Enttäuschende Handelsentwicklung, wenig kurz- bis mittelfristige Perspektive
Struktur und Umfang des ukrainischen Außenhandels haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Beim Gesamtwert der Exporte lassen sich seit der globalen Krise 2008/2009 grob zwei Phasen unterscheiden. Unmittelbar nach der Krise erholte sich der Export bis 2011/2012 rasch auf das 2008er Niveau von circa 70 Milliarden US-Dollar. Seit 2013 ist jedoch ein Niedergang erkennbar: Im Jahr 2013 schrumpften die Warenexporte um 8 %, 2014 um 15 % und 2015 um beinahe 30 %. In 2015 wurde mit einem Exportwert von 38 Milliarden US-Dollar sogar das Niveau des Krisenjahres 2009 unterschritten. Insgesamt ist der Exportwert in drei Jahren um 44 % eingebrochen. Wir sehen vier Gründe für diesen negativen Trend: Niedrigere Exportpreise, angespannte Handelsbeziehungen mit Russland (bei geringer Kompensation durch Gewinne im EU-Handel), Auswirkungen des Donbass-Konflikts auf die Exportkapazitäten sowie eine Vorsicht (potenzieller) internationaler Partner im Ukraine-Geschäft.
Vor der Krise 2008/2009 stellten Stahl- und Metallurgie-Erzeugnisse 40 % der Exporte dar, 2015 nur noch ein Viertel. In Warenwerten bedeutet dies, dass die Stahlexporte 2015 mit 8–9 Milliarden US-Dollar nur noch einen Bruchteil der Spitzenwerte von 27 Milliarden US-Dollar (2008) oder 22 Milliarden US-Dollar (2011) ausmachen. Seit dem Herbst 2014 sind die Rohstoffpreise global – nicht nur für Öl – massiv abgerutscht, die Metallpreise verloren massiv – von 550 US-Dollar auf 250 US-Dollar pro Tonne Anfang 2016. Zudem sind die Produktionsvolumina im zweiten Halbjahr 2014 um circa 30 % zurückgegangen und haben sich seitdem nicht wieder erholt.
Im Gegensatz hierzu hat der ukrainische Nahrungsmittelexport kontinuierlich und signifikant an Gewicht gewonnen – sowohl anteilig als auch nominal. Vor der Finanzkrise betrug der Nahrungsmittelanteil am Gesamtexport 14 %, nach der Finanzkrise 25 % und in den Jahren 2013 und 2014 stieg der Anteil auf 33 % beziehungsweise 40 %. Nominal wurde der Spitzenwert 2012 mit 18 Milliarden US-Dollar erreicht. 2015 betrug der Export trotz niedriger Agrarpreise noch 14,5 Milliarden US-Dollar (etwa 20 % weniger). Der Export von Agrarprodukten nach Europa lag 2014 mit 4,8 Milliarden US-Dollar leicht über dem Vorjahreswert von 4,6 Milliarden US-Dollar (für 2015 liegen noch keine Werte vor).
Bereits 2014 verbesserte die EU die Einfuhrbedingungen für ukrainische Waren in den EU-Binnenmarkt durch einseitiges Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit der Ukraine. Allerdings sind positive Effekte des EU-Abkommens im Agrarsektor begrenzt, da wichtige Quoten für den zollfreien Import in die EU (etwa für Weizen) sehr gering bemessen sind und bereits in den ersten Monaten des Jahres erfüllt werden. Bei Quotenüberschreitung kann weiter exportiert werden, jedoch fallen dann Importzölle an.
In Bezug auf die Exportdestinationen ist Russland noch immer der wichtigste Exportmarkt für ukrainische Waren. Im Vorjahr (2015) exportierte die Ukraine aber nur noch Güter für knapp 5 Milliarden US-Dollar nach Russland, ein Rückgang um 75 % innerhalb von vier Jahren. Im Jahr 2011 erreichten Exporte nach Russland mit 20 Milliarden US-Dollar und einem Anteil von 29 % am Gesamtexport ihren Spitzenwert (bei einem langjährigen Schnitt von 22–24 %). Durch den Niedergang der bilateralen Handelsbeziehungen kommt Russland nun nur noch auf einen Exportanteil von 13 %. Zum Vergleich: Die Exporte in die EU und nach Asien sind nominal seit 2011 auch um 25–30 % zurückgegangen. Der jeweilige Exportanteil beider Regionen erhöhte sich jeweils von einem Viertel auf ein Drittel.
