Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Social Media: Freund und Feind der AKP Regierung | Türkei | bpb.de

Türkei Politik Wirtschaftsmodell der AKP Das "neue" politische System der Türkei Militärisch unlösbar Das Präsidialsystem in der Türkei: Nach dem Vorbild der USA? Verfassungsreferendum in der Türkei Putschversuch im Juli 2016 "Es war das erste Mal, dass ein Putsch in der Türkei am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist“ Pressefreiheit Gülen-Bewegung Der Kurdenkonflikt Protest und Opposition in der Türkei Der Zypernkonflikt Bildungspolitische Umbrüche in der Türkei Bildungspolitik der AKP Der Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan Datenschutz und Internet-Überwachung in der Türkei Social Media: Freund und Feind der AKP Regierung Parlaments- und Präsidentschaftswahl 2023 Wahlbündnisse Freie und faire Wahlen? Justiz Vermittlung im Ukraine-Krieg Türkei und Syrien Syrische Flüchtlinge Die Türkei als regionale Macht im Zeichen des Krieges Breites Oppositionsbündnis gefährdet Erdoğans Wiederwahl Wahlkampf nach den Jahrhundertbeben Griechenland-Türkei: Konfliktpause durch Erdbeben Pressefreiheit Griechisch-türkische Beziehungen Parteien der Türkei Das Parteiensystem der Türkei AKP CHP MHP HDP AP ANAP BBP DP DBP DSP DYP Hüda Par İP KADEP RP SAADET SHP VP YSGP TİP YRP ZP Deva GP Landkarten Physische Übersicht Verwaltung Bevölkerungsdichte Bevölkerungsgruppen Wirtschaft Osmanisches Reich - Expansion Osmanisches Reich - Zerfall Gesellschaft und Zusammenleben Ein Sommer ohne Musik Heimat Almanya Auf eine Shisha mit.. Satire in der Türkei Die Aleviten Fußball in der Türkei Die armenische Gemeinschaft Literatur Frauenrechte Migrationswende Die Lage der LGBT-Community in der Türkei Geschichte und Erinnerung Militärputsche in der Geschichte der Türkei Verfassungsgeschichte der Türkei Erster Weltkrieg Genozid an den Armeniern Atatürk Vom Reich zur Republik Vertreibung der türkischen Juden Deutsche im Exil Türkei Pogrom von Istanbul Gastarbeit Infografiken Das "neue" politische System der Türkei Religionszugehörigkeit Bildergalerien Quiz Videos Redaktion

Social Media: Freund und Feind der AKP Regierung

Bülent Mumay

/ 12 Minuten zu lesen

Der staatlicher Einfluss und die Kontrolle der klassischen Medien in der Türkei führte zu einem großen Erfolg der sozialen Medien. Doch neue Gesetze schränken nun auch hier die Meinungsäußerung ein.

Hunderttausende Menschen haben 2018 auf Twitter diese Illustration geteilt. "Tamam", auf Deutsch "Es reicht" oder "Genug", galt dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan angesichts seiner erneuten Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen am 24. Juni. (Foto: Altan Gocher/NurPhoto) (© picture-alliance, NurPhoto | Altan Gocher)

Übersetzung aus dem Türkischen: Bahar Firat

Während nur 59,4 Prozent der Weltbevölkerung aktive Social-Media-Nutzer sind, liegt dieser Anteil in der Türkei bei 73 Prozent. Was ist der Grund dafür? Warum liegt X (ehemals Twitter) weltweit auf Platz 14 der meistgenutzten Social-Media-Plattformen, ist aber unter den in der Türkei lebenden Menschen die vierte Wahl? Weshalb sind 66,5 Prozent der Türken aktive X-Nutzer? Wieso verbringen sie täglich rund drei Stunden mit sozialen Medien? Warum suchen 73 Prozent der Türkinnen und Türken Informationen und Nachrichten ausschließlich im Internet, während der Weltdurchschnitt bei 50 Prozent liegt?

Wenn in einem Land, wie der Türkei, konventionelle Medien durch Zensur, Verbote und Strafen kontrolliert werden, wenden sich Menschen an Alternativen, um an ungefilterte Nachrichten und Informationen zu kommen. Der staatliche Einfluss und die Kontrolle der Medien seit Anfang der 2010er durch die AKP-Regierung ebnete den Weg für den enormen Erfolg der sozialen Medien in der Türkei.

Mit demokratischen Mitteln zu autoritären Machtstrukturen?

