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Analyse: Die Ukraine, Russland und der Westen. Die Bilanz nach einem Jahr der Präsidentschaft von Poroschenko | Ukraine-Analysen | bpb.de

Ukraine Verhältnis zur belarusischen Opposition (28.11.2024) Analyse: Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition dekoder: "Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt" Umfragen: Meinung in der Ukraine zu Belarus’ Kriegsbeteiligung Umfragen: Unterstützung in Belarus von Russlands Krieg gegen die Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Energieversorgung / Grüne Transformation (09.10.2024) Analyse: (Wie) Lässt sich die Energiekrise in der Ukraine abwenden? Analyse: Eine stärkere Integration des Stromnetzes in die EU kann der Ukraine helfen, die nächsten Winter zu überstehen Statistik: Stromimporte aus EU-Staaten Analyse: Resilienz wieder aufbauen: Die Rolle des ukrainischen Klimabüros bei der grünen Transformation Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik EU-Beitrittsprozess (29.07.2024) Analyse: Die Ukraine und die EU: Erweiterungspolitik ohne Alternative? Analyse: Wie schnell bewegt sich die Ukraine auf die EU zu, in welchen Bereichen gibt es große Fortschritte und in welchen nicht? Statistik: Stand der Ukraine im EU-Beitrittsprozess Umfragen: Öffentliche Meinung in der Ukraine und in ausgewählten EU-Ländern zum EU-Beitritt der Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Beziehungen zu Polen / Beziehungen zur Slowakei (26.06.2024) Analyse: Die Entwicklung der ukrainisch-polnischen Beziehungen seit Beginn der russischen Vollinvasion Analyse: Pragmatisch, indifferent, gut? Über den Zustand der ukrainisch-slowakischen Beziehungen Statistik: Handel der Ukraine mit ihren Nachbarländern Statistik: Ukrainische Geflüchtete in den Nachbarstaaten der Ukraine Umfragen: Die Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zu den Nachbarländern der Ukraine Umfragen: Die Einstellung der polnischen Bevölkerung zu Geflüchteten aus der Ukraine Chronik: 21. bis 31. Mai 2024 Exekutiv-legislative Beziehungen und die Zentralisierung der Macht im Krieg (30.05.2024) Analyse: Das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive in Zeiten des Krieges: Die Ukraine seit Beginn der russischen Vollinvasion Analyse: Wie schnell werden Gesetzentwürfe von der Werchowna Rada verabschiedet? Wie kann der Prozess effizienter gestaltet werden? Chronik: 1. bis 30. April 2024 Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter / Ukrainische Community in Deutschland / Deutsch-ukrainische kommunale Partnerschaften (29.04.2024) Analyse: Arbeitsmarktintegration der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland Statistik: Integration in den Arbeitsmarkt Analyse: Die ukrainische Community in Deutschland Analyse: (Un)genutzte Potenziale in den deutsch-ukrainischen Kommunal- und Regionalpartnerschaften Dokumentation: Übersicht deutsch-ukrainischer Partnerschaften Chronik: 11. bis 31. März 2024 10 Jahre Krim-Annexion / Donbas nach der Annexion 2022 (21.03.2024) Analyse: Zehn Jahre russische Annexion: Die aktuelle Lage auf der Krim Dokumentation: Reporters Without Borders: Ten years of Russian occupation in Crimea: a decade of repression of local independent journalism Dokumentation: Europarat: Crimean Tatars’ struggle for human rights Statistik: Repressive Gerichtsverfahren auf der Krim und in Sewastopol Analyse: Die Lage im annektierten Donbas zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 Umfragen: Öffentliche Meinung zur Krim und zum Donbas Chronik: 22. Februar bis 10. März 2024 Wirtschaft / Rohstoffe / Kriegsschäden und Wiederaufbau Analyse: Wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit in einer schwierigen Gesamtlage Analyse: Die Rohstoffe der Ukraine und ihre strategische Bedeutung Analyse: Schäden und Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur Chronik: 11. Januar bis 21. Februar 2024 Zwei Jahre Angriffskrieg: Rückblick, aktuelle Lage und Ausblick (23.02.2024) Analyse: Zwei Jahre russischer Angriffskrieg. Welche politischen, militärischen und strategischen Erkenntnisse lassen sich ziehen? Kommentar: Die aktuelle Lage an der Front Kommentar: Wie sich der russisch-ukrainische Krieg 2024 entwickeln könnte