Erste Versuche
Eine Energiestrategie wurde von der ukrainischen Regierung bereits im März 2006 mit Verordnung Nr. 145 verabschiedet. Es war der erste Versuch, den aktuellen Zustand des Brennstoff- und Energiesektors einzuschätzen, ihn in Bezug zur erwarteten Wirtschaftsentwicklung zu setzen und den Energiebedarf des Landes nach Energieträgern differenziert mittelfristig zu prognostizieren. Die Strategie wurde allerdings bereits in der Vorbereitungsphase sowohl von der Fachwelt als auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen heftig kritisiert. Zentrale Kritikpunkte waren unrealistische Annahmen zum Wirtschaftswachstum und übertrieben ehrgeizige Pläne zur Schaffung neuer Produktionskapazitäten, vor allem im Bereich der Atomenergie. Wie erwartet, zeigte die Realität schnell die Fehleinschätzungen der Energiestrategie auf. Paradoxerweise begann gerade 2006, also im Jahr der Verabschiedung der Strategie, der Rückgang der ukrainischen Produktion von fossilen Brennstoffen. Die Strategie sagte ein jährliches Wachstum von 3 % bei Stromerzeugung und Stromverbrauch voraus, was im Basisszenario für 2010 zu einem Bedarf von 210 Mrd. Kilowattstunden (kWh) führen sollte. Tatsächlich lag die Stromproduktion im Jahr 2010 mit 188 Mrd. kWh sogar noch unter dem pessimistischen Szenario, das von 195 Mrd. kWh ausgegangen war. Dass die alte Energiestrategie von Anfang an unrealistisch war, wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass die große Mehrheit der Vorgaben zur Verbesserung der Situation im Energiesektor, die der nationale Sicherheitsrat der Ukraine im Jahr 2009 beschlossen hat, nicht umgesetzt wurden.
Die "Aktualisierung"
Zur Aktualisierung und Anpassung der vorgegebenen Ziele sieht die Energiestrategie von 2006 alle fünf Jahre eine Revision vor. Damit wurde 2010 begonnen, als das Programm des Präsidenten für Wirtschaftsreformen im Zeitraum 2010–2014 präsentiert wurde, welches die Anpassung der Energiestrategie der Ukraine bis 2030 vorsah. Im Oktober 2010 setzte die Regierung eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Energiestrategie ein. Im folgenden Jahr beauftragte die Regierung den vom Oligarchen Rinat Achmetow gegründeten Fond "Effektive Verwaltung" mit der Koordination der Entwicklung einer neuen Energiestrategie. Hierbei ist zu beachten, dass Achmetows Unternehmensgruppe SKM über die Tochtergesellschaft DTEK fast 48 % der gesamten Kohleförderung, 75 % der Wärmekraftwerke und 27 % der Stromproduktion des Landes kontrolliert. Dementsprechend wurden Bedenken wegen eines Interessenkonfliktes hervorgerufen. Die am 24. Juli 2013 von der Regierung verabschiedete Energiestrategie wurde dann erst ein halbes Jahr später, am 2. Februar 2014, im Volltext veröffentlicht. Die neue Energiestrategie gibt leider keinen Anlass zu Optimismus bezüglich ihrer Erfolgsaussichten. Erst einmal müssen für eine Aktualisierung oder Korrektur alter Vorgaben Ergebnisse einer Performance-Analyse vorliegen. Tatsächlich gibt es in der neuen Version der Energiestrategie einen separaten Teil mit dem Titel "Performance-Analyse und Gründe für die Revision der Energiestrategie". Das Kapitel nennt die Gründe der Revision, erläutert aber nicht die Perfomance-Analyse der 2006 gesetzten Ziele. Die Bewertung der Energiestrategie von 2006 erfolgte dann auch nicht durch die Autoren der Energiestrategie sondern nur durch die Staatliche Rechnungsprüfung der Ukraine. Bei der Finanzprüfung der Umsetzung der alten Energiestrategie kommen die Prüfer zu einem enttäuschenden Ergebnis. So sollten während der ersten fünf Jahre (2006–2010) insgesamt 44,3 Mrd. Hrywnja (UAH) in die Elektrizitätswirtschaft investiert werden, u. a. für Bau, Rekonstruktion und Modernisierung von Wärmekraftwerken 16,7 Mrd. UAH, für Wasserkraftwerke 2,8 Mrd., für die Entwicklung des Stromnetzes 13,2 Mrd. und für Kernkraftwerke 11,6 Mrd. Die tatsächliche Finanzierung im Bereich des Kraftwerkbaus lag bei nur 15 % der geplanten Investitionen. Die ehrgeizigen Ziele der Energiestrategie wurden im Verlauf von fünf Jahren zu unerfüllten Ambitionen.
