Der letzte EU-Ukraine-Gipfel fand am 19. Dezember 2011 in gespannter Atmosphäre statt. Die Entwicklungen in den Monaten vor dem Gipfel hatten eine klare Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU aufgezeigt. Der unmittelbare Grund hierfür war der Prozess gegen die bekannte Oppositionspolitikerin und ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko sowie ihre Verurteilung zu sieben Jahren Haft plus weiteren drei Jahren Entzug des Rechts auf Teilnahme am politischen Leben. Im Hinblick auf die weitgehende Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive in der Ukraine hat diese Entscheidung den Willen der heutigen ukrainischen Führung deutlich gemacht, Tymoschenko als politische Konkurrentin auszuschalten sowie die Opposition insgesamt zu schwächen.
Der Fall Tymoschenko ist in einen breiteren Kontext einzubetten. Erstens ist sie nicht der einzige hochrangige Oppositionspolitiker, der unter zweifelhaften Vorwürfen festgenommen wurde. Zweitens sind solche Inhaftierungen nur eine von vielen Maßnahmen, die der Schwächung der Opposition dienen. Andere betreffen den Umgang mit den Medien sowie die Gestaltung der Kommunalwahlen 2010 und die Einschränkung der Möglichkeiten der parlamentarischen Opposition. Hinzu kommen etliche andere Bereiche, in denen ein Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seit der Machtübernahme von Janukowytsch im Februar 2010 stattgefunden hat. Insbesondere sind das Fragen der Gewaltenteilung, aber auch die Einengung der Rolle der Zivilgesellschaft, der unrechtmäßige Einsatz von Sicherheitskräften usw. Einige dieser Defizite, insbesondere die Entwicklung in der Mediensphäre und die Frage der Versammlungsfreiheit, wurden von EU-Ratspräsident van Rompuy beim EU-Ukraine-Gipfel ausdrücklich erwähnt. Dies macht den Willen der EU deutlich, auch über den Fall Tymoschenko hinaus auf die Einhaltung von demokratischen Prinzipien in der Ukraine zu achten.
Der Vertrauensvorschuss, den Janukowytsch bei einigen in der EU aufgrund seiner legitimen Wahl zum ukrainischen Staatsoberhaupt sowie seiner Konsolidierungs- und Reformrhetorik genossen hatte, ist eindeutig verspielt. Zu den oben genannten Problemen kommt hinzu, dass Janukowytsch zwar die Macht um sich konsolidiert hat, sie aber nicht nutzt, um sinnvolle und wirksame Reformmaßnahmen durchzuführen. Die Zusammenarbeit mit dem IWF ist ins Stocken gekommen, weil die ukrainische Führung nicht bereit ist, weitere versprochene Schritte, wie z. B. die Anhebung des Gaspreises für ukrainische Verbraucher, zu vollziehen. Auch in der Kooperation mit Polen bei der Fußball-Europameisterschaft (EM) ist zu befürchten, dass die ukrainische Seite in einer Reihe von Aspekten versagt. Während die dafür notwendigen Stadien wohl rechtzeitig fertig sein werden, wird es an adäquater Infrastruktur sowie an englischsprachigem Personal mangeln. Beim ukrainischen Parlament wurde ein Gesetzentwurf eingereicht, der die Möglichkeiten derjenigen einschränkt, die die EM nutzen wollen, um ausländische Gäste auf die politischen und wirtschaftlichen Missstände in der Ukraine aufmerksam zu machen. Außerdem wurden zahlreiche Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit den EM-Vorbereitungen laut.
Vor dieser Kulisse wundert es nicht, dass das Assoziierungsabkommen nicht, wie ursprünglich angedacht, beim EU-Ukraine-Gipfel paraphiert wurde. Der unmittelbare Anlass für diese Entscheidung seitens der EU war die Weigerung Kiews, auch nur teilweise auf die Forderung einzugehen, Tymoschenko freizulassen und ihr die Möglichkeit zu geben, politisch aktiv zu bleiben. Somit ist Janukowytsch in den Augen vieler in der EU kein glaubwürdiger Partner mehr für ein Abkommen, dem die Bereitschaft zugrunde gelegt wird, Prinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzuhalten. Die Entwicklung in der Ukraine weist darauf hin, dass es selbst bei einer Unterzeichnung und Ratifizierung des Abkommens zu keiner zufriedenstellenden Umsetzung von dessen Klauseln kommen wird, nicht nur in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Umgang Janukowytschs und seiner Anhänger mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen zeigt, dass es ihnen vor allem darum geht, einen engen Kreis von Unterstützern weiter zu bereichern, selbst wenn dies zum Ruin des Landes beiträgt. Mit Aufgaben wie der Implementierung von weitreichenden ambitionierten Abkommen ist die heutige Führung der Ukraine schlichtweg überfordert.