Kommentar: Die Ukraine wird sich nicht durchsetzen, wenn der Westen seine eigene Handlungsfähigkeit verleugnet Kommentar: Wie funktioniert das ukrainische Parlament in Kriegszeiten? Kommentar: Wie die Wahrnehmung des Staates sich durch den Krieg gewandelt hat Umfragen: Stimmung in der Bevölkerung Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Statistik: Russische Raketen- und Drohnenangriffe, Verbrauch von Artilleriegranaten, Materialverluste im Kampf um Awdijiwka Folgen des russischen Angriffskriegs für die ukrainische Landwirtschaft (09.02.2024) Analyse: Zwischenbilanz zum Krieg: Schäden und Verluste der ukrainischen Landwirtschaft Analyse: Satellitendaten zeigen hohen Verlust an ukrainischen Anbauflächen als Folge der russischen Invasion Statistik: Getreideexporte Chronik: 17. Dezember 2023 bis 10. Januar 2024 Kunst, Musik und Krieg (18.01.2024) Analyse: Ukrainische Künstler:innen im Widerstand gegen die großangelegte Invasion: Dekolonialisierung in der Kunst nach dem 24. Februar 2022 Analyse: Musik und Krieg Dokumentation: Ukrainische Musiker:innen, die durch die russische Invasion umgekommen sind Statistik: "De-Russifizierung" der ukrainischen Youtube-Musik-Charts Umfragen: Änderung des Hörverhaltens seit der großangelegten Invasion Chronik: 21. November bis 16. Dezember 2023 Eintritt in eine neue Kriegsphase? / Selenskyjs Appelle an Russland (19.12.2023) Interview: "Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht" Statistik: Geländegewinne seit Beginn der Großinvasion Kommentar: Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase? Statistik: Internationale Hilfen für die Ukraine Analyse: Selenskyjs Appelle an russische Staatsbürger:innen im ersten Jahr des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine Dokumentation: Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an das russische Volk am Vorabend der großangelegten Invasion Chronik: 28. Oktober bis 20. November 2023 Der Globale Süden und der Krieg (24.11.2023) Analyse: Der Blick aus dem Süden: Lateinamerikanische Perspektiven auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Krieg gegen die Ukraine und Afrika: Warum die Afrikanische Union zwar ambitioniert, aber gespalten ist Analyse: Eine Kritik der zivilisatorischen Kriegsdiplomatie der Ukraine im Globalen Süden Umfragen: Umfragedaten: Der Globale Süden und Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Abstimmungen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Chronik: 16. bis 27. Oktober 2023 Zwischen Resilienz und Trauma: Mentale Gesundheit (02.11.2023) Analyse: Mentale Gesundheit in Zeiten des Krieges Karte: Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur der Ukraine Analyse: Den Herausforderungen für die psychische Gesundheit ukrainischer Veteran:innen begegnen Umfragen: Umfragen zur mentalen Gesundheit Statistik: Mentale Gesundheit: Die Ukraine im internationalen Vergleich Chronik: 1. bis 15. Oktober 2023 Ukraine-Krieg in deutschen Medien (05.10.2023) Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Analyse: Die Qualität der Medienberichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine Analyse: Russlands Aggression gegenüber der Ukraine in den deutschen Talkshows 2013–2023. Eine empirische Analyse der Studiogäste Chronik: 1. bis 30. September 2023 Ökologische Kriegsfolgen / Kachowka-Staudamm (19.09.2023) Analyse: Die ökologischen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine Analyse: Ökozid: Die katastrophalen Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms Dokumentation: Auswahl kriegsbedingter Umweltschäden seit Beginn der großangelegten russischen Invasion bis zur Zerstörung des Kachowka-Staudamms Statistik: Statistiken zu Umweltschäden Zivilgesellschaft / Lokale Selbstverwaltung und Resilienz (14.