Erneut unrealistische Wirtschaftsprognose
Die neue Fassung der Energiestrategie nimmt für alle Szenarien der zukünftigen Entwicklung ein Wirtschaftswachstum in zwei Phasen an:
dynamisches Wachstum in der Zeit nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bis zum Erreichen des Vorkrisenniveaus
und dann
niedrigeres Wirtschaftswachstum bei einem allmählichen Strukturwandel hin zum Dienstleistungssektor.
Die aktuelle Wirtschaftsentwicklung der Ukraine erweckt den Eindruck, dass das Land direkt zur zweiten Phase übergegangen ist. Im Basis-Szenario der neuen Energiestrategie wird aber immer noch ein Wachstum von 5 % pro Jahr angenommen. Zur Erinnerung: Im Jahr 2012, in dem die Energiestrategie zur Diskussion freigegeben wurde, betrug das Wachstum der ukrainischen Volkswirtschaft 0,2 %. 2013 gab es ebenfalls kein Wachstum. Nach den letzten Entwicklungen, verbunden u. a. mit wirtschaftlichem Druck von Seiten Russlands, dürfte auch 2014 kein Wachstum zu erwarten sein. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wenn es mindestens drei Varianten der Energiestrategie gab, warum wurde dann eine solche Wirtschaftsentwicklung nirgends berücksichtigt? Damit sieht es so aus, als würde die neue Version der Energiestrategie dasselbe Schicksal erleiden wie die alte Version.
Dilemma Atomkraft
Einer der zentralen Kritikpunkte an der Energiestrategie von 2006 waren die völlig unrealistischen Pläne für die Entwicklung der Atomenergie. Die alte Strategie sah den Bau von 22 neuen Atomreaktoren bis zum Jahr 2030 vor. Die neue Version der Strategie spricht nun von 5 bis 7 neuen Blöcken für Atomkraftwerke. Auch diese Pläne werfen jedoch Fragen auf. Warum sollen neue Atomkraftwerke gebaut werden, wenn die vorhandenen nicht ausgelastet sind? Der Auslastungsgrad der ukrainischen Atomkraftwerke sinkt seit 2011 und lag 2013 (Zahlen bis September) bei 68 %, während der weltweite Durchschnitt 87 % betrug. In einigen Ländern gibt es Vorschriften, die eine Inbetriebnahme von Atomkraftwerken (AKWs) erst erlauben, wenn das erforderliche Leitungsnetz in vollem Umfang fertiggestellt worden ist. Die Ukraine ist nicht unter diesen Ländern. Wie sonst ist es zu erklären, dass drei der vier Atomkraftwerke des Landes (Riwne, Chmelnizki und Saporischschja) wegen mangelnden Leitungskapazitäten und Verteilerstationen nicht mit voller Auslastung arbeiten können. Als erstes sollten in der Ukraine die Blöcke 3 und 4 des AKW Chmelnizki gebaut werden. Im Jahr 2012 wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet – sieben Jahre nachdem bereits 2005 der entsprechende Beschluss gefasst worden war. In offiziellen Dokumenten über den Bau der beiden Blöcke steht jedoch, dass bis 2020 bzw. 2025 das Stromsystem der gesamten südwestlichen Region der Ukraine, in der sich Chmelnizki befindet, auch ohne Inbetriebnahme der Blöcke ausreichende Kapazitäten besitzt. Eine Notwendigkeit für die Schaffung neuer Kapazitäten in der Region ist nicht gegeben. Auch die Statistik zur Abdeckung des Spitzenverbrauchs im Jahr 2012 belegt, dass die Ukraine über erhebliche Überkapazitäten bei der Stromproduktion verfügt. Während in anderen Ländern die Effizienz der bestehenden AKWs gesteigert wird, werden in der Ukraine einfach neue gebaut. Reparaturen und fehlende Leitungskapazitäten führen dabei regelmäßig zu Stromausfällen. Während die Ukraine erhebliche Überkapazitäten bei der Stromproduktion hat, mangelt es akut an Kontroll- und Verteilerkapazitäten. Gerade Verteilerkapazitäten im Leitungsnetz sind ein wichtiger Faktor für den sicheren Betrieb von Atomkraftwerken.