Dabei neigen die jetzigen Machtinhaber dazu, ihre eigenen Möglichkeiten zu überschätzen. Im Fall der Beziehungen zur EU ist Janukowytsch (wie viele seiner Berater) anscheinend davon ausgegangen, dass die EU so stark auf gute Beziehungen zur Ukraine angewiesen ist, dass sie vom Assoziierungsabkommen nicht abrücken wird. Hinzu kommt, dass die ukrainische Führung nicht daran glaubt, dass die EU sich tatsächlich von Sorgen über die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leiten lässt. Vielmehr wird angenommen, dass die sogenannten Werte nur ein Vorwand sind, um andere Ziele zu erreichen. Auch deswegen ist es wichtig, dass die EU sich nicht von ihrer Betonung dieser Werte (auch über den Fall Tymoschenko hinaus) abbringen lässt. Sonst würde sie die in der Ukraine (und in anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft) vorherrschende Skepsis rechtfertigen. Janukowytsch überschätzt die Möglichkeiten seiner Führung allerdings nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis zur EU. Auch in Bezug auf Russland haben die Ukrainer irrtümlicherweise damit gerechnet, dass sie 2011 einen Kompromiss mit der russischen Seite finden würden, der einen wesentlich niedrigeren Gaspreis ermöglicht, ohne die ukrainische Autonomie zu gefährden. Allerdings hat die Ukraine hier schlechte Karten, da ihr nur wenig finanzieller und politischer Spielraum bleibt. Selbst im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung hat sich Janukowytsch wohl überschätzt. Umfragen zeigen eine drastische Abnahme der Unterstützung für die Partei der Regionen, während die Oppositionsparteien Anhänger hinzugewinnen. Janukowytsch-Plakate müssen mittlerweile von Sicherheitskräften bewacht werden, da sie sonst häufig zerstört oder mit Farbe und Eiern beworfen werden. Das Protestpotenzial steigt; auch im Osten sind große Teile der Bevölkerung gegen die jetzige Führung. Sowohl die EM im Juni 2012 als auch die Parlamentswahlen im Oktober 2012 werden wohl den Unmut in der Bevölkerung kristallisieren. Der Verlauf dieser beiden Ereignisse wird auch für die Entwicklung des Verhältnisses der EU zur Ukraine von entscheidender Bedeutung sein. Die EU sollte auf jeden Fall an ihren Forderungen nach mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine festhalten, da nur auf diesem Wege die Grundlage für ein vertrauensvolles und konstruktives Verhältnis in der Zukunft geschaffen werden kann.
Lesetipps:
Balázs Jarábik: ‘Donetsk rules’ and the looming crisis with Ukraine. FRIDE Policy Brief, November 2011, http://www.fride.org/publication/957/%27donetsk-rules%27-and-the-looming-crisis-with-ukraine
Susan Stewart: Die Ukraine und die EU: Weniger Tymoschenko, mehr Werte. SWP-Aktuell 2011/A 50, November 2011, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2011A50_stw_ks.pdf
Andrew Wilson: Ukraine after the Tymoshenko verdict. ECFR Policy Memo, November 2011, http://www.ecfr.eu/page/-/UkraineMemo.pdf
Wandel in der Innen- und Außenpolitik
Im vergangen Jahr hat die Ukraine nach fünf Jahren relativ demokratischer, aber auch chaotischer Entwicklung im Gefolge der Orangen Revolution einen Schwenk in die entgegengesetzte Richtung vollzogen. Anfänglich wurde die Wahl eines neuen Präsidenten und dessen Konsolidierung der Exekutive 2010 von vielen Beobachtern begrüßt. Bereits im Laufe des letzten Jahres wurde jedoch klar, dass Wiktor Janukowytsch in das andere Extrem verfällt: Die Legitimierung der Asarow-Regierung mittels Mandatswechsler im Parlament, die damit einhergehende Ex-Post-Falsifizierung der Parlamentswahl von 2007, die Rücknahme der Verfassungsreform von 2004, die Beschränkung der Medienfreiheit (insbesondere bei der politischen Berichterstattung der wichtigsten Fernsehkanäle), die Manipulation der Regional- und Kommunalwahlen am 31. Oktober 2010, die Verhaftung prominenter Oppositionsführer, die jüngsten Querelen