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause – und eine Ankündigung Analyse: Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft Statistik: Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft Analyse: Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine Wissenschaft im Krieg (27.06.2023) Kommentar: Zum Zustand der ukrainischen Wissenschaft in Zeiten des Krieges Kommentar: Ein Brief aus Charkiw: Ein ukrainisches Wissenschaftszentrum in Kriegszeiten Kommentar: Warum die "Russian Studies" im Westen versagt haben, Aufschluss über Russland und die Ukraine zu liefern Kommentar: Mehr Öffentlichkeit wagen. Ein Erfahrungsbericht Statistik: Auswirkungen des Krieges auf Forschung und Wissenschaft der Ukraine Innenpolitik / Eliten (26.05.2023) Analyse: Zwischen Kriegsrecht und Reformen. Die innenpolitische Entwicklung der Ukraine Analyse: Die politischen Eliten der Ukraine im Wandel Statistik: Wandel der politischen Elite in der Ukraine im Vergleich Chronik: 5. April bis 3. Mai 2023 Sprache in Zeiten des Krieges (10.05.2023) Analyse: Die Ukrainer sprechen jetzt hauptsächlich Ukrainisch – sagen sie Analyse: Was motiviert Ukrainer:innen, vermehrt Ukrainisch zu sprechen? Analyse: Surschyk in der Ukraine: zwischen Sprachideologie und Usus Chronik: 08. März bis 4. April 2023 Sozialpolitik (27.04.2023) Analyse: Das Sozialsystem in der Ukraine: Was ist nötig, damit es unter der schweren Last des Krieges besteht? Analyse: Die hohen Kosten des Krieges: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die Armut verschärft Chronik: 22. Februar bis 7. März 2023 Besatzungsregime / Wiedereingliederung des Donbas (27.03.2023) Analyse: Etablierungsformen russischer Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine: Wege und Gesichter der Okkupation Karte: Besetzte Gebiete Dokumentation: Human Rights Watch: Torture, Disappearances in Occupied South. Apparent War Crimes by Russian Forces in Kherson, Zaporizhzhia Regions (Ausschnitt) Dokumentation: War and Annexation. The "People’s Republics" of eastern Ukraine in 2022. Annual Report (Ausschnitt) Dokumentation: Terror, disappearances and mass deportation Dokumentation: Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Analyse: Die Wiedereingliederung des Donbas nach dem Krieg: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung Chronik 11. bis 21. Februar 2023 Internationaler Frauentag, Feminismus und Krieg (13.03.2023) Analyse: 8. März, Feminismus und Krieg in der Ukraine: Neue Herausforderungen, neue Möglichkeiten Umfragen: Umfragen zum Internationalen Frauentag Interview: "Der Wiederaufbau braucht einen geschlechtersensiblen Ansatz" Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Korruptionsbekämpfung (08.03.2023) Analyse: Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine Dokumentation: Statistiken und Umfragen zu Korruption Analyse: Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement Chronik: 1. bis 10. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Jahrestag der Invasion (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg hat die Profile der EU und der USA in der Ukraine gefestigt Kommentar: Wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft stabilisiert hat Kommentar: Die existenzielle Frage "Sein oder Nichtsein?" hat die Ukraine klar beantwortet Kommentar: Wie und warum die Ukraine neu aufgebaut werden sollte Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Statistik: Verluste an Militärmaterial der russischen und ukrainischen Armee Chronik: 17. bis 31. Januar 2023 Meinungsumfragen im Krieg (15.02.2023) Kommentar: Stimmen die Ergebnisse von Umfragen, die während des Krieges durchgeführt werden? Kommentar: Vier Fragen zu Umfragen während eines umfassenden Krieges am Beispiel von Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine zu Kriegszeiten: Zeigen sie uns das ganze Bild? Kommentar: Meinungsforschung während des Krieges: anstrengend, schwierig, gefährlich, aber interessant Kommentar: Quantitative Meinungsforschung in der Ukraine zu Kriegszeiten: Erfahrungen von Info Sapiens 2022 Kommentar: Meinungsumfragen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen Kommentar: Politisches Vertrauen als Faktor des Zusammenhalts im Krieg Kommentar: Welche Argumente überzeugen Deutsche und Dänen, die Ukraine weiterhin zu unterstützen? Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: Chronik 9. bis 16. Januar 2023 Ländliche Gemeinden / Landnutzungsänderung (19.01.2023) Analyse: Ländliche Gemeinden und europäische Integration der Ukraine: Entwicklungspolitische Aspekte Analyse: Monitoring der Landnutzungsänderung in der Ukraine am Beispiel der Region Schytomyr Chronik: 26. September bis 8. Januar 2023 Weitere Angebote der bpb Redaktion