Ineffizientes Stromnetz
Enormes Potenzial für eine effizientere Stromnutzung liegt in der Modernisierung des Leitungsnetzes. Die Ukraine hat in den letzten zehn Jahren große Fortschritte bei der Verringerung von Energieverlusten im Leitungsnetz gemacht. Allerdings liegen die aktuellen Kennzahlen für Stromverluste im Leitungsnetz in der Ukraine immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt der späten 1960er Jahre und sind doppelt so hoch wie der derzeitige Durchschnitt. Hinzu kommt, dass die Fortschritte in der Ukraine vor allem zum Beginn des Jahrtausends erreicht wurden und in den letzten Jahren die Übertragungsverluste kaum noch zurückgegangen sind. Im Jahr 2009 betrugen die Übertragungsverluste im öffentlichen Stromnetz mehr als 20 Mrd. kWh, was dem Gesamtverbrauch aller Unternehmen im Dienstleistungssektor und der Landwirtschaft entspricht. 20 Mrd. kWh entsprechen auch etwa der Stromproduktion von zwei Atomreaktoren mit großer Kapazität. Wenn die Verluste im Leitungsnetz auf den europäischen Durchschnitt von 6 % reduziert würden, könnten 10 Mrd. kWh pro Jahr eingespart werden.
Energiesparmaßnahmen
Der Energieverbrauch der Ukraine beträgt pro Einheit des BIP das Doppelte bis Vierfache des EU-Durchschnitts. Zum Beispiel ist das polnische BIP (in Kaufkraftparität) fast doppelt so groß wie das der Ukraine. Polen verbraucht aber deutlich weniger Energie als die Ukraine. Die Türkei produziert mit dem selben Energieverbrauch wie die Ukraine ein dreimal so großes BIP. Umgekehrt bedeutet dies, dass im benachbarten Polen bereits heute das Niveau der Energieintensität erreicht worden ist, dass die ukrainische Energiestrategie für 2030 zum Ziel hat. Das heißt, die Strategie hat eine 20-jährige Rückständigkeit gegenüber Polen eingeplant, ganz zu schweigen vom Vergleich zu in dieser Hinsicht weiter entwickelten Ländern. Ein einfaches Rechenbeispiel zeigt die mögliche Wirkung von Maßnahmen zur Senkung der Energieintensität. Wenn die Energieintensität der ukrainischen Wirtschaft im Jahr 2010 dem globalen Durchschnitt entsprochen hätte, wäre der Energieverbrauch nur halb so groß gewesen wie der tatsächliche Verbrauch. Damit wäre Energie im Umfang von 60 Mio. Tonnen Erdöläquivalent weniger verbraucht worden, während der gesamte Energieimport der Ukraine im Jahr 2010 nur bei 42 Mio. Tonnen lag. Die Nutzung des enormen Potenzials für Energiesparmaßnahmen ist der einzige Weg, die Energieintensität der ukrainischen Wirtschaft zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
Der Einfluss Moskaus
Die Ereignisse im März 2014 haben erneut die Anfälligkeit der Ukraine gegenüber russischem Druck gezeigt. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dieser Druck zunehmen wird. Die Energiesicherheit ist dabei ein wichtiger Bestandteil der nationalen Sicherheit der Ukraine. Die ukrainische Energiewirtschaft ist stark von Importen aus Russland abhängig, dessen Anteil beim Erdgas über 50 % und bei Brennstäben für Atomkraftwerke fast bei 100 % liegt. Diese Abhängigkeit von russischen Energieressourcen bedroht die nationale Sicherheit der Ukraine. Die Ukraine darf deshalb bei der Lösung der Probleme im Energiesektor keine Zeit mehr verlieren. Die Reform im Energiesektor ist keine Frage von Alternativen, sondern eine Frage des Überlebens des Staates.
