Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Das Postrevolutionäre Machtvakuum als Quelle der ukrainischen Reformträgheit | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. März 2024 10 Jahre Krim-Annexion / Donbas nach der Annexion 2022 (21.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Dokumentation: Reporters Without Borders: Ten years of Russian occupation in Crimea: a decade of repression of local independent journalism Dokumentation: Europarat: Crimean Tatars’ struggle for human rights Statistik: Repressive Gerichtsverfahren auf der Krim und in Sewastopol Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Öffentliche Meinung zur Krim und zum Donbas Chronik: 22. Februar bis 10. März 2024 Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Analyse: Das Postrevolutionäre Machtvakuum als Quelle der ukrainischen Reformträgheit

André Härtel Kiew Von André Härtel

/ 12 Minuten zu lesen

Ein Jahr nach den ersten Parlamentswahlen in der Nach-Janukowitsch-Ära sind sich ukrainische und internationale Beobachter einig: Das Reformtempo des Landes ist selbst angesichts des weiter schwelenden Krieges im Osten des Landes deutlich zu niedrig. Neben Ineffizienzen der neuen Eliten sind vor allem systemische Ursachen auszumachen.

Ein verbrannter Panzer, sowie im Hindergrund eine zerstörrte Fabrikanlage. (© picture-alliance/AP)

Dilemma der Gleichzeitigkeit: die Reformagenda

Die Herausforderungen, denen sich die neue politische Führung sowie das im Oktober 2014 neu gewählte Parlament der Ukraine nach dem Maidan zu stellen haben, sind enorm. Neben dem Krieg im Donbass müssen – abgesehen von einer hohen Zahl notwendiger sektorspezifischer Reformen – eine fundamentale Wirtschaftskrise überwunden, institutionelle Großprojekte wie die Dezentralisierung angegangen und das zentrale Problem der Korruption auf allen Ebenen bekämpft werden. Hinzu kommt, dass all dies von einer noch jungen Demokratie und Nation erwartet wird, die sich gerade erst von der zunehmend autoritären Herrschaft eines Elitenclans befreit hat und als identitäres Projekt findet. Die Transformationsforschung kennt dieses Phänomen als "Dilemma der Gleichzeitigkeit" mehrerer politischer und ökonomischer Wandlungsprozesse, das zu zahlreichen Obstruktionseffekten führen und nur durch kluge Sequenzierung der einzelnen Reformschritte aufgelöst werden kann.

Allerdings wird ein Großteil der derzeitigen innerukrainischen wie internationalen Kritik verständlicher, wenn man sich die Ausgangslage der neuen Kiewer Machtelite vor Jahresfrist vergegenwärtigt: Während Präsident Petro Poroschenko im Mai 2014 mit fast 55 % der Stimmen im ersten Wahlgang gewählt wurde und im Spätherbst (scheinbar) eine breite propräsidentielle und klar reformorientierte Parlamentsmehrheit entstand, war die Bereitschaft der Bevölkerung zu kurz- und mittelfristig hart wirkenden Reformen nach dem Maidan so hoch wie vielleicht nie zuvor. Die Revolution war die fundamentale "Krise", die politisches System wie Öffentlichkeit benötigten, um neue Reformbereitschaft zu erzeugen und "Status-quo-Kräfte" wie die Oligarchen zu marginalisieren. Die durch diese Fakten erzeugte Legitimität für einen klaren Reformkurs wurde seitdem aber vollständig nahezu verspielt. Während die Ratings der führenden Politiker kaum noch zweistellige Werte erreichen und der Populismus und die Unzufriedenheit der Bürger längst vorrevolutionäre Ausmaße annehmen, schreiten zentrale Reformen kaum voran: So attestiert das unabhängige Monitoring-Portal Vox Ukraine den Institutionen schon seit Januar 2015 ein überwiegend nur noch unzureichendes Reformtempo, während insbesondere in den Bereichen Wettbewerbspolitik, Governance und im Kampf gegen Großkorruptionsfälle nahezu Stillstand herrscht.