Der starke Rückgang im Russlandexport ist das Ergebnis der Rezession in Russland, der Bestrebungen einseitig oder reziprok bilateralen Handel einzuschränken und letztlich auch der Güterstruktur der ukrainischen Exporte. Während 2014 nur 15 % der Nahrungsmittelexporte und 22 % der Stahlexporte in die GUS (als Proxy für Russland) gingen, betrug der Anteil an den Maschinenbauexporten 70 %.
Der Maschinenbau ist mit einem Anteil von rund 15 % der drittgrößte Exportsektor der Ukraine. Mit der Verschlechterung der Handelsbeziehungen zu Russland schrumpften die Exporte dieses Sektors seit 2011 stark – nominal in US-Dollar um 70 %.
Im Ostteil des Landes wurden die zuvor skizzierten Trends durch die Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes verstärkt. Die Exporte der Regionen Donezk und Luhansk gingen von in der Spitze 24 Milliarden US-Dollar (2011) um 80 % auf 4 Milliarden US-Dollar zurück. Der Anteil am Gesamtexport sank von ehemals über 30 % auf 14 % in 2015. Der unmittelbare Zahlenvergleich hinkt, da in 2015 nur noch die von der Ukraine kontrollierten Gebiete statistisch erfasst werden. Dennoch demonstriert er, welchen wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der Osten des Landes erfahren hat. Stark angestiegen sind hingegen der regionale Exportanteil der Zentralukraine (inklusive Kiew) und in einem geringeren Maße derjenige des südlichen Landesteils. Diese machen derzeit jeweils etwa 30 % der Exporte aus, während der agrarisch geprägte Westteil des Landes mit 12 % noch immer eine untergeordnete Rolle spielt.
Die kurz- und mittelfristigen Aussichten für eine deutliche Exportsteigerung sind begrenzt. Erstens ist der Stahlpreisausblick durch globale Faktoren getrübt, also eine schwache Entwicklung des Welthandels in Bezug auf Preise und Volumina. Diese wird auch hervorgerufen durch Wachstumsprobleme großer aufstrebender Länder bei globalen Überkapazitäten im Rohstoff- und Stahlsektor. Daher wird die Ukraine auf absehbare Zeit in diesem Sektor kaum frühere Exportvolumina und -werte erreichen, sogar wenn sich die politische Lage im Donbass nachhaltig verbessern sollte. Insofern gilt, dass die aktuelle wirtschaftliche und makrofinanzielle Stabilisierung der Ukraine, etwa im Vergleich zu den mittelosteuropäischen Nachbarstaaten, in einem sehr herausfordernden globalen Wirtschafsumfeld vollzogen werden muss.
Zweitens ist die Konzentration der Maschinenbauexporte auf Russland und die GUS ein schwerwiegendes strukturelles Hindernis beziehungsweise ist es unwahrscheinlich, dass eine schnelle und umfassende Umorientierung des Sektors auf westliche Märkte gelingen kann. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund des Ausbleibens von umfassenden Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) westlicher Firmen. Mehr Absatzchancen für ukrainische Industriegüter als in der EU gibt es in Schwellenländern, zum Beispiel in Asien. Aber auch hier ist angesichts der eingetrübten Wachstumsdynamik im asiatischen Raum mit starker Konkurrenz und nur moderaten Zugewinnen zu rechnen. Zudem erfordert die Eroberung neuer Märkte umfangreiche Modernisierungsinvestitionen.