Analyse: Die Ukraine, Russland und der Westen. Die Bilanz nach einem Jahr der Präsidentschaft von Poroschenko

Gerhard Simon

/ 8 Minuten zu lesen

Die Ukraine ist nach dem Sieg des Maidan im Februar 2014 entschlossen, sich aus der Hegemonie Russlands zu lösen und einen eigenen Weg nach Westen zu gehen, mit einem klar formulierten Ziel: Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Dies ist der entscheidende Grund für die Krise und den Krieg zwischen der Ukraine und Russland.

Fahnen von Ukraine und Europäischen Union. (© picture-alliance)

Der Weg nach Westen

Seit beinahe einem Vierteljahrhundert ist die Ukraine ein unabhängiger Staat. Sie hat in diesen ersten Jahrzehnten der Selbständigkeit immer wieder in ihrer außenpolitischen Orientierung geschwankt zwischen der Anlehnung an Russland und der Orientierung auf das Fernziel Integration in die EU; "Politik in viele Richtungen" (bahatovektornist) nannte man das unter Präsident Kutschma. Tatsächlich verblieb das Land in einer Grauzone und war damit ein unsicherer Kantonist sowohl für Russland als auch für den Westen.

Historisch gesehen und in der Perspektive der "langen Dauer" (longue durée) ist die Position zwischen Ost und West, zwischen Russland und Polen durchaus typisch für die Ukraine; sie hat aber verhängnisvolle Konsequenzen gehabt. Denn die Lage in der Grauzone war ein entscheidender Grund dafür, dass es der Ukraine über lange Zeit nicht gelang, einen eigenen Staat zu gründen und damit von einem Objekt zu einem Subjekt der Geschichte zu werden. Von der Frühen Neuzeit bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gehörten alle damals von Ukrainern bewohnten Territorien zum Königreich Polen-Litauen. Danach begann Schritt für Schritt ihre Einbeziehung in das Moskauer Russische Imperium. In der Perspektive der "langen Dauer" kann man sagen, dass die Ukraine mit der Assoziation an die EU auf ihren historischen Weg im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zurückkehrt.

Die Antwort Russlands

Russland ist nicht bereit, diese Wahl des eigenen Weges und die Loslösung der Ukraine aus dem russischen Hegemonialverband zu akzeptieren, und Putin hat dabei den größten Teil der russischen Öffentlichkeit hinter sich. Zwar hat Russland nach 1991 die Unabhängigkeit der Ukraine völkerrechtlich anerkannt, aber tatsächlich haben weder die politischen Eliten noch die breite Bevölkerung verkraftet, dass die Ukraine sich von Russland abwendet und einen eigenen Weg geht. Denn eines ist auch aus der russischen Perspektive eindeutig: Ohne die Ukraine ist das Imperium für immer Vergangenheit. Der historische Einschnitt von 1991, den Putin als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat, bleibt dann irreversibel. Die außenpolitische Orientierung auf Russland oder nach Westen hat einschneidende Konsequenzen für die innere Ordnung von Politik und Gesellschaft: Entweder parlamentarische Demokratie, weltanschauliche Toleranz und Rechtsstaatlichkeit oder autoritäre Präsidialherrschaft auf der Grundlage einer nationalen Idee von Großmacht und historischem Anspruch. Die Ukraine bekennt sich nach zwei zivilgesellschaftlichen Erhebungen 2004 und 2013/14 zur europäischen Vision einer freien Gesellschaft und bezieht daraus den Willen zu rechtsstaatlichen Reformen. In der offiziellen russischen Wahrnehmung dagegen wird der Westen immer stärker zur Bedrohung und zum Feind.

Die Annexion der Krim im März 2014 und der fortdauernde Krieg im Donbass haben zwischen der Ukraine und Russland Gräben aufgerissen, die weder die Beteiligten selbst noch die Welt draußen vor zwei Jahren für möglich gehalten haben. Die Narrative über die Gegenwart sind unüberbrückbar und scheinen von verschiedenen Ländern zu erzählen. Während in der Ukraine die erfolgreiche "Revolution der Würde" als Überwindung der korrupten Herrschaft des von Russland gestützten autoritären Präsidenten Janukowitsch gilt, malt die russische Propaganda ein ganz anderes Bild: In Kiew habe eine faschistische Junta gewaltsam den Präsidenten davongejagt und führe nun einen Krieg gegen alle Russen und alles Russische. Der tatsächliche Akteur im Hintergrund aber seien die USA, die auf diese Weise den Konkurrenten Russland schwächen wollten.

Inzwischen sind aber nicht nur die jeweiligen Vorstellungen über Gegenwart und Zukunft, sondern auch die über die Vergangenheit unvereinbar: Während in der Ukraine ein Gesetz in Kraft getreten ist, das die Propaganda der kommunistischen ebenso wie der nationalsozialistischen Symbolik verbietet, wird in Russland ein Gesetz vorbereitet, das die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus unter Strafe stellt. Während in der Ukraine immer mehr Lenin-Denkmäler fallen, wird in Russland der Stalin-Kult wiederbelebt.