Die vorgetäuschte Reformfähigkeit der "alten Ukraine"

Die Suche nach Gründen der offensichtlichen Reformträgheit der Post-Maidan-Eliten muss beim alten System ansetzen und fragen, welche qualitativen Veränderungen sich seit dem Februar 2014 tatsächlich ergeben haben, die auf eine verbesserte Reformfähigkeit des politischen Systems der Ukraine hinweisen. Konkret bedeutet dies: Inwiefern sind reformorientierte Akteure in der Lage, eingesessene Interessen ("vested interests") als Haupthindernis von Reformen zu marginalisieren, Reformprogramme zu gestalten, entsprechende politische Mehrheiten für diese zu organisieren und schließlich für eine effektive Implementierung zu sorgen?

Das bis Anfang 2014 herrschende Janukowitsch-Regime war in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung für die Historie der unabhängigen Ukraine, da es sich im Grunde als erstes anschickte, den bis zum Ende der 2000er Jahre bestehenden regional geprägten Clan- bzw. Elitenpluralismus zu überwinden. Zumindest schien es im Jahre 2013 so, als wäre es dem Donezker Clan, trotz vorhandener innerer Fraktionierung, gelungen, politische und ökonomische Macht in der Ukraine erstmals zu monopolisieren. Politökonomisch kann man dieses System als Höhepunkt des sogenannten "state capture", der Vereinnahmung politischer Institutionen durch oligarchische Interessen, in der Ukraine bezeichnen. Hatten sich bisherige Präsidenten, wie insbesondere Leonid Kutschma (1994–2004) und in begrenztem Maße auch Viktor Juschtschenko (2005–2010), durch ein geschicktes Kooptationssystem und das Ausnutzen des Elitenpluralismus ein gewisses Maß an politischer Autonomie gesichert, verfügten die Oligarchen des Donezker Clans, wie Rinat Achmetow oder Andrij Kljujew, nun über fast uneingeschränkten Zugriff auf die politische Macht. In puncto Reformkapazität ergab sich hierdurch folgendes Bild: Einerseits waren echte Strukturreformen wie im Bereich der Demonopolisierung und im Antikorruptionskampf unmöglich geworden. Vielmehr plünderten, wie viele seit dem Maidan öffentlich gewordene (Groß-)Korruptionsfälle und nicht zuletzt die gestiegene ökonomische Macht der "Familie Janukowitsch" selbst zeigen, die Eliten den Staat nun ungehindert aus. Andererseits verfügte das immer autoritärere System über soviel politische Durchsetzungsfähigkeit, dass partielle und systemirrelevante Reformen möglich waren, die die Interessen des Clans nicht tangierten und der außenpolitischen Agenda entsprachen (s. das lange angestrebte Assoziationsabkommen mit der EU).

Die Beharrungskraft der "vested interests"

Wesentliches Ergebnis der "Revolution der Würde" von 2014 war dann eine Entmachtung und Diskreditierung zumindest der politischen Vertreter des Donezker Clans und der "Familie Janukowitsch", sichtbar geworden vor allem am Untergang des politischen Arms des Clans, der "Partei der Regionen". Auch die maßgeblichen Oligarchen des Clans wurden, in unterschiedlichem Ausmaß, zu Opfern der Revolution. Während beispielsweise Dmytro Firtasch im österreichischen Exil verharren muss und durch ein Verfahren in den USA bedroht wird, musste Rinat Achmetow eine (auch durch die Zerstörungen von Teilen des Donbass ausgelöste) empfindliche Reduzierung seines Vermögens sowie den Verlust weitreichender politischer Protektion hinnehmen. Oberflächlich betrachtet kam es somit zu einem signifikanten Rückgang des "state capture" bzw. der Macht "eingesessener Interessen" in der Ukraine, der die Zahl an Veto-Spielern verringern und den neuen reformorientierten Eliten bzw. der Parlamentsmehrheit deutlich größeren Spielraum für Reformen bieten sollte. Dass dies bis zu einem gewissen Grad der Fall ist, zeigen die bisher erfolgten Schritte zur Deoligarchisierung des Systems, wie die Verringerung des Quorums für Aktionärsversammlungen, die das Ende der Monopolisierung der mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Firma "Ukrnafta" durch den Minderheitsaktionär Ihor Kolomoisky bedeutete. In dieselbe Richtung gehen die Entmachtung des bisherigen Monopolisten "DTEK" (Rinat Achmetow) beim Stromexport und das entschiedene Vorgehen gegen die Vormachtstellung der Firma "UkrgasEnergo" (zur DF Group von Dmytro Firtasch) auf dem Gasmarkt.