Hinsichtlich des Landwirtschaftssektors ist die Situation erfreulicher. Hier scheinen trotz des herausfordernden lokalen Geschäftsklimas Wettbewerbsvorteile der Ukraine vorzuliegen. Die derzeit hinderlichen Quoten im Export von unverarbeiteten Agrargütern in die EU könnten sich hier längerfristig sogar mittelbar positiv wirken, falls hierdurch Investitionen in die Veredelung und den Export verarbeiteter Lebensmittel angeregt werden. Die Übernahme von EU-Produktstandards könnte dann längerfristig auch die Exportchancen in die EU und auf andere Märkte verbessern.
Durch das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit der EU sehen wir indes wenig kurz- bis mittelfristig wirksame positive Effekte auf die ukrainischen (Agrar-)Exporte. Die skizzierten Trends im Export haben nicht-triviale ökonomische und politische Implikationen. Denn sie unterstützen zumindest kurz- bis mittelfristig in gewisser Weise eher die von russischer Seite vertretene Sichtweise, dass die Ukraine weniger im EU-Handel profitiert, als sie beim Niedergang des Handels mit Russland beziehungsweise den GUS-Staaten verliert. Erst langfristig hat das weitreichende und umfassende Freihandelsabkommen mit der EU ein positives Potential. Dieses kann jedoch nur dann umgesetzt werden, wenn die Ukraine ihr institutionelles Umfeld und damit ihre Konkurrenzfähigkeit deutlich verbessert.
Die Importe der Ukraine sind in hohem Maße eine Funktion des Wechselkurses, der heimischen Nachfrage und der Energie- und insbesondere der Gaspreise. Sowohl die starke Abwertung wie auch die tiefe Rezession haben die Importe einbrechen lassen. Die in 2015 gefallenen Gaspreise haben den Importwert ebenfalls gedrückt. Damit sind die Importe – noch stärker als die Exporte – im Jahre 2015 im Vergleich zu 2013 um 55 % zurückgegangen. Dieser Rückgang, auch durch niedrige Gaspreise unterstützt, hat die außenwirtschaftliche Position der Ukraine deutlich verbessert. Dabei hat sich die Struktur des Warenimports weit weniger verändert, als die Exportstruktur. Weiterhin sind 30 % der Warenimporte Energieimporte, rund 20 % entfallen auf chemische Produkte und Maschinen (inklusive Fahrzeuge). Hinsichtlich der Importregionen gibt es jedoch Verschiebungen: Der direkte Gasimport aus Russland ist zuletzt stark durch Reimporte russischen Gases aus der EU (vor allem über die Slowakei) ersetzt worden. Dies hat den Anteil der Importe aus der EU gegenüber Russland erhöht.
Der heftige Importrückgang hat eine dringend notwendige Korrektur des nicht nachhaltig hohen Handels- bzw. Leistungsbilanzdefizits erzwungen. Die Handelsbilanz war 2015 nur leicht negativ, die Leistungsbilanz praktisch ausgeglichen. Für 2016 und 2017 erwarten wir indes eine Rückkehr zu Defiziten der Handels- und Leistungsbilanz. Hierfür sprechen die eher schwach prognostizierten Exporte, bei einer erwarteten Stabilisierung der Importe (Ende der Rezession, unterstellte relative Währungsstabilität). Allerdings sollte sich das Leistungsbilanzdefizit im historischen Vergleich noch in einem moderaten Rahmen von 3–4 Milliarden US-Dollar bewegen, was 3,5–4,5 % des BIP entspricht. So wurden etwa 2012 und 2013 (vor der massiven Währungsabwertung) weit größere, nicht nachhaltige Leitungsbilanzdefizite von 8–9 % des BIP erreicht.
Andererseits ist es negativ zu sehen, dass die Ukraine trotz starken Importrückgangs und trotz durch die massive Hrywnja-Abwertung stark gestiegener internationaler preislicher Wettbewerbsfähigkeit keine Außenhandelsüberschüsse erwirtschaften kann. Solche Außenhandelsüberschüsse sind zumindest temporär im Rahmen einer Anpassungsrezession, wie sie in der Ukraine stattgefunden hat, beziehungsweise nach einer heftigen Währungsabwertung, durchaus üblich. Insofern scheinen in der Ukraine limitierende strukturelle Faktoren (geringe Investitionen, erhebliche verbleibende Länder- und Währungsrisiken, massive Probleme bei der Erschließung von Nicht-GUS-Märkten), zyklische Faktoren beziehungsweise reine Preisüberlegungen zu dominieren.