um die Untersuchungshaft und Verurteilung der ehemaligen Ministerpräsidentin und heutigen Oppositionsführerin Julija Tymoschenko usw. – all dies illustriert einen partiellen Regimewechsel in der Ukraine 2010/2011. Dieser innere Wandel ging zudem mit einer Zuspitzung in den außenpolitischen Beziehungen einher. Nach zwei Jahrzehnten relativer Stagnation befinden sich die Beziehungen zwischen Russland, der Ukraine und der EU nunmehr an einem Scheidepunkt. Die Ukraine als der Schlüsselstaat im geopolitischen Dreieck EU-Russland-Ukraine steht vor der Wahl zwischen mehreren Zukunftsszenarien: Anschluss an die EU durch ein weitreichendes Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, Beitritt zu einer nachsowjetischen Zoll- oder gar politischen („Eurasischen“) Union unter der Führung Russlands oder aber Fortführung der bisherigen Multivektoren- bzw. Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Weder die europäische noch die russische, ja scheinbar nicht einmal die ukrainische Führung, hat bisher eine klare Idee davon, wohin die Ukraine ihre Außenbeziehungen in Zukunft ausrichten wird. Freilich hat Wiktor Janukowytsch im Laufe der letzten Monate mehrfach erklärt, die Politik des vorherigen Präsidenten, Wiktor Juschtschenko, der eine weitestmögliche Annäherung des Landes an die Europäische Union anstrebte, fortzuführen. Jedoch stellen die erwähnten jüngeren innenpolitischen Entwicklungen die Realisierbarkeit dieses Ziels, wenn nicht die Aufrichtigkeit der europäischen Aspirationen der derzeitigen ukrainischen Führung in Frage. Janukowytsch und Ko. haben in den vergangenen Wochen nahezu täglich Absichtserklärungen zur Vertiefung der Beziehungen mit der Europäischen Union abgegeben. Nichtsdestoweniger entsteht der Eindruck, dass die neuen Machthaber in Kiew sich weder darüber im Klaren sind, welche Voraussetzungen die Ukraine hierfür erfüllen muss, noch scheinen sie eine Vorstellung davon zu haben, mit welchen Konsequenzen sich die Regierung im Falle einer Unterzeichnung und anschließenden Ratifizierung des Assoziierungsabkommens mit der EU konfrontiert sehen wird.
Die EU und Russland
Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass es nicht minder gravierende Unklarheiten in der Haltung Russlands als auch der EU gegenüber der Ukraine gibt. Moskau steht vor dem Dilemma, sich zwischen seinem offenkundigen strategischen Ziel, die Ukraine für eine neue Sonderbeziehung oder sogar einen Staatenbund, wenn nicht Einheitsstaat zu gewinnen, und der Verfolgung kurzfristiger ökonomischer Interessen entscheiden zu müssen. Auf dem Höhepunkt der Gaskrise vom Januar 2009 schlossen die beiden Staatskonzerne Naftohas und Gasprom im Ergebnis von Verhandlungen zwischen den damaligen Ministerpräsidenten der Ukraine und Russlands, Julija Tymoschenko und Wladimir Putin, ein langfristiges Abkommen über Gaslieferungen ab. Dieses umstrittene Vertragswerk entspricht heute eher russischen als ukrainischen Wirtschaftsinteressen. Die komplizierten Bestimmungen des Vertrages, den Kiew unter erheblichem Druck sowohl Moskaus als auch Brüssels im Januar 2009 in Eile unterzeichnete, führen derzeit zu einem ungewöhnlich hohen Gaspreis für die Ukraine. Es folgte zwar eine Preisreduzierung infolge des Charkiwer Abkommens von 2010, in welchem die Ukraine den Pachtvertrag für den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol verlängerte, jedoch zahlt die Ukraine auch nach diesem Preisnachlass einen Betrag, der beispielsweise denjenigen Deutschlands für russisches Gas übersteigt. Im Ergebnis einer solchen Politik desillusioniert Russland nicht nur jene vergleichsweise prorussischen Führungsschichten, die sich momentan an der Macht befinden. Auch in Teilen der Bevölkerung der Ost- und Südukraine, die bislang in ihrer Mehrzahl Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine befürwortete, beginnt sich