Als die AKP unter ihrem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan 2002 die Parlamentswahlen erstmals gewann, trat sie mit einem, wie sie es selbst nannte, "konservativ-demokratischen" Programm an. Erdoğan betonte damals, dass er sein früheres „islamistisches Hemd ausgezogen“, d.h. die islamistische Ideologie hinter sich gelassen hätte. Um diesen Eindruck zu untermauern, verfolgte er in den ersten Jahren seiner Regierungszeit eine eher liberalere Innen- und Wirtschaftspolitik.

Bei seinen damaligen Reformen zur Entmachtung des Militärs konnte Erdoğan auf die politische und wirtschaftliche Unterstützung des Westens bauen, die in einem solchen Vorgehen eine Stärkung der demokratischen Strukturen in der Türkei sahen. Im Land selbst wollten nicht nur konservative Kreise, dass das Militär in der Innenpolitik nicht mehr das letzte Wort hat. Dies war auch der Wunsch von großen Teilen der liberalen Bevölkerung.

Doch die AKP schwächte nicht nur die Rolle des Militärs in der Politik, sondern bald auch jene anderer Gegenspieler und Kritiker, wie etwa die säkulare Zivilgesellschaft und später auch die freie Presse. Dabei hätte man gewarnt sein können: Bereits 1996 meinte Erdoğan in einem Interview, damals Bürgermeister von Istanbul, die Demokratie sei kein Ziel seiner Politik, sondern lediglich ein Instrument. In einer Rede vor seinen Anhängern sagte er zudem: „Demokratie ist eine Straßenbahn, wir fahren damit, bis wir angekommen sind und steigen dann aus.“

In dieses Muster passte auch das Verfassungsreferendum von 2010, bei dem die Wähler über zahlreiche von der AKP-Regierung vorgeschlagene Änderungen der seit 1982 gültigen Verfassung des Landes abstimmten. Diese bis dahin umfassendste Verfassungsreform sah auf der einen Seite eine Stärkung der Gleichberechtigung der Frau und der Rechte von Gewerkschaften vor. Gleichzeitig wurde jedoch auch über eine Justizreform abgestimmt, die nicht nur die Kompetenzen der Militärgerichte beschränkte, sondern auch den Einfluss der Regierung auf die Justiz erhöhte. Letzteres verschaffte der AKP von nun an einen viel größeren politischen Spielraum.

Ein weiteres Ziel der AKP war eine stärkere Ausrichtung der Türkei zum Islam - und mit diesem Bestreben war sie nicht allein. Lange bevor die AKP die Regierung übernahm, hatten zahlreiche Angehörige einer islamischen Bewegung wichtige Positionen in der türkischen Staatsbürokratie eingenommen. Es handelte sich dabei um die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der seine Bewegung "Hizmet", d.h. Dienst (an Volk und Staat) nannte. Anhänger Gülens hatten eine Vielzahl von privaten Schulen gegründet und deren Absolventen in den Staatsdienst geschleust, um dort eine islamische Veränderung der Republik voranzutreiben. Zunächst nutzte Erdoğan die Gülen-Bewegung im Staatsapparat für die Durchsetzung seiner eignen politischen Ziele und begann mit ihrer Unterstützung die politische und gesellschaftliche Opposition zu unterdrücken.

Die Gezi-Proteste 2013 als Wendepunkt

Bereits vor 2013 hatte eine Vielzahl von Maßnahmen der Erdoğan-Regierung, wie die staatliche Förderung der Religion, religiös motivierte Einschränkungen des Alkoholverkaufs, das Verbot von Feierlichkeiten und Demonstrationen zum 1. Mai oder auch der Abriss des historischen Emek-Kinos, als Ort der internationalen Filmfestspiele Istanbuls, in weiten Kreisen der Gesellschaft Unmut und Protest hervorgerufen.

2013 folgte dann der Plan der Regierung den Gezi-Park, eine der wenigen Grünanlagen im Zentrum Istanbuls, durch ein neues Einkaufszentrum überbauen zu lassen, welches die Fassade der alten osmanische Militärkaserne erhalten sollte, die vor zwei Jahrhunderten dort gestanden hatte.

Besonders junge Leute, die sich durch die bisherige Politik gegängelt und ausgegrenzt fühlten, vereinten sich mit Naturschützern, um gegen dieses Bauprojekt im Gezi-Park zu demonstrieren. Die Aktion wuchs zum bisher größten Protest gegen die Politik der AKP-Regierung heran: In 80 der 81 Provinzen der Türkei kam es zu Demonstrationen. Statt den Dialog mit den Demonstranten zu suchen, nannte Erdoğan sie „Plünderer und Terroristen“. Die Regierung ließ den Gezi-Park durch die Polizei gewaltsam räumen, elf Menschen starben, tausende wurden verletzt und hunderte verhaftet.