Auch die Netto-ADI entwickelten sich 2015, wie schon 2014, sehr schwach. Ein Großteil des noch vorhandenen verhaltenen Netto-Kapitalzuflusses ist technischer Natur beziehungsweise stellt notwendige Rekapitalisierungen bei den verbleibenden westeuropäischen Banken im Land dar, unter Beteiligung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE). Diese hat sich im Rahmen von Schulden-gegen-Eigenkapital-Tauschtransaktionen substanziell an lokalen Tochterbanken westeuropäischer Banken beteiligt.
Die enttäuschenden ADI-, Außenhandels- und Leistungsbilanzentwicklungen haben nicht-triviale Implikationen auf den fundamentalen Hrywnja-Ausblick beziehungsweise damit gegebenenfalls auch auf das IWF-Programm und letztendlich die gesamtwirtschaftlichen Risiken. Denn die skizzierten Trends implizieren weiter einen gewissen fundamentalen Abwertungsdruck. Und dies,während die derzeit verwendeten Annahmen im IWF-Programm über die kommenden Jahren einen USD/UAH Kurs im Bereich von 24–25,5 unterstellen beziehungsweise die Währung derzeit nur mit harten Devisenmarktrestriktionen in diesem Bereich gehalten werden kann. Angesichts der fragilen Gesamtlage erscheint es auch wenig realistisch, dass die harten Restriktionen im Devisenmarkt beziehungsweise der damit verbundene de facto Festkurs des Hrywnja auf absehbare Zeit aufgegeben werden kann. Somit steigt auch das Risiko erneuter heftiger Marktverwerfungen, da gegebenenfalls wie in der Vergangenheit ein nicht nachhaltiger und fester Wechselkurs zu lange, das heißt über 2016–2017 hinaus, künstlich ausgedehnt wird.
Die Devisenbewirtschaftung (mit dem unmittelbarem Ziel, Kapitalabflüsse zu verhindern, die mittelbar aber auch Zuflüsse behindert), die fortgesetzte Unsicherheit bezüglich der Währungsentwicklung sowie die allgemein hohe Länderrisikowahrnehmung sind die wichtigsten praktischen Hindernisse für den Außenhandel und insbesondere für ADI. Gleiches gilt für die damit einhergehende Skepsis gegenüber der Stabilität des Bankensystems. Angesichts der schwachen Entwicklung der Gesamtwirtschaft, der Exporte, der ADI und auch der verbleibenden Wechselkursrisiken, erscheint es auch unwahrscheinlich, dass die Ukraine, trotz gewisser Erfolge in den letzten Jahren, auf absehbare Zeit ihre noch verbleibende hohe Auslandsverschuldung (Staat und privater Sektor) deutlich weiter reduzieren kann beziehungsweise eine nachhaltige außenwirtschaftlichen Position erlangen kann und nicht mehr auf internationale finanzielle Unterstützung angewiesen ist.
Außenschulden: Langfristige Tragbarkeit muss noch hergestellt werden
Hinsichtlich der Auslandsverschuldung sind die Sektoren Staat, Banken und Unternehmen zu unterscheiden. Die Summe der Schulden dieser Sektoren hatte kurz vor der Maidan-Revolution (4. Quartal 2013) ihren Höhepunkt erreicht (142 Milliarden US-Dollar), seitdem geht sie zurück. Bis Ende 2015 ist die Auslandsverschuldung nominell um circa 20 Milliarden US-Dollar oder 15 % gefallen (in Relation zum BIP hat sich der externe Schuldenstand durch die Währungsabwertung massiv von 80 % auf 130 % erhöht).
