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Analyse: Die Sprachenfrage in Kriegszeiten: Politiken um Status, Standards und Identitäten in der Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Sprachenfrage in Kriegszeiten: Politiken um Status, Standards und Identitäten in der Ukraine

Laada Bilaniuk USA Seattle Von Laada Bilaniuk

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Die Sprachensituation in der Ukraine ist widersprüchlich: Auf der einen Seite sind die meisten Menschen zweisprachig – des Ukrainischen wie des Russischen mächtig – und es ist üblich, in Unterhaltungen beide Sprachen zu verwenden; auf der anderen Seite birgt der Status der offiziellen Sprachen einigen Sprengstoff.

Eine Frau liest eine ukrainische Zeitung. Bislang sind die Artikel nur auf Ukrainisch abgedruckt. (© picture-alliance)

Einleitung

Das Thema Sprachen stellt nach wie vor eine zentrale Kontroverse in der Ukraine dar. Die Hauptfrage ist: Soll Ukrainisch die einzige Staatssprache bleiben oder soll auch Russische einen offiziellen Status bekommen, als Staats- oder Regionalsprache? Während diese Frage heiß diskutiert wird, sind in der täglichen Interaktion beide Sprachen weithin akzeptiert, da die meisten Menschen in der Ukraine bis zu einem gewissen Grad zweisprachig sind. Dass Konversationen in zwei Sprachen geführt werden, ist sehr üblich, wobei eine Person Ukrainisch spricht und die andere Russisch. Ich nenne das "nicht aufeinander eingehende Zweisprachigkeit" bzw. "rezeptive Zweisprachigkeit", weil die Sprecher auf die Sprachwahl ihres Gegenübers eingehen könnten, so dass nur in einer Sprache kommuniziert würde, sich aber dagegen entscheiden. Die rezeptive Zweisprachigkeit ist in der Ukraine sehr verbreitet, in öffentlichen Interaktionen, Fernsehsendungen und sogar in Familien. So entsteht ein Umfeld, in dem jeder die jeweils bevorzugte Sprache sprechen und damit akzeptiert und verstanden werden kann. Manche nehmen nicht einmal bewusst wahr, welche Sprache sie in einem bestimmten Moment hören oder sprechen, und es ist üblich, von der einen in die andere Sprache zu wechseln. Trotz dieser Toleranz und Flexibilität in vielen Situationen scheiden sich an der Behördensprache und dem gesetzlichen Status von Sprachen vielfach die Geister. Wie lässt sich die paradoxe Dualität zwischen der Akzeptanz des zweisprachigen Zustands auf der einen Seite und der Sprachen als Grund für politische Spaltungen und sogar Krieg auf der anderen Seite erklären? Die Antwort findet sich in der Geschichte der Sprachpolitik und der symbolischen Kraft, die Sprachen heute besitzen.

Über repressive Gesetze gegen den Gebrauch des Ukrainischen und eine Politik zur Förderung des Russischen wurde während der Zarenzeit und der sowjetischen Herrschaft das Russische in der Ukraine als Sprache der Macht etabliert. In der UdSSR war Ukrainisch die Sprache einer Minderheit mit niedriger sozialer Stellung, wurde mit Folklore und der Landbevölkerung verbunden und die Sphären, in denen es zum Einsatz kam, waren begrenzt. Russisch dagegen war die Sprache der gehobenen Stellung und des sozialen Aufstiegs. In den Städten sprachen viele Familien Russisch in der Öffentlichkeit und Ukrainisch nur zu Hause. Manche gaben das Ukrainische ganz auf. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine wurde Ukrainisch Staatssprache und die Situation begann sich langsam zu verändern. In Regierung, Bildungswesen und im öffentlichen städtischen Raum wuchs der Gebrauch des Ukrainischen. Russisch wurde weiterhin viel verwendet und erhielt seine Dominanz in vielen Bereichen aufrecht, etwa in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien. An einigen Arbeitsstellen kam Ukrainisch nur beim offiziellen Schriftverkehr zum Einsatz und Russisch in der gesamten sonstigen Kommunikation. Die Stellung des Ukrainischen als einzige Staatssprache führte dazu, dass es zunehmend mehr gelernt und verwendet wurde, da seine Position aber schwächer als die des Russischen war, nahmen viele es noch immer als bedrohte Sprache wahr.