Der Krieg

Nach mehr als einem Jahr Krieg im Donbass hat keine Seite ihre Kriegsziele erreicht, was die Lage nicht nur labil, sondern auch gefährlich macht, weil eine erneute militärische Eskalation nicht ausgeschlossen werden kann. Russlands Kriegsziel ist die nachhaltige Destabilisierung der Ukraine und der Sturz der Regierung in Kiew, um dort wieder ein Regime zu etablieren, das die Ukraine in ähnlicher Weise wie Janukowitsch bis zum Februar 2014 innen- und außenpolitisch in russischem Fahrwasser hält. Ukrainisches Kriegsziel ist die Wiederherstellung der Souveränität auf dem gesamten Staatsgebiet einschließlich der Kontrolle über die eigene Staatsgrenze im Donbass. Taktisch haben beide Seiten Zugeständnisse gemacht und so den labilen Waffenstillstand Minsk 2 im Februar 2015 ermöglicht. Die Ukraine bezeichnet die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als "vorübergehend okkupierte Territorien" und verzichtet gegenwärtig auf eine militärische Rückeroberung. Russland hat das Projekt "Neu-Russland" fallengelassen, das eine Abtrennung großer Teile der östlichen und südlichen Ukraine von Kiew vorsah. Im Gegensatz zur Krim strebt die russische Politik derzeit nicht die Eingliederung der sogenannten Volksrepubliken in den russischen Staatsverband an.

Gegenwärtig spricht vieles dafür, dass der Krieg im Donbass mit niedriger Intensität weitergehen wird, weil Russland so einen Hebel zur Destabilisierung der Ukraine in der Hand behält. Aus russischer Sicht ist der fortdauernde Krieg im Donbass zudem eine Garantie dafür, dass eine Aufnahme der Ukraine in EU und Nato nicht realistisch ist.

Schleppende Reformen

Der Krieg hat dazu geführt, dass die dringend notwendigen Reformen in der Ukraine nicht mit dem nötigen Nachdruck betrieben werden. Der Krieg im Donbass hat bisher – rechnet man die Verluste auf beiden Seiten zusammen – mehr als 10.000 Tote gefordert, hinzu kommt ein Mehrfaches davon an Verwundeten; täglich werden neue Opfer gemeldet. Mehr als 1,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht – manche vorübergehend, andere auf Dauer. Dennoch wird der Krieg im Land selbst und im Ausland immer weniger als Entschuldigung für den schleppenden Gang der Reformen akzeptiert. Wieder wird der Verdacht laut, die ukrainische Führung sei hervorragend in der politischen Rhetorik, der Deklaration von Zielen, aber schwach und ohne die nötige Konsequenz bei ihrer Umsetzung. Ziele sind die De-Monopolisierung der Wirtschaft, das heißt die Entmachtung der Oligarchen, die Dezentralisierung im Rahmen einer Verfassungsreform und vor allem eine Justizreform, ohne die alle Versprechungen über die Bekämpfung der Korruption Lippenbekenntnisse bleiben. Zwar hat die Werchowna Rada, das Parlament, einige Gesetze auf den Weg gebracht, aber viele Menschen spüren im Alltag hauptsächlich die sozialen Härten der Reformen, wie massive Anhebung der Tarife für Gas und Strom. Das mit umfassenden Vollmachten und viel Vorschusslorbeer ausgestattete Anti-Korruptionsbüro soll nun endlich im Herbst seine Tätigkeit aufnehmen. Präsident Poroschenko hat – entgegen seinen Versprechungen – bis heute sein Firmenimperium nicht verkauft.

Ökonomische Talfahrt

Zwar ist es im vergangenen Winter nicht zu massiven Versorgungsengpässen gekommen, aber inzwischen macht sich die wirtschaftliche Abwärtsspirale deutlich bemerkbar und trägt zur wachsenden Kritik an der Regierung bei. Das BIP ist 2014 um 6,8 % zurückgegangen; für das Jahr 2015 werden weitere 5,5 % Rückgang prognostiziert. Die Reallöhne werden in diesem Jahr voraussichtlich um 15 % fallen; die Inflation wird für das Jahr 2015 gegenüber dem vorangegangenen Jahr auf 30 % bis 35 % veranschlagt. Erst im Jahr 2016 erwarten die Fachleute eine leichte wirtschaftliche Erholung und damit das Ende der Talfahrt. Der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung liege hinter der Ukraine, heißt es derzeit aus der Regierung.