Der nominale Schuldenabbau ("externes Deleveraging") ist jedoch zwischen den Wirtschaftssektoren sehr ungleichmäßig verteilt. Ukrainische Banken reduzieren ihre Außenschulden seit 2009 massiv, bei einer gewissen Stabilisierung 2013–2014 und einem erneuten Rückgang 2015. Von einem nicht nachhaltigen Spitzenwert in 2008 von über 40 Milliarden US-Dollar hat der Sektor inzwischen fast drei Viertel seiner Schulden zurückgezahlt oder restrukturiert. Der Unternehmenssektor hat seine Auslandsschulden im gleichen Zeitraum ebenso um 20 Milliarden US-Dollar reduziert. Dieser fortgesetzte Schuldenabbau stabilisiert zwar die makrofinanzielle Position des Landes kurzfristig. Gleichzeitig ist der Schuldenabbau aber angesichts schwacher Investitions- und ADI-Volumina auch Ausdruck schlechter Investitionsbedingungen sowie fehlender Wachstumsperspektiven. Ohne hinreichend investitionsinduzierte Exporteinnahmen bleibt damit die außenwirtschaftliche Position der Ukraine langfristig sehr fragil.
Anders als die privaten Auslandsschulden haben sich die Staatsschulden im Ausland entwickelt. Sie haben sich seit der Finanzkrise 2008/2009 auf 36 Milliarden US-Dollar verdreifacht, seit dem "Maidan" sind sie um 6 Milliarden US-Dollar angestiegen. Die Restrukturierung internationaler Staatsanleihen mit einem Schuldenschnitt von circa 20 % im vierten Quartal 2015 hat den staatlichen Schuldenstand nur marginal gedrückt. Die externen Staatsschulden sind zuletzt durch die mit dem seit 2014 bestehenden IWF-Programm verbundenen öffentlichen Kredite und Garantien der USA und der EU (und anderer bilateraler Geber) angestiegen. Die Erhöhung der Währungsreserven mit IWF-Mitteln hat zudem die Außenschuld der Zentralbank seit 2013 um 5 Milliarden US-Dollar ansteigen lassen.
Das Problem der hohen Schuldenlast im öffentlichen Sektor wird kurz- bis mittelfristig durch zwei Faktoren etwas entschärft. Die Restrukturierung der internationalen Staatsschulden hat zwar die ausstehenden Schulden nur wenig gesenkt, jedoch beginnen die Rückzahlungen erst 2019. Bis dahin müssen "nur" Zinsen gezahlt, keine Tilgung geleistet werden. Zudem hat sich in den letzten Jahren die Kreditaufnahme weg vom Markt zu den öffentlichen Kreditgebern verschoben. Hier stehen 2016/2017 wenige Rückzahlungen an, und bei gewissen Reformleistungen der Ukraine ist hier mit Anschlussfinanzierungen zu rechnen.
Dennoch gibt es erhebliche kurz- und mittelfristige finanzielle Risiken für den ukrainischen Staat: Die Kredittranchen des IWF und davon abhängige Zahlungen der EU und Garantien der USA stocken derzeit aufgrund der mangelnden Reformen und der politischen Krise in der Ukraine. Seit September 2015 ist das derzeit laufende IWF-Abkommen eingefroren, und vor den Sommermonaten ist hier kaum mit Kompromisslösungen zu rechnen. Dies birgt fiskalische Risiken, da das ukrainische Haushaltsdefizit von geplant 3–4 % des BIP in 2016 teilweise durch ebendiese Kredite gedeckt werden soll (die IWF-Tranchen selbst sollen weiter in die Währungsreserven fließen).
Derzeit hat die Ukraine keinen Zugang zu internationalen Anleihemärkten, während der heimische Anleihenmarkt trotz starker Nachfrage nach Fremdwährungsanleihen nach lokalem Recht langfristig zu klein für die Finanzierung des Budgetdefizits ist. Daher muss die Ukraine auf absehbare Zeit wieder Anleihen am internationalen Markt platzieren können; gemäß dem IWF-Abkommen schon 2017 und spätestens sobald die Refinanzierungserfordernisse ab 2018/2019 wieder ansteigen. Die Rückerlangung des Marktzugangs wird sich allerdings mit einer fragilen und/oder sich verschlechternden außenwirtschaftlichen Position als schwierig gestalten.