Bei genauerer Betrachtung müssen allerdings zwei Einschränkungen gemacht werden: Zum einen handelte es sich bei der "Revolution der Würde" im Ergebnis vor allem um eine politische Revolution, welche die sozialen Grundlagen des Systems nicht oder noch nicht wesentlich tangiert. Die in der Ukraine weiterhin außerordentliche Konzentration ökonomischer Macht in den Händen weniger schlägt sich demnach auch heute in erheblichem politischem Einfluss nieder. So schätzen Experten, dass Dmytro Firtasch auch heute noch 22 oder 23, Rinat Achmetow 20 und Ihor Kolomoisky 15 Abgeordnete der Werchowna Rada kontrollieren. Hinzu kommt die Bedeutung lange bestehender politökonomischer Netzwerke und "Geschäftspartnerschaften" mit einflussreichen Politikern der Regierungsfraktionen, die es den Oligarchen erlauben, ihre Interessen auch angesichts gegen sie gerichteter Reformen durchzusetzen. So setzte sich Andrij Iwantschuk, einflussreiches Mitglied der Fraktion des Premierministers und Geschäftspartner Kolomoiskys, als Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftspolitische Fragen lange vehement gegen die oben genannten Änderungen im Gesetz über Aktionärsgesellschaften ein. Trotz der Verabschiedung der Änderungen wird nun darüber spekuliert, dass Kolomoisky mit Hilfe einer erfolgreichen Intervention derselben politischen Kräfte bei der Vertragsausgestaltung des neuen "Ukrnafta"-Vorstands nun doch die faktische Kontrolle über die Firma behalten wird.

Eine zweite Einschränkung betrifft die Frage, inwiefern die partielle Rückgewinnung der Kontrolle über mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Unternehmen durch die politischen Institutionen tatsächlich zum Kampf gegen Korruption und zur Entstehung liberalisierter und transparenter Märkte beiträgt. Viel eher scheint es, als ob sich im Schatten des Kampfes gegen die Oligarchen, und hier vor allem gegen die des alten Regimes, schlicht eine Neuverteilung ökonomischer und damit politischer Macht abspielt. Hauptprofiteure sind dabei vor allem an wichtigen Schnittstellen des Systems operierende, politische und ökonomische Aktivitäten vermischende Vertreter der Post-Maidan-Elite. Beispielhaft hierfür ist Mykola Martynenko, langjähriger Vorsitzender des Energieausschusses, der mit Hilfe der Protektion von Premier und Präsident derzeit immer mehr persönlichen Einfluss auf das breite Netz staatlicher Energieunternehmen gewinnt. Während gegen Martynenko in der Schweiz bereits wegen Vorteilsnahme in Millionenhöhe ermittelt wird, steht er zudem im Verdacht, Staatsunternehmen über korrupte Schemen um Dollarbeträge in Millionenhöhe zu erleichtern. Insofern ist noch unklar, ob die Deoligarchisierung in der Ukraine tatsächlich für eine Marginalisierung von reformfeindlichen "vested interests" spricht oder sich nur deren Träger verändern. Dass dies der Fall sein könnte, zeigt sich vor allem an den auch nach dem Maidan extrem langsamen Privatisierungsprozessen – so haben weder neue politische Eliten noch hohe Staatsbeamte ein Interesse an der Aufgabe dieser der Bereicherung von Personen und Parteien dienenden Strukturen. Eher hat sich, wie nach 2004, eine (temporäre) Möglichkeit für die politischen Institutionen ergeben, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und ein reformatorisches window of opportunity im besten Falle auch für neue Spielregeln zu nutzen. Entscheidend ist allerdings, ob diese dann auch innerhalb der Institutionen, und hier insbesondere von den für die Bestellung und die Kontrolle der Leitung von staatlichen Unternehmen zuständigen Organen, verantwortungsvoll oder zur persönlichen Bereicherung genutzt werden.