die Stimmung zu ändern. Brüssel wiederum hat zwar eine Vertiefung der Beziehungen mit Kiew in letzter Zeit zu einer außenpolitischen Priorität gemacht: Die EU-Führung scheint die geopolitische Bedeutung der zukünftigen Entwicklung der Ukraine erkannt zu haben. Allerdings lehnen die für die Außenpolitik verantwortlichen EU-Organe und maßgeblichen europäischen Staats- und Regierungschefs es auch weiterhin ab, der Ukraine eine auch nur unverbindliche und langfristige Beitrittsperspektive einzuräumen. Damit missachten der Rat und die Kommission der EU sowie die nationalen Regierungen nicht nur den Willen des Europäischen Parlamentes, wie er in der Resolution zur Ukraine vom 25. Februar 2010 zum Ausdruck kam. Eine solche Strategie widerspricht ebenfalls Befunden moderner Politikwissenschaft. Deren Europaforschung ist zu dem Schluss gekommen, dass ein „Zuckerbrot“ in Form einer Beitrittsperspektive – und nicht nur eine „Peitsche“ in Form von Androhung einer Einschränkung der Zusammenarbeit – wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Europäisierung eines posttotalitären Staates ist. Somit steht allen drei Parteien – Russland, der EU und der Ukraine – noch bevor, ihre letztendlichen Ziele sowie langfristigen Strategien bezüglich der Zukunft Osteuropas zu definieren. Dies müsste bereits in den kommenden Monaten oder gar Wochen geschehen, da sich die Verhandlungen zum Abschluss des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine dem Abschluss nähern. Die Paraphierung sowie Unterzeichnung dieses Abkommens und insbesondere der sich daran anschließende Prozess seiner Ratifizierung im Europaparlament und den Legislativen der EU-Mitgliedsstaaten dürfte erstmals die breite Öffentlichkeit Europas auf die Beziehungen zwischen Brüssel, Kiew und Moskau aufmerksam machen.
Die Rolle der neuen Ostsee-Pipeline
Mit der Inbetriebnahme der Nord Stream-Gasleitung zwischen Russland und Deutschland im November 2011 ergibt sich eine weitere Fragestellung zur künftigen Gestaltung des Dreiecks EU-Russland-Ukraine. Der Effekt von Nord Stream dürfte eine nachhaltige Störung der bisherigen wirtschaftlichen Grundlagen der Beziehungen Russlands zur Ukraine sowie zu Belarus zur Folge haben. Bislang bestand eine Art ökonomisches Kräftegleichgewicht zwischen Moskau einerseits sowie Kiew und Minsk andererseits. Während Belarus und die Ukraine vollständig auf russische Gaslieferungen angewiesen waren und sind, hatte Russland Interesse am ununterbrochenen Funktionieren des Transportes von Gas nach Zentral- und Westeuropa über das Territorium der beiden „Brudervölker“. Das wird sich mit Nord Stream zwar nicht vollständig ändern und die neue Transportmöglichkeit für das russische Gas an der Ukraine und Belarus vorbei wird auch kaum unmittelbare Konflikte zur Folge haben. Allerdings birgt Nord Stream für den Kreml die Versuchung, diesen zusätzlichen ökonomischen Hebel für eine Neudefinition seiner Beziehungen zu den zwei früheren Sowjetrepubliken zu nutzen. Bleibt zu hoffen, dass die russische Führung die angedeutete Zweischneidigkeit eines derartigen Ansatzes erkennt. Die unmittelbaren Trümpfe, die Russland durch Nutzung der Ostseepipeline für politische Zwecke erhält, könnten dem Kreml kurzfristig bedeutsam erscheinen. Die langfristigen Effekte eines Einsatzes des neuen wirtschaftlichen Druckmittels wären jedoch ähnlich ambivalent, wie im Falle der scheinbar erfolgreichen russischen Verhandlungen zu den Gaslieferungen Russlands an die Ukraine vom Januar 2009. Heute erleben die prorussischen Eliten und Bürger infolge der überhöhten Gaspreise für die Ukraine eine Ernüchterung hinsichtlich des Verhältnisses Russlands zu ihrem Land. Sollte der Kreml unter Zuhilfenahme von Nord Stream den Druck auf die Ukraine weiter erhöhen, würde sich die Enttäuschung der potenziellen Freunde Russlands in der Ukraine weiter verstärken.