Die Gezi-Proteste waren nicht nur für die türkische Demokratie, sondern auch für die Presse in der Türkei ein Wendepunkt. Denn bis dahin hatte die Regierung versucht, die Medien wegen unliebsamen Veröffentlichungen durch hohe Strafen oder auch außerordentliche Steuerrazzien auf ihre Linie zu bringen. Von nun an mischte sich die Regierung jedoch offenbar direkt in die Berichterstattung ein. Wie ist es sonst zu erklären, dass der größte TV-Nachrichtensender in jenen Tagen nicht über die Demonstrationen berichtete, sondern stattdessen einen Dokumentarfilm über Pinguine ausstrahlte? Seit diesem Ereignis wurde der Pinguin zum Symbol der Zensur in der Türkei.

Die Transformation der Medien nach den Gezi-Protesten

Die Einschränkung der Berichterstattung über die Gezi-Park-Proteste in den klassischen Medien erhöhte in dieser Zeit die Social-Media-Nutzung in der Türkei explosionsartig. Alle Ereignisse der Proteste im Istanbuler Stadtzentrum, bald aber auch landesweit, wurden über die sozialen Medien und Netzwerke schnell und unzensiert verbreitet. Es entwickelten sich neue türkische Kanäle und Anbieter, aber auch ausländische Medien veröffentlichten nun Sendungen in türkischer Sprache. Auf schon länger bestehende türkischsprachige Angebote ausländischer Medien, wie etwa die Deutsche Welle und die BBC, wurde verstärkt zugegriffen.

Plötzlich wurden die damals noch unzensierten sozialen Medien zu den neuen Leitmedien und unabhängige Journalisten mit hunderttausenden Followern zu den maßgeblichen Berichterstattern. Der Bedarf an Nachrichten wuchs rasant und wurde zunehmend durch das Angebot von Live-Übertragungen direkt in den Social-Media-Kanälen gedeckt.

Der rasante Anstieg der Social-Media-Nutzung rund um die Gezi-Proteste ermunterte auch Investoren in diesen neuen Nachrichtenmarkt zu investieren. So nutzte etwa der iranische Unternehmer Kayvon Beykpour seine Erfahrungen mit den Protesten, um später in den USA unter dem Namen Periskope eine App für Smartphones zur Videodirektübertragung in Echtzeit zu entwickeln und diese später gewinnbringend an Twitter zu verkaufen.

Zensur der sozialen Medien

Bis zu den Gezi-Protesten konnte die Regierung recht erfolgreich große Teile der klassischen Medien in der Türkei kontrollieren, doch stand sie nun einer digitalen Opposition in den sozialen Medien gegenüber, die grundsätzlich schwieriger zu überwachen war. Dafür bedurfte es neuer Instrumente.

So wurde 2008, wegen angeblicher Beleidigung des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk in einem Videoclip, YouTube in der Türkei fast drei Jahre lang blockiert. 2014 geschah dies nochmals, als auf YouTube anonyme Regierungskritiker einen Gesprächsmitschnitt veröffentlichen, aus dem hervorging, dass Ankara nach einer Rechtfertigung dafür suchte, militärisch in Syrien zu intervenieren. 2017 haben die türkischen Behörden drei Jahre lang die Online-Enzyklopädie Wikipedia wegen Artikeln blockiert, welche die Regierung in Verbindung mit Extremistengruppen brachten. 2014 und 2015 wurde Twitter, heute X, mehrfach durch die Behörden für kurze Zeiträume blockiert. Erdogan kommentierte dies auf einer Wahlkampfveranstaltung folgendermaßen: „Twitter, oder sonst was, wir werden alle ausrotten. Was die internationale Community dazu zu sagen hat, ist mir absolut egal.“ Kurze Zeit später entschied das türkische Verfassungsgericht jedoch, dass die Sperrung nicht rechtens sei und wieder aufgehoben werden müsse.

Schon 2007 wurde das Gesetz zur „Regulierung von Veröffentlichungen im Internet“ vom Parlament verabschiedet. Es erlaubte der türkischen Telekommunikationsbehörde Webseiten ohne richterlichen Beschluss sperren zu lassen. Während Kritiker das Gesetz als „Zensurverordnung“ bezeichneten, betonten die Regierungssprecher damals, dass die Zugangssperre nur in „Ausnahmefällen angewendet“ werden soll. Es kam jedoch anders. Das Gesetz diente als Mittel zur Zensur einer Vielzahl regierungskritischer Nachrichten in den digitalen Medien, die dadurch schnell und ohne richterlichen Beschluss gelöscht werden konnten.