Machtillusionen und Kontrollverlust: die ukrainische Politik im Reformprozess

Ein wesentlicher Schwachpunkt der gegenwärtigen internationalen Debatte zur Reformpolitik in der Ukraine ist die Vernachlässigung politischer Faktoren bzw. die Verengung auf eine technische oder Effektivitätsdebatte. Vor allem scheint es hier vielfach, als spielten sich die Reformprozesse in Kiew in einer Art politischen Blase ab, auf die Machtfragen bzw. zumindest für demokratische Regime typische institutionelle Zwänge keinen Einfluss haben. Dabei ist – neben den bereits angesprochenen Veto-Spielern – die relativ geringe Kapazität des gegenwärtigen politischen Systems der Ukraine, Reformen effektiv zu gestalten, im Parlament zu verabschieden und zu implementieren, gerade für postrevolutionäre politische Kontexte nicht überraschend. Folgende politische Faktoren spielen für die heute beobachtbare Reformträgheit in der Ukraine die Hauptrolle:

Erstens sei daran erinnert, dass der Maidan eine Revolution der Straße war, die dem Großteil der ehemaligen Oppositionsparteien und heutigen Machthaber teils extrem kritisch gegenüberstand und -steht. Das "Mandat" des Maidan war denn auch kein anderes als das der totalen Selbstaufgabe der neuen Regierenden zu Gunsten eines radikalen Reformkurses – Premier Jazeniuk sprach anfangs von einer "Kamikaze-Regierung" –, eine Erwartungshaltung, der realistisch kaum zu entsprechen war. Insbesondere am in Umfragen immer deutlicheren Popularitätsverlust des Premiers und seiner Partei (Narodnij Front), im Oktober 2014 noch Wahlsieger, wird deutlich, welche Dynamik und Volatilität dem politischen System der Ukraine ein Jahr nach dem Maidan weiterhin innewohnt. Problematisch ist die Position des Premiers, über dessen baldige Absetzung schon spekuliert wird, in Bezug auf die Implementierung von Reformen insbesondere, wenn man bedenkt, dass sich der eigentliche Kampf zwischen altem und neuem System nicht im Parlament, sondern in den Ministerien selbst abspielt. Da die Reform- und insbesondere Anti-Korruptionsagenda für viele Vertreter vor allem der mittleren Ministerialbürokratie eine Bedrohung darstellt, spielt ihnen die prekäre Machtposition des Kabinetts in die Hände. Sabotage und das bewusste Hinauszögern von Reformen durch Teile der Ministerialbürokratie sind daher keine Seltenheit. Bekannt geworden sind solche Widerstände beispielsweise im Zuge der Kritik an Gesundheitsminister Aleksandr Kwitaschwili, dessen Behörde den Kampf gegen die verbreitete Korruption bei der Arzneimittelbeschaffung auch laut internationalen Organisationen behinderte. Dazu trägt bei, dass es nur im Wirtschaftsministerium bisher gelungen ist, sich von einem Teil der ineffektiven Belegschaft zu trennen (Kürzung um 30 %) und somit die interne Machtbalance zwischen Reformern und "Traditionalisten" zu beeinflussen – in anderen Ministerien liegt die Quote höchstens im einstelligen Bereich. Die Folge sind "capacity bottlenecks" bzw. das Fehlen eines funktionierenden institutionellen Umfelds für eine effektive Implementierung der Reformagenda. Hinzu kommt der nun vermehrt beobachtbare Populismus von Regierungsvertretern, der sich insbesondere im mantraförmigen Verweis auf wenige erfolgreiche Reformprojekte, wie die Einführung der neuen Polizei, zeigt.