In diesem Kontext ist zu betonen, dass die Skepsis vieler Investoren gegenüber der Ukraine weiter hoch bleibt. Nach der Umschuldung der Auslandsverbindlichkeiten im Herbst letzten Jahres war die Ukraine zunächst nicht mehr im Fokus internationaler Investoren. Angesichts des kurzfristigen Puffers durch die Umschuldung sind die Renditen auf international gehandelte ukrainische Staatsanleihen sogar leicht gefallen. Getrieben durch die schwierige innenpolitische Lage sowie wieder zunehmende Skepsis in Bezug auf die langfristige Schuldentragfähigkeit liegen die Renditen wieder bei knapp 10 %, auch ohne den Auslandschuldenstreit zwischen der Ukraine und Russland, der keine direkten Marktimplikationen hat. Dies ist im Kontext des aktuellen globalen Niedrigzinsumfelds ein hoher Wert und deutet auf erhebliche Risiken hin, da solch ein Verzinsungsniveau Länder wie Ägypten oder der Irak aufweisen. Solche Renditeniveaus deuten auch auf erhebliche Länderrisikoprämien am Finanzmarkt hin.Diese wiederum erschweren notwendige Investitionen beziehungsweise ADI in der Realwirtschaft beziehungsweise machen sie fast präventiv teuer (denn jede Investition muss mindestens mehr abwerfen, als diese hohe Prämie auf Staatspapiere).
Desweiteren wiesen kurzlaufende Anleihen teilweise wieder eine höhere Verzinsung auf, als länger laufende Anleihen. Solch eine gemäß normalen Marktstandards verzerrte Preisstruktur deutet auch auf zunehmende Überschuldungs- und Restrukturierungsrisiken hin. Mittelfristig sind die hier erkennbaren Marktsignale nicht zu unterschätzen. Einerseits deutet sich an, dass die letzte Umschuldung wohl zu gläubigerfreundlich war, andererseits ist die Ukraine gemäß des IWF-Programms bereits im Jahr 2017 auf substanzielle Marktfinanzierungen angewiesen.
Genauso wie der Staat haben einige große und international tätige ukrainische Firmen in den letzten Monaten ihre Auslandsschulden beziehungsweise internationalen Anleihen umgeschuldet – auch mehr oder weniger im Konsens mit den Gläubigern. Allerdings sind einige dieser Firmen innerhalb weniger Jahre durch mehrmalige Umschuldungen aufgefallen. Dieses eher seltene Muster sorgt dafür, dass selbst auf notleidende Firmen beziehungsweise Exposures konzentrierte Spezialisten sehr vorsichtig in Bezug auf finanzielle Engagements mit Ukraine-Konnex sind; und der zuvor skizzierte erneute Druck auf der Staatsfinanzierungsseite nährt auch die Sorge um erneute Firmenumschuldungen.
Die Finanzierungsvolumina westlicher und vor allem westeuropäischer Banken mit Ukraine-Bezug entwickeln sich weiterhin sehr verhalten, auch wenn sich die Dynamik der Reduktion etwas verlangsamt hat. Derzeit haben westliche beziehungsweise westeuropäische Banken circa 14 Milliarden US-Dollar Finanzierungen mit Ukraine-Bezug (lokale oder grenzüberschreitende Finanzierungen ausstehend). In der Spitze hatten westliche beziehungsweise westeuropäische Banken Forderungen von circa 40 Milliarden US-Dollar mit Ukraine-Bezug.