Was ist zu tun?
Wenn die neue Energiestrategie sich weiterhin auf unrealistische Entwicklungsszenarien konzentriert, ohne aktuelle Trends und Herausforderungen zu berücksichtigen, wenn sie auf den Ausbau der Energieproduktion anstelle von Energiesparmaßnahmen setzt, wird das wichtigste Dokument des Staates im Energiesektor das Schicksal der Vorgängerversion teilen. Studien zeigen, dass eine alle Bereiche umfassende Steigerung der Energieeffizienz auf europäisches Niveau für die Ukraine Einsparungen von rund 11,4 Mrd. Euro bringen würde. Dadurch wird die Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Wirtschaft gesteigert, die Umweltbelastung reduziert und die Zahlungsbilanz des Landes verbessert. Entsprechende Maßnahmen einzuleiten ist nicht zu schwer. Erste Schritte wären: +
Überprüfung der Pläne für die Zusammenarbeit mit Russland im Bereich der Kernenergie, Verzicht auf den Bau der Blöcke 3 und 4 im AKW Chmelnizki (des russischen Typs WWER-1000/W-392) und Verzicht auf den Bau einer Kernbrennstofffabrik mit der Technik der russischen Atomfirma TVEL.
Übergang zur Kooperation mit dem amerikanischen Unternehmen Westinghouse bei der Versorgung der ukrainischen Atomkraftwerke mit Kernbrennstäben. Auf diese Weise wird die Abhängigkeit von russischen Lieferungen, die derzeit in der Ukraine ein Monopol besitzen, reduziert.
Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen zur beschleunigten Umsetzung von Energiesparmaßnahmen, insbesondere bezüglich Energieeffizienzmaßnahmen in öffentlichen Einrichtungen, kaufmännischem Rechnungswesen bei kommunalen Versorgungsunternehmen für Wärme, Wasser und Abwasser sowie bezüglich eines verbindlichen Energieaudits.
Ratifizierung und Umsetzung von EU-Richtlinien im Rahmen des Beitritts der Ukraine zur EU-Energiegemeinschaft.
Schrittweise Beseitigung von Quersubventionen beim Energieverbrauch bei gleichzeitiger Einführung von Schutzmaßnahmen für besonders betroffene Teile der Bevölkerung.
Modernisierung des Erdgaspipelinenetzes, einschließlich der Schaffung der technischen Möglichkeiten für eine Umstellung der Lieferrichtung und der Diversifizierung der Versorgungsquellen.
Einige dieser Maßnahmen benötigen nicht einmal Finanzmittel. Es ist Zeit zu erkennen, dass die billigste und sauberste Energie nicht aus Atomkraftwerken kommt und auch nicht aus erneuerbaren Energien, sondern vielmehr die Energie ist, die nicht genutzt wurde. Energieeinsparung ist das größte Kraftwerk und die wichtigste Energieressource der Ukraine. Diese Einsicht sollte die Grundlage für die neue Energiestrategie der Ukraine bis 2030 werden.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lina Pleines