerung) nicht berücksichtigt wurden. Das zeigt, dass die wahren Gesamtkosten der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl für die ukrainische Gesellschaft bislang massiv unterschätzt wurden.

Die Ergebnisse verdeutlichen die immense Bedeutung eines effizienten und glaubwürdigen Krisen- und Katastrophenmanagements von Regierungen. Selbst Regierungen in modernen Demokratien wie Japan neigen dazu, die (Langzeit-)Folgen von Katastrophen wie in Fukushima zu verharmlosen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Eine solche Informationspolitik kann jedoch schnell mit Glaubwürdigkeitsverlusten einhergehen, Verunsicherung auslösen, Gerüchte befeuern und damit das Gegenteil bewirken, also Unsicherheit und Angst schüren. Verlässliche Informationen über die tatsächliche Gefährdungslage und mögliche Folgen der Katastrophe können die Wahrscheinlichkeit von psychischen Langzeitfolgen für die Bevölkerung mindern. Der Staat kann zudem durch den Einsatz von psychologischen Kriseninterventionsteams und mit geeigneten Hilfsmaßnahmen langfristige psychische Gesundheitsschäden in der Bevölkerung eindämmen.

Insgesamt deutet die vorliegende Studie darauf hin, dass es für eine seriöse Bewertung von (möglichen) Reaktorkatastrophen essentiell ist, alle denkbaren direkten und indirekten Folgekosten zu berücksichtigen. Sie demonstriert, dass zu solchen indirekten Folgekosten auch immense langfristige Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit gehören können – selbst in dem Teil der Bevölkerung, der nicht unmittelbar von gesundheitsschädlicher radioaktiver Strahlung betroffen war. Aufgrund der enormen Ausmaße von Katastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima werden die Gesamtkosten für gewöhnlich sozialisiert und vom Steuerzahler getragen – und zwar unabhängig davon, ob Atomkraftwerke privat oder staatlich betrieben werden. Soziale Wohlfahrtsverluste durch derartige Katastrophen müssen daher in realistische und umfassende Kosten-Nutzen-Analysen der Energieerzeugung miteinfließen.

Literaturhinweis

  • Danzer, N. und Danzer, A.M. (2016), "The Long-Run Consequences of Chernobyl: Evidence on Subjective Well-Being, Mental Health and Welfare." Journal of Public Economics 135, 47–60.

Fussnoten

Prof. Dr. Alexander M. Danzer ist an der KU Eichstätt-Ingolstadt Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre (insbesondere Mikroökonomik). Er forscht vorwiegend im Bereich der empirischen Evaluation von Arbeitsmarktreformen und Sozialpolitik, der Analyse von Einkommen und Armut sowie der Interaktion von Migration und Integration.

Dr. Natalia Danzer ist stellvertretende Leiterin des Ifo Zentrums für Arbeitsmarktforschung und Familienökonomik am Ifo Institut München. Ihr wissenschaftlicher Fokus liegt auf der Evaluierung staatlicher Politik insbesondere an der Schnittstelle von Arbeits- und Familienökonomik sowie der Analyse der Bedeutung von ökonomischer Unsicherheit für die Familie.