Zweitens darf nicht unterschätzt werden, dass in der Ukraine – trotz einiger Elitenkontinuität – 2014 ein politischer Neuanfang gemacht wurde. Dessen Folge ist eine erhöhte Unberechenbarkeit des politischen Prozesses, die sich neben der Heterogenität insbesondere der von Präsident und Premier initiierten und regierenden politischen Formationen (Block Petro Poroschenko und Narodnij Front) aus der Rückkehr des für die Juschtschenko-Ära typischen machtpolitischen Dualismus zwischen Präsident und Premier ergibt. Eine wesentliche Konsequenz vor allem der wenig homogenen Parlamentsmehrheit bzw. Regierungsparteien für den Reformprozess ist die geringe Durchsetzungsfähigkeit von Gesetzesentwürfen der Regierung in der Werchowna Rada (nach Angaben von Vox Ukraine wurden nur knapp über 30 % verabschiedet), was deren Reformagenda zunehmend bremst und zum Stückwerk werden lässt. Hinzu kommt, dass das Parlament, aus dem mit über 80 % noch immer die meisten verabschiedeten Gesetze stammen (laut der Rada-Expertin Sarah Whitmore), den Dualismus der Exekutive für sich auszunutzen und beide Machtzentren gegeneinander auszuspielen weiß. Dies schafft erhebliche Freiräume für klientelistisches Verhalten bzw. Lobbying und erhöht die Chance, dass sich gegen jeden Reformvorstoß eine erhebliche Zahl an Abgeordneten mobilisieren lässt. Ein prominentes Beispiel ist die Blockadehaltung des Parlaments im Fall des Gesetzes zur Neuregelung der Vergabe von Staatsaufträgen, das die verbreitete Korruption in diesem Bereich ("tendernaja mafia") beenden und die Teilnahme an zukünftigen Ausschreibungen erleichtern sollte. Wirtschaftsminister Aivaras Abromavitius zufolge scheiterte eine Verabschiedung auch nach der zweiten Lesung am Versuch mehrerer Parlamentarier, die liberalisierende Wirkung des Gesetzes durch Änderungen abzuschwächen. Ähnlich gelagert war die Abstimmung über die Schaffung des "Nationalen Büros gegen Korruption" (Nazionalnoje Antikorrupzionnoje Bjuro, NABU), bei der Abgeordnete der Werchowna Rada über 180 Änderungen einbrachten, welche die Autonomie der neuen Struktur stark einschränken (s. Ukraine-Analysen Nr. 153).

Drittens ist offensichtlich, dass der Ukraine für eine erfolgreiche Reformpolitik das Reservoir an politisch zuverlässigen, unbelasteten und gut ausgebildeten Kadern fehlt. Wie schmal die Personaldecke insbesondere im Bereich politischer Mandate ist, zeigen die auch nach dem Maidan beobachtbare relative personelle Kontinuität im Parlament sowie die Besetzung vieler Ministerposten mit ausländischen Kandidaten. Grund hierfür ist die Tatsache, dass auch 24 Jahre nach der Staatsgründung kaum Rekrutierungskanäle für politisches Nachwuchspersonal existieren und eine partielle Auffrischung des Parlaments lediglich durch den Ad-hoc-Wechsel von zivilgesellschaftlich Aktiven in die Politik nach 2004 bzw. 2014 zustande kam. Hinzu kommt, dass der Elitenmangel auch auf die regionale Ebene zutrifft. Da die ukrainischen Parteien generell nur schwach regional und lokal verwurzelt sind, fehlt es an politischen Transmissionsriemen vom Zentrum in die Peripherie – eine Beobachtung, die umso mehr auf neue politische Formationen wie die von Premier und Präsident zutrifft. Die Besetzung des Gouverneurspostens in Odessa mit dem georgischen Ex-Premier Michail Saakaschwili sowie die hektische Abordnung des Poroschenko-Vertrauten Hennadij Moskal auf den gleichen Posten in Transkarpatien zeigen, wie es um die Loyalität zum bzw. die Durchsetzungsfähigkeit des politischen Zentrums in den von jeher relativ unabhängig denkenden ukrainischen Regionen steht. Jenseits der Gefahren, die dies allgemein für eine auch vertikale Implementierung von Reformen birgt, wirft der Elitenmangel auch Fragen in Bezug auf die auch von den internationalen Partnern vehement eingeforderte und nun vom Parlament beschlossene Dezentralisierung auf: Inwiefern kommt dieser Prozess evtentuell zu früh und könnte zu einem gefährlichen weiteren Kontrollverlust zentralstaatlicher Institutionen sorgen?