Konstanter in ihren Ukraine-Finanzierungen zeigen sich aus vielerlei Gründen bisher Banken mit russischem Kapital, deren Marktanteile in der Ukraine sogar in den letzten Jahren ansteigen, beziehungsweise das Exposure russischer Banken mit Ukraine-Bezug liegt derzeit noch um die 20 Milliarden US-Dollar. Diese hohe Abhängigkeit von russischer Finanzierung steht weiterhin im Gegensatz zu der aktuellen wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Ukraine, ohne dass hier allerdings unmittelbares Konfliktpotential entsteht. Die Notenbank der Ukraine behandelt die lokal registrierten Töchter russischer Banken gleichwertig zu anderen großen Marktakteuren, während die ukrainischen Tochterbanken russischer Kreditinstitute bis dato problemlos notwendige und substanzielle Rekapitalisierungsmittel von ihren russischen Konzernmüttern erhalten haben.
Die skizzierte Vorsicht von westlichen Investoren und Banken erschwert allerdings eine Stabilisierung der makrofinanziellen Situation. Gemäß IWF-Planung ist die Ukraine in den kommenden Jahren pro Jahr auf externe private Finanzierungsvolumina im Bereich von 5–7 Milliarden US-Dollar (davon 1–2 der Staat) angewiesen. Solche Summen erscheinen im Lichte aktueller Trends als zu optimistisch. Zudem gibt es auch Limitation bei anderen potenziellen Geldgebern, etwa der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE).
Finanzielles Engagement der EBWE: Substanziell, aber mit Limitationen
Prinzipiell hat sich die EBWE in der Ukraine in den letzten Jahren substanziell engagiert. Über die letzten Jahre (auch in 2014 und 2015) hat die EBWE im Schnitt pro Jahr circa 1 Milliarden Euro in der Ukraine investiert. Dies entspricht etwa den Summen, die der Ukraine netto als "reale" ADI pro Jahr zufließen. In den skizzierten EBWE-Finanzierungsvolumina sind auch substanzielle Transaktionen eingeschlossen, wie etwa eine Finanzierung über 300 Millionen US-Dollar für Naftogaz (zweckgebunden für den Einkauf von Gas auf westeuropäischen Märkten zur Aufstockung der Gasreserven). Gerade bei solchen großvolumigen Transaktionen achtet die EBWE sehr genau auf eine transparente Abwicklung beziehungsweise solide Praktiken der Unternehmensführung. Neben dieser Transaktion mit durchaus politischer Komponente hat die EBWE 2015 vor allem substanzielle Summen in den ukrainischen Bankensektor investiert (circa 380 Millionen Euro) beziehungsweise sich an zwei wichtigen ausländischen Kreditinstituten substanziell beteiligt (40 % Kapitalanteil an der Ukrsibbank/BNP Paribas und 30 % an der Raiffeisen Bank Aval).
Mit dem substanziellen Engagement im Bankensektor möchte die EBWE den Reform- und Umstrukturierungsprozess in einem der Wirtschaftssektoren unterstützen, in dem es bis dato wohl mit die meisten Fortschritte gab. Angesichts der geringen Wirtschaftsleistung der Ukraine haben die substanziellen Investitionen der EBWE zur Folge, dass die Institution dort mittlerweile deutlich überproportional engagiert beziehungsweise wohl zum größten Auslandsinvestor geworden ist. In Relation zum BIP beträgt das laufende Engagement der EBWE in der Ukraine 6,3 %. Das langfristig aggregierte Engagement (hier sind auch bereits ausgelaufene Projekte eingeschlossen) liegt sogar bei circa 12 % des aktuellen BIP. In Vergleichsländern werden hier nur Werte von 0,5–1 % (laufendes Engagement) beziehungsweise 2–5 % aggregiertes Engagement erreicht.