Gesetze im Konflikt und der Missbrauch von Sprachrechtsdiskursen

Der Verfassung von 1996 entsprechend ist Ukrainisch noch immer die einzige Staatssprache der Ukraine. Ein während Janukowitschs Präsidentschaft verabschiedetes Gesetz von 2012, bekannt als Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz, verlieh dem Russischen in Regionen, in denen mindestens zehn Prozent der Bevölkerung ethnische Russen sind, aber offiziellen Status. Seine Befürworter stellten es so dar, als ob es der Europäischen Charta der Minderheitensprachen entspräche, tatsächlich diente es jedoch eher dazu, die Dominanz des Russischen zu festigen. Das Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz unterminierte Bemühungen, den Gebrauch der einst unterdrückten ukrainischen Sprache in Regionen zu erhöhen, in denen es diese Unterstützung am dringendsten benötigt hätte. Statt ein System der Zweisprachigkeit voranzutreiben, bewirkte es in einigen Regionen den Ausschluss des Ukrainischen zugunsten des Russischen.

Die Erwartung, dass die Bürger der Ukraine Ukrainisch können und es auf Behörden sprechen sollen, stellten Gegner dieser Vorstellung als Verletzung persönlicher Rechte dar. Ein solcher Diskurs über die "Sprachrechte" russischsprachiger Bürger strebt Anerkennung durch die internationale Meinung an, verschleiert aber häufig die verächtliche Zurückweisung des Ukrainischen als einer Sprache, die es nicht zu lernen lohnt. Muttersprachler einer dominierenden Sprache zu sein (in dem Fall des Russischen), ist eine privilegierte Position und es liegt nahe, dass die entsprechenden Personen nicht willens sind, ihre Position zugunsten von Sprechern einer historisch betrachtet untergeordneten Sprache (dem Ukrainischen) aufzugeben. Ein exklusiv-elitärer Status einer Sprache und die Missachtung anderer Sprachen verstoßen allerdings gegen die Menschenrechte. Würde das Sprachengesetz von 2012 auch den Status des Ukrainischen schützen, wäre die Geschichte eine andere. Das tut es jedoch nicht.

Das Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz unterstützt eine Ideologie der russischen kulturellen Vorherrschaft, die sich in Russland und bei ihren Unterstützern gehalten hat. Laut dieser Ideologie hat die Ukraine ihre Unabhängigkeit nicht verdient und die ukrainische Sprache sollte nicht als legitime Sprache, sondern nur als Dialekt des Russischen angesehen werden. Diese Ideologie wurde in zaristischen Dekreten geäußert, die das Ukrainische verboten und seine Existenz geleugnet haben, und sie setzt sich fort in Äußerungen von Unterstützern der derzeitigen Bemühungen, die Kontrolle über ehemals russische Territorien zu gewinnen, die einen großen Teil der Ukraine ausmachen. In diesem Sinne ist der Komplex der gesellschaftlichen Position von Sprachen mit dem Souveränitätsrecht der Ukraine verknüpft. Es gibt viele Beispiele für unabhängige Länder, die nicht nur eine einzige eigene Sprache haben, doch die ukrainische Geschichte der Unterwerfung durch Russland und Russlands Bestreben, das Ukrainische auszulöschen, macht diese Sprache zu einem besonders starken Symbol der Souveränität.

