Die Zentrale Wahlkommission (ZWK) gab zwei Wochen nach der Abstimmung das offizielle Ergebnis der Wahl zur siebten Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, bekannt. Nachdem die herrschende Partei der Regionen von Präsident Wiktor Janukowytsch und die drei Oppositionsparteien Vaterland, UDAR und Swoboda (Freiheit) mit insgesamt 185 bzw. 178 Mandaten ungefähr gleichauf liegen, werden die Weichen für die Mehrheitsbildung in jenen Einerwahlkreisen gestellt, in denen sog. selbst-aufgestellte Kandidaten gewonnen haben. Nach endgültiger Auszählung der Stimmen kommt die regierende Mehrheit aus der Partei der Regionen und den Kommunisten auf 43,18 % der Listenstimmen. Die drei Oppositionsparteien, denen die Überwindung der mit dem neuen Wahlgesetz eingeführten 5%-Hürde gelang, kommen zusammen auf 49,94 % der 225 Listenplätze. Zählt man jedoch die gewonnenen Mehrheitswahlkreise hinzu, erzielt die Partei der Regionen mehr als 40 % der 450 Gesamtsitze des Parlaments; gemeinsam mit den Kommunisten und den sog. selbst-aufgestellten Kandidaten, von denen mindestens 20 klar der Partei der Regionen zugerechnet werden können, kommen die Anhänger von Präsident Janukowytsch auf über 50 % der 450 Parlamentssitze. Allerdings ist der Partei der Regionen sehr daran gelegen, auch ohne die Kommunisten zumindest die einfache Parlamentsmehrheit von 226 Mandaten sicher zu wissen. Deshalb spielen die 43 sog. selbst-aufgestellten Einzelkandidaten eine noch bedeutendere Rolle als ursprünglich angenommen. Ähnliches gilt für die in Einerwahlkreisen erfolgreichen Kandidaten unbedeutender Parteien, die es nicht über die Listenwahl ins Parlament geschafft haben – insgesamt sieben, von denen allenfalls zwei klar der Partei der Regionen zugerechnet werden können. Von beiden Lagern erwartet die Partei der Regionen mehr Zugeständnisse als von den Kommunisten. Bereits in ihren ersten Äußerungen verwiesen Wahlbeobachter auf die besondere Gefahr von Unregelmäßigkeiten bei der Addierung der Wahlergebnisse aus den Wahllokalen. Auf das nach heutiger Lesart ehrgeizige Ziel der einfachen Mehrheit der Partei der Regionen dürfte es zurückzuführen sein, dass mit fortschreitender Auszählung die Anzahl jener Wahlkreise zunahm, in denen der Opposition Stimmen im Nachhinein wieder aberkannt wurden, indem Ergebnisse in einem oder mehreren Wahllokalen für ungültig erklärt wurden, obwohl Wahlbeobachter keine Formfehler oder Verstöße festgestellt hatten. Gleiches gilt für Stimmen, die der Opposition gar nicht erst zugeschlagen wurden, weil Protokolle und Wahlzettel aus Bezirkswahlkommissionen entwendet wurden, zum Teil unter Einsatz der Sonderpolizeieinheit Berkut. Zuletzt war die Zahl jener Wahlkreise, für die die Opposition massive nachträgliche Stimmenverluste geltend macht, auf 13 angewachsen. Dass sich die ZWK und das Parlament gegenseitig den Schwarzen Peter zuschoben, anstatt das Problem zu lösen, verdeutlicht die allgemeine Unsicherheit. Nachdem das noch amtierende Parlament auf Ersuchen der ZWK beschloss, dass die ZWK in jenen fünf Wahlkreisen Nachwahlen anordnen solle, in denen die Opposition den Auszählungsprozess zuallererst bemängelt hatte, erklärten einzelne Vertreter der ZWK (eine einheitliche ZWK-Meinung gab es nicht), die Protokolle für die umstrittenen Wahlkreise nicht abzeichnen zu wollen. Die Oppositions-Troika reichte Klage beim höchsten Verwaltungsgericht ein, mit dem Ziel, dass die ZWK die Wahlergebnisse feststellen solle. Neuwahlen sind ebenso wenig im Interesse der Opposition wie im Interesse der Partei der Regionen: Sie verzögern die neue Parlamentsbildung noch einmal um mehrere Monate und erfordern erneut viel Geld. Nachdem der stellvertretende Leiter der ZWK noch am 8. November erklärt hatte, in den strittigen Wahlkreisen seien die Ergebnisse nicht zu bestimmen und davon die Rede war, die Parlamentsarbeit mit fünf Deputierten weniger beginnen und im März nachwählen zu lassen, veröffentlichte die ZWK am 9. November überraschend die Ergebnisse aller Einerwahlkreise, auch jene aus den strittigen. Obwohl in allen fünfen Oppositionskandidaten die meisten Stimmen bekommen haben dürften, gewannen demnach in zweien die Partei der Regionen-Kandidaten, in einem