Insofern ist das Engagement der EBWE in der Ukraine bereits substanziell, das heißt hier gibt es nicht-triviale Limitationen in Bezug auf eine weitere Ausdehnung. Erstens hat auch eine Institution wie die EBWE Rücksicht auf (Länder-)Risikoüberlegungen zu nehmen, trotz ihrer Rolle als langfristiger, strategischer Investor zu Zeiten heimischer und internationaler Investitionszurückhaltung. Kritische Entwicklungen diesbezüglich wurden zuvor schon skizziert. Zweitens ist das EBWE-Engagement in der Ukraine schon heute von einem eher geringen Anteil der Privatwirtschaft im Gesamtportfolio geprägt (circa 53 % im Gegensatz zu circa 80 % im Schnitt weiterer wichtiger EBWE-Länder). Insofern wäre hier wohl auch erst eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Lage und eine umfassende Privatisierung notwendig, um mehr privatwirtschaftliche Engagements eingehen zu können und so insgesamt das Engagement ausweiten zu können.
Risiken aktueller Entwicklungen und Optionen zur Stärkung der makrofinanziellen Position
Die durch mehrere Faktoren begründete schwache Entwicklung der ukrainischen Exporte beziehungsweise das Risiko zur Rückkehr beträchtlicher Leistungsbilanzdefizite erschweren die nachhaltige Stabilisierung der ukrainischen Wirtschaft. Auch eine zukünftige (Re-)Finanzierung ukrainischer Staatsschulden ohne öffentliche ausländische Unterstützungsgelder wird so schwieriger. Die im Vergleich zu manchen Erwartungen schwache Außenhandelsentwicklung, vor allem mit der EU, kann zudem transformationskritische Kräfte in der Ukraine unterstützen. Die schwache makrofinanzielle Position, die auch das Risiko einer weiteren Währungsabwertung und damit weiterer massiver Wohlstandsverluste der heimischen Bevölkerung impliziert, kann ebenso transformationskritische Kräfte fördern.
Insofern hat eine Stärkung der makrofinanziellen Situation der Ukraine über das IWF-Abkommen und ökonomische Überlegungen (etwa über stärkere Exporte und höhere Auslandsinvestitionen) hinausgehend auch wichtige politische Implikationen. Zur Stärkung des Außenhandels der Ukraine wäre eine aktivere Förderung des EU-Handels, bei Überwindung traditioneller protektionistischer Überlegungen etwa im Agrarhandel, angezeigt. Zudem muss zur Stärkung der makrofinanziellen Position ein größerer Teil der Unternehmensfinanzierung durch Eigenkapitalinvestitionen nationaler und internationaler Investoren erfolgen. Hierzu wären einerseits eine aktive ADI-Förderung und Absicherungsmöglichkeiten notwendig, andererseits muss sich für mehr risikobehaftete Eigenkapitalinvestitionen auch die Situation im Land nachhaltig stabilisieren. Denn die hohen Auslandsschulden der Ukraine im privaten Sektor drücken auch die bisherige Neigung zu Fremdkapitalfinanzierungen über Offshore-Standorte – auch lokaler Investoren – aus, die im Vergleich zu Eigenkapitalinvestitionen besser abgesichert sind.
Neben einem verbesserten Marktzugang in die EU sollte die Ukraine zudem aktiv an pragmatisch-konstruktiv gestalteten bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland beziehungsweise der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) arbeiten und hier nicht auf mögliche Fortschritte auf EU-EEU Ebene setzen, die derzeit eher unwahrscheinlich sind. Solch ein pragmatischer Ansatz erscheint angesichts der weiter wichtigen Rollen von russischem Kapital im Bankensektor sowie der immer noch wichtigen Rolle Russlands im Außenhandel angezeigt. Insofern sollte von hastigen Straf- beziehungsweise Sanktionsaktionen im Wirtschaftsbereich Abstand genommen werden. Eine pragmatische Position im bilateralen Schuldenstreit mit Russland – obwohl derzeit wenig relevant für den Finanzmarkt – erscheint ebenfalls ratsam, da hier Russland durch die Anerkennung der 3 Milliarden US-Dollar als vorrangig bilateraler Schuldenposition zwischen zwei Staaten die deutlich stärkere Rechtsposition innehat. Sollte Russland hier das Recht zur Pfändung ukrainischer Auslandsvermögenswerte erhalten, würde dies die wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine und die Rückkehr zu internationaler Marktfinanzierung nicht erleichtern.