Zukunftsperspektiven
Die Beziehungen zwischen Brüssel, Moskau und Kiew werden sich in den nächsten Jahren verkomplizieren. Dies ist zum einen durch die wachsende Zahl neuer Initiativen der Europäischen Union in Osteuropa bedingt. Wie jüngst durch Putins Idee einer Eurasischen Union bestätigt, hält Russland zum anderen an seinem Bestreben fest, in Nordeurasien eine eigene Einflusssphäre zu demarkieren. Bereits die 2009 gestartete Östliche Partnerschaft der EU mit sechs postsowjetischen Staaten führte zu einer Modifizierung der russischen Haltung gegenüber der europäischen Idee. Mit ihrer Ostpartnerschaft hat die Europäische Union Moskauer Hegemonieansprüche im postsowjetischen osteuropäischen und südkaukasischen Raum in Frage gestellt. Russland distanzierte sich daher ausdrücklich von dieser Initiative. Der Kreml könnte künftige Aktivitäten der EU auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR zum Anlass für eine weitere Abkühlung seines Verhältnisses zu Brüssel nehmen. Eine neue Quelle für Kreml-Unmut ist bereits in Sichtweite: das EU-Ukraine-Abkommen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone. Zwar ist noch unklar, ob das die Freihandelszone einschließende Assoziierungsabkommen tatsächlich unterzeichnet und vor allem, ob es in naher Zukunft ratifiziert wird. Käme es jedoch wie geplant dazu, so würde dies die größte internationale Vereinbarung darstellen, welche sowohl die EU als auch die Ukraine je eingegangen sind. Das europäisch-ukrainische Assoziierungs- und Freihandelsabkommen könnte nicht nur zu einer weitgehenden – wenn auch kaum vollständigen – Loslösung der Ukraine vom postsowjetischen Wirtschaftsraum, in dem Russland dominiert, führen. Eine politische Assoziation in Kombination mit freiem Handel sowie liberalem Reiseregime würde über kurz oder lang zu so genannten Ansteckungseffekten (spill-over effects) sowohl innerhalb der ukrainischen Gesellschaft als auch der EU-Mitgliedsstaaten führen. Eine erfolgreiche Ratifizierung dieser Abkommen sowie deren anschließende Implementierung könnten bereits in zehn Jahren neue Kriterien für die Bewertung des Platzes der Ukraine innerhalb Europas schaffen. Sollten sämtliche laufenden Projekte zwischen Kiew und Brüssel in den nächsten Jahren tatsächlich planmäßig umgesetzt werden, wäre zum Beispiel eine neue Diskussion um eine Vollmitgliedschaft der Ukraine nicht nur in der EU, sondern auch in der NATO, denkbar. Eine verkürzte, abgewandelte Version des Beitrages erschien zuvor in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“.
Lesetipps:
Larrabee, F. Stephen und Kuzio, Taras: Europe’s Ukrainian Test, in: Project Syndicate, 30.6.2011, http://www.project-syndicate.org/commentary/larrabee8/English
Motyl, Alexander J.: Ukrainian Blues. Yanukovych's Rise, Democracy's Fall, in: Foreign Affairs, Bd. 89, Nr. 4 (Juli–August 2010), S. 125–136.
Riabchuk, Mykola: Tymoshenko. Wake-up Call for the EU, in: Eurozine, 28.10.2011, http://www.eurozine.com/arti cles/2011-10-28-riabchuk-en.html
Rutland, Peter und Solonenko, Iryna: Beyond Sticks and Carrots. Western Policy Towards Ukraine, in: oDRussia, 4.8.2011, http://www.opendemocracy.net/od-russia/iryna-solonenko-peter-rutland/beyond-sticks-and-carrots-western-policy-towards-ukraine
Savin, Kyryl und Stein, Andreas: Streit um die Ausrichtung der ukrainischen Außenpolitik, in: Heinrich Böll Stiftung Außen- & Sicherheitspolitik, 6.8.2010, http://www.boell.de/internationalepolitik/aussensicherheit/aussen-sicherheit-ukraine-aussenpolitik-eu-russland-9866.html
Shumylo-Tapiola, Olga: How to Handle Ukraine, in: Carnegie Europe Q & A, 10.11.2011, carnegieeurope.eu/publications/?fa=45969&lang=en&fb_source=message