Staat und Gesellschaft: "missing link" und divergierende Agenden

Abschließend sei auf einen ebenso simplen wie wichtigen Umstand verwiesen: Neben einem begünstigenden institutionellen und politischen Umfeld bedarf eine erfolgreiche Reformpolitik insbesondere eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Vertrauen in die handelnden politischen Akteure. Nach 24 Jahren der endemisch gewordenen persönlichen Bereicherung und des Klientelismus in der ukrainischen Politik ist Vertrauen nicht über Nacht herzustellen, weshalb auch die "neue" Elite nach dem Maidan mit einem überschaubaren Vorschuss startete. Dennoch waren die Revolution und insbesondere die ihr folgende "Ernennung" der Übergangsregierung durch den Maidan einschneidende Momente für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der Ukraine. So sprach das damalige Überlappen der Agenden der maßgeblichen politischen Akteure auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite für eine nachhaltige Etablierung eines bisher fehlenden Links, einer Verbindung zwischen beiden Sphären, der mehr politische Responsivität und Verantwortlichkeit bedeuten könnte. Seitdem haben sich die Agenden allerdings wieder getrennt: Während die Zivilgesellschaft auf die vielen nicht eingelösten Reformversprechen verweist und versucht, einer erneuten Ab- oder Einkapselung der politischen Elite entgegenzusteuern, steht für die politischen Akteure im Vorfeld der Kommunalwahlen bereits wieder der mittelfristige Machterhalt, wenn nicht Machtausbau im Vordergrund. Insbesondere der Krieg im Osten des Landes hat zudem eine zusätzliche sogenannte "Kriegsagenda" entstehen lassen, die den politischen Akteuren gern als Ausrede für die ausbleibende Reformdynamik herhalten muss (s. Ukraine-Analysen Nr. 145). Vor diesem Hintergrund und dem erneut auf ein Minimum gesunkenen Vertrauen der Ukrainer in die Politik ist tatsächlich davon auszugehen, dass sich das window of opportunity für einschneidende Reformen bereits wieder schließt – während politische Alternativen nicht in Sicht sind.

Ausblick

Mehr als anderthalb Jahre nach der "Revolution der Würde" ist in der Ukraine ein postrevolutionäres Machtvakuum entstanden, aus dem sich die Reformträgheit der maßgeblichen politischen Akteure erklären lässt. Während die für die Ukraine zentrale Beziehung zwischen Staat und Oligarchen als Hauptvertretern der sogenannten "vested interests" nicht geklärt ist, hat sich auch zwischen den politischen Institutionen und Akteuren noch keine konsolidierte Machtordnung ergeben. Die Konsequenzen für den Reformprozess sind: 1) eine stark eingeschränkte Kontrolle von Präsident und Regierung über die Implementierung der Reformagenda; 2) zunächst wieder gewachsene Freiräume für Korruption und Lobbying; sowie 3) ein zunehmender Vertrauensverlust gegenüber der neuen politischen Elite innerhalb von Zivilgesellschaft und weiterer Öffentlichkeit, was den Reformspielraum weiter einschränkt. Für die der Ukraine wohlgesinnte internationale Gemeinschaft bedeutet dies vor allem, dass man politische Faktoren bei der Beurteilung der ukrainischen Reformfähigkeit stärker berücksichtigen, vorübergehende "roll-backs" einkalkulieren und generell mehr Zeit für das ambitionierte Reformprogramm veranschlagen sollte. Insbesondere sollten mehr politischer Druck und Beratung bei der Sequenzierung der Reformen erfolgen. Hier sind insbesondere bei der nicht erfolgten Priorisierung der Justizreform und der Stärkung von Eigentumsrechten vermeidbare Fehler gemacht worden. Letztlich sollten internationale Akteure noch mehr Mittel und Expertise bereitstellen, um ein effektives und unabhängiges Monitoring der Reformen durch zivilgesellschaftliche Initiativen zu ermöglichen. Nur so können dauerhaft Vertrauen und Responsivität entstehen.

Fussnoten

Dr. André Härtel ist DAAD-Fachlektor für Deutschland- und Europastudien an der Kiewer Nationalen Mohyla-Akademie (NaUKMA).