Die ambivalente Politik des Westens

Der Westen betreibt angesichts der enormen Schwierigkeiten des Landes eine Schaukelpolitik: Einerseits solidarisieren sich die EU und die USA mit der Ukraine. Nie zuvor hat das Land so viel internationales Wohlwollen, Anerkennung und Unterstützung gefunden. Nie zuvor war Russland so isoliert und der Graben zum Westen so tief – das gilt sogar im Vergleich zu manchen Phasen des Kalten Krieges. Das geradezu nonchalante Vorgehen Russlands bei der Annexion der Krim und die fortdauernde russische Leugnung, am Krieg im Donbass beteiligt zu sein, haben fast überall im Westen Empörung, zumindest aber Unverständnis ausgelöst. Russland hat in hohem Maß seine Glaubwürdigkeit als Partner verloren.

Andererseits: Trotz der politischen, ökonomischen und in geringem Umfang auch militärischen Unterstützung der Ukraine durch den Westen verweigert die EU der Ukraine nach wie vor eine Beitrittsperspektive. Damit respektiert der Westen zumindest implizit die russische Position von den – wenn auch inzwischen kleiner gewordenen – Einflusszonen, nach der zwar Polen und die baltischen Staaten Mitglieder von Nato und EU werden konnten, dies der Ukraine aber nicht möglich sein soll. Auf längere Sicht wird sich diese Politik der Inkonsequenz kaum durchhalten lassen: Sowohl die Ukraine als auch Russland werden mehr vom Westen fordern: Natürlich jeweils das Gegenteil von dem, was die andere Seite verlangt.

Zukunftsperspektiven

Die Ukraine hat in den vergangenen Jahren einen langen Weg zurückgelegt. Die Konsolidierung einer politischen Nation, zu der sich sowohl die Ukrainischsprachigen als auch die Russischsprachigen bekennen, macht große Fortschritte. Der zweimalige Maidan 2004 und 2013/14 hat das Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft gestärkt. Die außenpolitische Orientierung auf die EU und weg von Russland findet heute eine breite Mehrheit in der Bevölkerung. Bei einer Umfrage im April 2015 sprachen sich 52 % der Ukrainer für den Beitritt zur EU aus, 12 % votierten für den Beitritt zur Zollunion mit Russland. Auch die Zustimmung zu einem Nato-Beitritt, die sich lange auf einem niedrigen Niveau bewegt hatte, wächst. Eine relative Mehrheit von 43 % befürwortet inzwischen die Mitgliedschaft in der Verteidigungsallianz, 32 % sind dagegen.

Kein Zweifel, im Osten und Süden des Landes ist die europäische Orientierung deutlich schwächer ausgeprägt als im Westen und im Zentrum. Aber sogar im Donbass sprechen sich derzeit mehr Menschen für den Beitritt zur EU aus als zur Zollunion mit Russland. Dennoch gibt es eine antiukrainische mentale Disposition bei einem Teil der Bevölkerung im Donbass, die Kiew als Feind und Moskau als Hoffnung wahrnimmt, vor allem aber sich selbst für das Zentrum hält. Die ukrainische Politik und Gesellschaft müssen nach dem Krieg Instrumente für die Versöhnung entwickeln.

Insgesamt ist die Ukraine an einem Punkt ihrer Geschichte angelangt, an dem eine Rückkehr zu den früheren Verhältnissen ausgeschlossen erscheint. Der Abschied vom russisch bestimmten Imperium dürfte genauso unumkehrbar sein wie der Wille, zu einem integralen Teil Europas zu werden. Die Konsolidierung einer autoritären Präsidialherrschaft ist in Kiew zu keiner Zeit gelungen, sie wird in der Zukunft umso weniger möglich sein.

Das Putinsche Russland hat durch die Nichtanerkennung der ukrainischen Eigenständigkeit und die politische und militärische Aggression – entgegen den russischen Intentionen – einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Ukraine geleistet. Jetzt aber braucht die Ukraine die Solidarität und die Unterstützung des Westens, um auf dem eingeschlagenen Weg erfolgreich weiterzugehen.

Der Beitrag beruht auf dem Einleitungsregerat des Autors zu den "Kiewer Gesprächen" in Köln am 11. Juni 2015.

Fussnoten

Prof. Dr. Gerhard Simon ist Historiker und war Leitender Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und lehrte an den Universitäten Köln und Bonn.