Offizielle Begründungen für die Löschungen waren häufig „Verletzung der Persönlichkeitsrechte“ oder „Diffamierung des Präsidenten“. Von Erdoğans Wahl zum Staatspräsidenten 2014 bis 2022 wurden auf der Grundlage dieses Gesetzes gegen 16.000 Menschen Prozesse angestrengt, darunter fast 1.400 Minderjährige.

Kein Desinformations- sondern ein Unterdrückungsgesetz

Es erwies sich jedoch als langwierig und wenig effektiv einzelne Beiträge von unabhängigen Journalisten und Bürgern ausfindig zu machen und ihre Urheber zu bestrafen. Das 2020 verabschiedete und 2022 in Kraft getretene sogenannte Desinformationsgesetz hatte eine viel durchschlagendere Wirkung.

Das Desinformationsgesetz verlangt von ausländischen Medien und Social-Media-Plattformen, wie etwa Twitter und Facebook, eigene Niederlassungen in der Türkei mit verantwortlichen Vertretern zu gründen sowie eine türkische Sendelizenz zu beantragen. Dahinter steht die Überlegung, dass die türkische Medienaufsichtsbehörde RTÜK das nationale Gesetz gegenüber ausländischen Medien nur durchsetzen kann, wenn sie über ihre türkischen Vertretungen legalen Zugriff auf diese Firmen erlangt. Türkischsprachige Auslandsmedien, wie die Deutsche Welle oder Voice of America, die sich nicht an diese Regeln hielten, wurden mit Geldstrafen, Kürzungen ihrer Werbeeinnahmen oder Drosselung ihrer Übertragungsrate bis zur vollständigen Sperrung bestraft.

Darüber hinaus ermöglicht das Desinformationsgesetz sowohl die Verfolgung von Journalisten als auch von einfachen Mediennutzern: Diejenigen, die für „das Volk offenkundig irreführende Informationen verbreiten“ - also auch die Leser, die entsprechende Nachrichten teilen oder weiterleiten – können nach dem Gesetz nun mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Was genau eine Falschinformation darstellt, wird von den einzelnen Gerichten ganz unterschiedlich definiert.

Viele Medienunternehmen und Social-Media-Plattformen mussten sich dem Gesetz beugen, um weiterhin veröffentlichen zu können. Einige hingegen versuchen einen Mittelweg: so hat X (ehemals Twitter) beispielsweise bislang weder eine Niederlassung in der Türkei gegründet noch einen offiziellen Vertreter ernannt. Die Firma begann jedoch von sich aus damit, von türkischen Gerichten gesperrte Tweets automatisch zu löschen.

Rekord-Budget der AKP-Regierung für Social-Media

Neben den Gefahren, sieht die AKP-Regierung mittlerweile nun auch die Chancen von Social-Media für die eigenen Botschaften. Über soziale Medien können viel direkter die eigenen Wähler mit Informationen, Kampagnen und Argumenten erreicht und gebunden werden. Im Budget von 2023 für die Öffentlichkeitsarbeit des Staatspräsidenten wurden 1,6 Milliarden Türkische Lira - umgerechnet rund 55 Millionen Euro - veranschlagt, von denen etwa 72 Prozent für den Wahlkampf der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai des Jahres genutzt wurden. Social-Media-Kanäle der Regierung haben besonders im Vorfeld der Wahlen enormen Aufwand betrieben, um Erdoğans Wahlkampagne zu unterstützen oder die Opposition in Verruf zu bringen. So verbreitete einer dieser Kanäle kurz vor der Präsidentschaftswahl 2023 ein gefälschtes Video. Es zeigte Murat Karayilan, den Kommandanten der Terrororganisation PKK, als Unterstützer von Kemal Kilicdaroglu, der Herausforderer Erdogans bei den Präsidentschaftswahlen.

Ziele der regierungsnahen Social-Media-Kampagnen

Auch nach dem Wahlkampf wurden die Opposition und Regierungskritiker Ziel von regierungsnahen Social-Media-Kampagnen. Die Bevölkerung soll damit wahrscheinlich von kontroversen tagespolitischen Debatten abgelenkt werden, damit Kritik gegen die Regierung eingedämmt und die eigenen Wählergruppen stärker an die Partei gebunden werden.

So werden Desinformationen gezielt an konservative Empfänger gestreut, wie etwa die falsche Behauptung, dass in einem Café im liberalen Istanbuler Stadtteil Cihangir ein „Swinger“- Event stattfinden würde. Obgleich im Video nur ein “Speed Dating” zu sehen ist, verfehlte es nicht seine Wirkung: Mit dem Aufschrei im Netz „Im Land herrscht Unmoral, der Staat soll eingreifen“, wurde über die Zabita (das Ordnungsamt) umgehend das betroffene Café geschlossen.