ein selbst-aufgestellter aber der Regionenpartei naher Kandidat, in einem ein selbst-aufgestellter, nicht eindeutig zuzuordnender – und nur in einem der Oppositionskandidat. In den am 13. November in der Parlamentszeitschrift veröffentlichten offiziellen Wahlergebnissen fehlen die Angaben für diese Wahlkreise allerdings wieder, mit der Begründung, die Zentrale Wahlkommission habe hier kein Ergebnis ermitteln können – was die Oppositions-Troika, mit Hinweis auf existierende Protokolle, von Beginn an bestritt. Die Opposition hatte zuvor mit Vorschlägen, aus Protest Mandate gar nicht erst anzunehmen oder nach der Annahme niederzulegen, eine denkbar schlechte Figur gemacht – insbesondere, wenn man bedenkt, dass sie, nach unterschiedlichen Einschätzungen, in bis zu 30 Mehrheitswahlkreisen deshalb verlor, weil sie sich zuvor nicht auf einen einheitlichen Auftritt gegen die Parteien der Regierungsmehrheit einigen konnte. Dabei bedarf es inzwischen in der Ukraine besonderen Engagements, um öffentliche Proteste auslösen und gezielt Druck auf die Machthaber ausüben zu können – z. B. um aberkannte Stimmen – wieder – anerkannt zu bekommen. Denn vor der Wahl erklärten 70,9 % der Bevölkerung in einer unabhängigen Umfrage, sie würden selbst dann nicht protestieren, wenn sie sicher seien, dass die Wahlergebnisse gefälscht wurden. Währenddessen wurden im alten Parlament noch Gesetze verabschiedet, die so wichtige Fragen berühren wie die Wahl des Parlamentssprechers, die Befugnisse der Abgeordneten aus Mehrheitswahlkreisen oder gar die Einführung eines nationalen Referendums, das auch Änderungen in der Verfassung auf den Weg bringen könnte. Möchte die künftige Opposition im neuen Parlament Gesetze zurücknehmen oder ändern, braucht sie dafür mindestens eine einfache Mehrheit. Macht der Präsident von seinem Vetorecht Gebrauch, sogar eine Zweidrittelmehrheit. Den internationalen Wahlbeobachtern war auch die »Oligarchisierung« der Wahl negativ aufgefallen – nicht nur bezogen auf den exorbitant teuren Wahlkampf, sondern auch in der Hinsicht, dass das nächste Parlament einige Milliardäre und mehrere Dutzend Multi-Millionäre aufweisen wird. Dazu kommen jene sog. selbst-aufgestellten Parlamentarier, die in Mehrheitswahlkreisen nur mit massiver finanzieller Unterstützung anderer gewählt wurden. Ukrainische Oligarchen und Wirtschaftsmächtige, die Janukowytsch früher stützten, bangen inzwischen um ihren Einfluss. Viele verstanden die Parlamentswahl als letzte Chance, ihr Terrain wirksam gegen die bei Präsident Janukowytsch und seiner »Familie« zentrierte Macht zu verteidigen. Die Anzeichen für Auseinandersetzungen innerhalb der Elite haben zugenommen. Während der Wahlkampfzeit begannen TV-Sender, der Opposition bedeutend mehr Sendezeit einzuräumen, und es kam zu offen kritischer Berichterstattung über Personen aus Janukowytschs unmittelbarer Umgebung. In der ukrainischen Presse mehrten sich Gerüchte über den Rücktritt zentraler Personen, z. B. von Präsidialamtschef Serhij Ljowotschkin, die dann wieder dementiert wurden. Inwiefern in der siebten Werchowna Rada eine inhaltliche, für die Bürger nachvollziehbare Auseinandersetzung stattfinden kann, wird sich in den kommenden zwei Monaten zeigen – aber es steht zu befürchten, dass die Einzelinteressen weniger Mächtiger wie zuvor jene der Bürger und des Landes marginalisieren. Umso wichtiger ist es daher, weiter jene Kräfte zu stärken, die sich ernsthaft für einen Übergang zu wirklich demokratischen Strukturen in der Ukraine einsetzen. Dieser Prozess war in Osteuropa schon mehrfach von Erfolg gekrönt. Die konkrete Perspektive einer Kooperation mit der EU war dabei ein unterstützender Faktor. Es wäre fahrlässig, die Ukraine jetzt wegen Stimmenfälschungen und inhaftierter Oppositioneller ihrem Schicksal zu überlassen – und unfair gegenüber jenen Ukrainern, die sich für einen Wandel zu europäischen Werten stark machen.
Kommentar: Erbitterter Nachwahlkampf in der Ukraine um die einfache Parlamentsmehrheit
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ist gelernte Juristin und leitet seit 1. Juni 2012 das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Kiew.
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