Eine der ersten Handlungen der Post-Janukowitsch-Regierung im Februar 2014 war der Versuch, das Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz aufzuheben. Es zeigte sich allerdings, dass dieser Schritt einige Sprengkraft barg. Die Aufhebung sollte nur den regionalen offiziellen Status des Russischen abschaffen, in den russischen Medien wurde sie aber verdreht und als "Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung" oder gar als "Verbannung des Russischen" dargestellt. Angesichts der derzeitigen instabilen gesellschaftlichen Situation hat der Interimspräsident die Aufhebung nicht ratifiziert und sie bleibt in der Schwebe. Im Oktober 2014 haben einige Politiker dem Verfassungsgericht einen Vorschlag zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes vorgelegt, diese Überprüfung wurde jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben.

Russischsprachige ukrainische Patrioten und Überläufer zum Ukrainischen

Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland hat die russischsprachigen Ukrainer in eine komplizierte Lage versetzt. Einerseits haben die Maidan-Proteste und der gegenwärtige Krieg zweifellos gezeigt, dass die meisten russischsprachigen Bürger der Ukraine die Unabhängigkeit ihres Landes unterstützen und viele sogar bereit sind, ihr Leben für sie zu lassen. Dennoch begegnen wir hier der Frage: Kann man die ukrainische Souveränität fördern, ohne die ukrainische Sprache zu unterstützen (auch wenn man sie nicht gut spricht)? Ziehen wir einige Gründe in Betracht. Wie erwähnt liegt es nahe, dass ein russischer Muttersprachler nicht für eine breitere Verwendung der ukrainischen Sprache eintritt, würde das doch die dominierende Stellung des Russischen beeinträchtigen und möglicherweise zu persönlichem Machtverlust für ihn führen. Für die Förderung der ukrainischen Sprache ist die Akzeptanz der Idee nötig, dass die ukrainische Nationenbildung derzeit auf Russisch nicht in gleichem Maße erreicht werden kann. Hinzu kommt, dass es schwierig ist, im späteren Leben die Sprache zu wechseln. Einfacher ist es, das Erlernen und den Gebrauch des Ukrainischen bei Kindern zu fördern und so einen allmählichen Wandel herbeizuführen. Wegen der Verbindung von Sprache und Identität ist es aber möglicherweise unangenehm, wenn die eigenen Kinder andere sprachliche Fähigkeiten und Verbundenheiten haben als man selbst. Eigentlich sollte die ukrainische Souveränität solcherlei Unbehagen aber aufwiegen und die Zweisprachigkeit sämtliche sprachlichen Spaltungen in den Familien überbrücken.

Aus verschiedenen Gründen sind viele russische Muttersprachler gegen die Ukrainisierung der öffentlichen Sphäre. Viele unterstützen sie aber auch. Einige begrüßen den sprachlichen Wandel sogar als Teil eines bewussten Identitätsfindungsprozesses. Bei meiner letzten Feldforschung im Jahr 2009 war ich anfangs überrascht, dass so viele der ukrainischen Sprachaktivisten und -performer, die ich interviewte, ethnische Russen oder russischsprachig aufgewachsen waren. Viele dieser Sprachwechsler waren sogar engagiertere Aktivisten als die, die zu Hause mit dem Ukrainischen aufgewachsen waren. Oksana Lewkowa zum Beispiel, die Direktorin der NGO Ne Bud’ Bajduzhym, die sich für die ukrainische Sprache und eine Entsowjetisierung der Kultur einsetzt, eine ethnische und in Russland geborene Russin, hat sich das Ukrainische in ihrem Leben angeeignet und arbeitet unermüdlich an seiner Beförderung. Auch Sascha Kaltsowa, Leadsängerin der Rockband Krychitka, ist ethnische Russin und der ukrainischen Sprache in ihrem Privatleben wie ihrer Kreativität verbunden. Wadim Krasnookij von der Rockband Mad Heads ist ethnischer Ukrainer und russischsprachig aufgewachsen. Er wechselte zum ersten Mal in seiner Musik ins Ukrainische, 2009 tat er das dann auch im Privatleben. Es gibt sehr, sehr viele ähnliche Beispiele. Im Internet zirkulieren häufig Berichte über russische Muttersprachler, die ins Ukrainische gewechselt sind oder das gerade tun. Angesichts der historischen Sprachdynamik in der Ukraine sind Tausende von Menschen, die vom Russischen ins Ukrainische überwechseln, durchaus bedeutsam. Für einen signifikanten gesamtgesellschaftlichen Wandel wären aber Millionen nötig. Wahrscheinlicher ist, dass es einer neuen Generation über eine institutionelle Förderung des Bildungswesens und der Medien möglich sein wird, sich das Ukrainische ohne die ungleich größeren Schwierigkeiten anzueignen, die sich im Erwachsenenalter einstellen.

Das Phänomen der sprachlichen Überläufer (etwa vom Russischen ins Ukrainische) stellt das ethnonationale Modell in Frage und affirmiert es gleichzeitig. Es weist das essentialistische Konzept einer gegebenen ethnischen bzw. nationalen Identität zurück, indem eine Person die Wahl trifft, die eigene ethnolinguistische Identität zu wechseln. Viele Überläufer zum Ukrainischen vollziehen dies aber als kategorischen Wechsel und affirmieren ihr Ukrainischsein, indem sie ihre Verbundenheit mit der ukrainischen Sprache durch deren ausschließlichen Gebrauch zum Ausdruck bringen. So unterstützen sie die Gleichsetzung von ukrainischem Patriotismus und ukrainischer Sprache. Dieser Logik folgend, ist es unpatriotisch, Russisch zu sprechen. Eine solche Ideologie führt zu einem potentiell spalterischen Szenario, in dem Russland behauptet, sich um die russischen Muttersprachler zu sorgen und sie zu schützen (und dabei unterstellt, die Ukraine tue das nicht). Die Ukraine hat also die Option, Russisch abzulehnen, ihre eigene einzigartige Sprache zu stärken und so ihre Souveränität zu festigen, oder sie kann Russisch als eine ihrer eigenen Sprachen betrachten, ohne sich der Propaganda der russischen Medien und der Rhetorik von der Einheit der "russischen Welt" zu öffnen.

Eine mögliche Lösung ist Zweisprachigkeit und die dauerhafte Akzeptanz jener zweisprachigen Interaktionen, die bereits weitverbreitet sind. Faktoren, die dieser Lösung im Wege stehen, sind die Ungleichheit der gesellschaftlichen Stellungen beider Sprachen und wie gut sie jeweils beherrscht werden. In der Geschichte waren es die ukrainischen Muttersprachler, die Russisch lernen mussten, während die russischen Muttersprachler sich mit dem Ukrainischen nicht weiter beschäftigten. Die Einführung des Kiwalow-Koleschnitschenko-Gesetzes hat gezeigt, dass die ukrainische Sprache noch immer angreifbar ist und schnell ausgegrenzt wird, sobald das Russische offiziellen Status erlangt. Verschiedene Sprachen können sich als Keil erweisen, wenn sie keinen gleichwertigen Status haben, und es ist sehr schwer, eine echte Gleichwertigkeit aufrechtzuerhalten. Mitunter werden westliche zwei- oder mehrsprachige Gesellschaften als Erfolgsmodelle angeführt. Soziolinguistische Studien zeigen jedoch, dass es selbst in diesen stabilen und wohlhabenden Ländern Spannungen und Ungleichheiten beim Gebrauch der Sprachen gibt, die ständig bewältigt werden müssen. Politische Stabilität und wirtschaftlicher Wohlstand können Sprachenkonflikte weniger vordringlich machen, die Konflikte wie die Bemühungen, sie zu bewältigen, erübrigen sich dadurch allerdings nicht. Trotzdem entwickelte sich in der Ukraine eine ausgewogenere Zweisprachigkeit, als Ukrainisch Staatssprache wurde. 2009 stellte ich fest, dass die jungen Leute selbst in Regionen, in denen im öffentlichen Leben das Russische dominiert, etwa auf der Krim, ziemlich gut Ukrainisch sprechen und dass zweisprachige Kommunikation dort akzeptiert wird. Durch eine stärkere Präsenz des Ukrainischen im Bildungssystem hat sich die Kenntnis der Sprache verbreitert und ein zweisprachiges Systems etabliert. Obwohl das Kiwalow-Koleschnitschenko-Gesetz das Ukrainische in einigen Regionen unterminiert hat, hätte das nicht entgegenkommende System der Zweisprachigkeit im Land wahrscheinlich weiterexistieren und sich in Richtung einer ausgewogeneren Zweisprachigkeit entwickeln können.

Der Krieg hat die Dinge aber verändert und die russische Rhetorik politisierte die Sprachwahl zusätzlich. Einige russischsprachige Menschen erklärten, nun müssten sie Ukrainisch lernen, um Putin keinen Vorwand zu liefern, zu kommen und sie zu "retten". Ihre Muttersprache definiert aber nicht die Loyalität von Menschen. Viele russische Muttersprachler kämpfen an der Seite ukrainischer Muttersprachler und sterben für ihr Land im Krieg in der Ostukraine gegen Russland und die prorussischen Separatisten.

Unterteilt man Menschen entlang ihrer Muttersprache, ergibt sich nur ein beschränkter Blick auf die aktuelle Situation, denn viele Menschen verwenden beide Sprachen sowie nichtstandardisierte Dialekt- oder Mischformen beider Sprachen. Nichtstandardisierte Sprache hat im letzten Jahrzehnt im Netz sogar an Popularität gewonnen, besonders seit den Maidan-Protesten. Der Gebrauch nichtstandardisierter Sprache einschließlich regionaler Dialekte und der als surzhyk bekannten ukrainisch-russischen Mischsprache ist ein Weg zur Überwindung der spalterischen Rhetorik von den offiziellen Sprachen.

Kampf-surzhyk: Stärke und Solidarität in nichtstandardisierter Sprache

Im Juni 2014 gründete eine Gruppe von Bloggern den Online-"Repka Club", einen "Kampf-surzhyk-Club" bzw. einen "Kampfclub" für surzhyk-Sprecher (http://repka.club). Der Begriff bojovyi surzhyk (Kampf- oder Martial surzhyk), geht auf bojovyi hopak zurück, eine auf einem traditionellen ukrainischen Tanz basierende Kampfkunst. Die Autoren des Repka Clubs führen ihren Kampf mit dem Mittel der satirischen Kritik der politischen Situation sowie über den Aufbau von Solidarität durch Texte über das tägliche Leben. Einige surzhyk-Autoren hatten im August 2015 zwischen 10.000 und 85.000 Fans auf Facebook und diese breitere Gemeinschaft beteiligt sich über Kommentare zu den Posts. Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum Menschen eine Sprache verwenden wollen, die von den Bildungseliten als fürchterlich falsch angesehen werden. Einigen macht es Spaß, mit Sprache zu spielen und sie sich in all ihrer Vielfalt anzueignen. Nichtstandardisierte Sprache ist per definitionem regelwidrig und kann genauso Vertrautheit und Solidarität in Interaktionen hervorrufen wie die Kraft einer Protestkultur.

Es gibt auch stärker politisch motivierte Gründe fürs Schreiben in surzhyk, etwa die behördensprachlichen Konnotationen zu unterlaufen, die dem Ukrainischen im Zuge seines zunehmenden Gebraus in offiziellen Kontexten zugewachsen sind. Mitunter kann einen der Gebrauch des Ukrainischen als überkorrekt und pedantisch dastehen lassen. Texte in surzhyk mit ihren übertrieben falsch geschriebenen Formen erlauben es daher, Kritik an der Obrigkeit und Solidarität mit den Opfern des Machtmissbrauchs dieser Obrigkeit zu äußern. Nach der Wahl Janukowitschs zum Präsidenten im Jahr 2010 wurde die ukrainische Regierung immer offenkundiger korrupt und folgte gleichzeitig (zumindest teilweise) der Maßgabe, das Ukrainische zu verwenden. Die Verweigerung sprachlicher Standards kann als metonymische Verweigerung gegenüber der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung verstanden werden.

Die Bloggerin Tetiana Komyr, die unter dem Nickname Tatusia Bo auftritt, sagte in einem Fernsehinterview, sie und ihre Kollegen würden surzhyk verwenden, "um zu versuchen, gesellschaftliche Prozesse zu erklären, die in der regulären Schriftsprache nur sehr schwer erklärt werden können. […] Es gibt in der Gesellschaft Phänomene, die mit normalen Worten und in der wunderbaren ukrainischen Sprache nicht ausgedrückt werden können. Warum die Sprache für solche grauenvollen Dinge ruinieren? Deswegen müssen sie mit einem obszönen Wortschatz erklärt werden, mit surzhyk, mit grobem Kampf-surzhyk." Tatusia Bo erläuterte weiter, dass es das Ziel der Repka Club-Blogger sei, panische Haltungen in der Gesellschaft einzudämmen, positive Haltungen zu verbreiten und die Leute zum Lächeln zu bringen. Und tatsächlich äußern Fans von Tatusia in Kommentaren, dass sie ihnen Freude macht, dass sie sich mit ihr identifizieren und dass ihr Beispiel sie in ihrem eigenen Bestreben stärkt, sich freier auszudrücken. Unterstützer des bojovyj surzhyk nehmen es als erfrischend und authentisch wahr. Es kann genauso Wut und Ironie wie Intimität und Solidarität zum Ausdruck bringen. Indem es die Ideologie von der Standardsprache transzendiert, durchbricht bojovyj surzhyk außerdem soziale Hierarchien, die Menschen marginalisieren, die diesen Standard nicht sprechen.

Die Marginalisierung von Nichtstandardsprechern zeigte sich deutlich in der Berufung von Mykhailo Havryliuk, einem Landwirt und Bauarbeiter, ins Parlament. Seine Tapferkeit bei den Protesten wurde zwar gefeiert, im Kontext des Parlaments war sein surzhyk-artiger Dialekt aber ein Missklang. Die Reaktionen waren gemischt – manche fanden es unerhört, dass jemand ohne höhere Bildung in der Regierung tätig sein konnte, andere waren der Ansicht, seine offenkundige Integrität mache seinen Mangel an linguistischer Feinheit mehr als wett. Dieser Fall offenbart die Klassenhierarchien, die der Ideologie von der Standardsprache innewohnen. Bojovyj surzhyk ist zwar bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe beliebt geworden; eine Gleichbehandlung von surzhyk und Standardsprache brächte jedoch viel mehr mit sich: eine Neukonzipierung der Gesellschaft, die die etablierten Klassenhierarchien überwinden und aus dem ethnonationalen Standardparadigma ausbrechen würde, das rund um den Globus vorherrscht. Die Entstehung von surzhyk als Teil des positiven Ausdrucks der lebendigen Diversität der ukrainischen Identität kann nichtsdestotrotz als neue Dimension der Nationenbildung angesehen werden, wobei das Verhältnis zwischen ukrainischen und russischen Standards weiterhin verhandelt wird.

Lesetipp:

Fussnoten

Laada Bilaniuk (bilaniuk@uw.edu) ist Associate Professor im Bereich Anthropologie an der University of Washington in Seattle, USA. Sie ist Autorin eines Buchs über ukrainische Soziolinguistik mit dem Titel Contested Tongues: Language Politics and Cultural Correction in Ukraine (2005, Cornell University Press). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Sprachideologien, Populärkultur, Rasse, Gender, Klasse und Nationenbildung in der Ukraine.