Um nationalistische Gruppen der Gesellschaft zu erreichen, ist etwa das Ansehen des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk für Kampagnen verwertbar. Zum 100. Jahrestag der Gründung der Türkei im Oktober 2023 sollte beim Streaminganbieter Disney+ eine Serie über den Staatsgründer erscheinen. Doch als die Plattform bekannt gab, diese Serie nicht über Disney+ in der Türkei, sondern über den Sender Fox TV und Kinos außerhalb der Türkei auszustrahlen, entzündete sich mit enormer Wucht eine Social-Media-Kampagne gegen Disney+. Es wurde dabei behauptet, Disney+ zensiere damit die Atatürk-Serie aufgrund der starken armenischen Lobby in den USA. Auch Regierungskanäle und regierungsnahe Presseorgane zeigten sich plötzlich als Anhänger Atatürks und wurden Teil der Kampagne gegen Disney+. Im gleichen Zusammenhang wurde dabei der durch seine regierungskritische Berichterstattung in der Türkei bekannte Sender Fox TV, der mit Disney+ zur gleichen Mediengruppe gehört, diskreditiert.

Social-Media-Kampagnen der Regierung sollen jedoch auch dazu beitragen, die Regierung und ihre Politik zu bewerben und zu fördern – besonders in Zeiten von Unmut oder Kritik etwa in der aktuellen Wirtschaftskrise: So gab es auch Videoclips über das "rein türkische Elektroauto" TOGG oder Videos über Europäer, die in ihren Ländern gegen Preiserhöhungen demonstrieren. Inflation und Wirtschaftskrisen, so die Nachricht, sind nicht nur in der Türkei ein Problem.

Erst Verleumdungen, dann Verhaftungen von Journalisten

Die Macht der sozialen Medien kann auch dafür genutzt werden, um Kritiker zuerst durch die Öffentlichkeit und dann durch die Justiz zu bestrafen. Opfer einer solchen Kampagne wurde etwa der Journalist Merdan Yanardağ. In einem Interview, ausgestrahlt vom oppositionellen Fernsehkanal Tele 1, kritisierte Yanardağ die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan, der zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Führer der Interner Link: PKK. Verkürzte Ausschnitte aus dem Interview gingen viral und führten zu einer Schmutzkampagne gegen den Journalisten. Tele 1 wurde daraufhin eine Woche lang gesperrt.

Metin Cihan, ein auf Twitter aktiver Journalist, handelte sich aufgrund kritischer Berichterstattung Dutzende von Gerichtsverfahren ein. Nachdem er deswegen nach Deutschland floh, forderte die Türkei seine Auslieferung und ersuchte Interpol um Hilfe.

Gegen die Journalistin Ayça Söylemez von der Zeitung BirGün wurde ein Strafverfahren eröffnet, allein weil sie den Namen eines Richters veröffentlichte, der sich bei der Verurteilung von Journalisten besonders häufig hervorgetan hat.

Soziale Medien: Die Öffentlichkeit derjenigen, die nicht auf die Straßen gehen können

Die türkische Regierung hat mittlerweile Demonstrationen fast generell verboten und kriminalisiert diejenigen, die trotzdem protestieren. Kritische Medien sind weitestgehend zurückgedrängt. Somit haben die Opposition und die Zivilgesellschaft nur noch wenige Möglichkeiten, sich zu äußern.

Seit dem fehlgeschlagenen Putschversuch 2016 wurde etwa der „Feministische Nachtmarsch“, der vorher regelmäßig am 8. März auf der historischen Istiklal-Straße in Istanbul stattfand, verboten. Untersagt ist mittlerweile auch der Pride-Week-Marsch der LGBTIQ+ Personen in der Türkei.

So bleibt für alle, die nicht mehr öffentlichen protestieren können, die sozialen Medien, um ihre Botschaften zu veröffentlichen.

Auch die Klimabewegung in der Türkei ist daher im besonderen Maße auf Social-Media aktiv. Es war einer ihrer Kampagne zu verdanken, dass vor zwei Jahren private Firmen, die im westanatolischen Ida-Gebirge mit Hilfe von Cyanid Goldabbau betrieben und damit das Trinkwasser gefährdeten, gestoppt werden konnten. Nach einem Aufruf in den sozialen Medien hatten zehntausende Menschen im Ida-Gebirge protestiert. Aufgrund der Kritik - auch aus der eigenen Wählerschaft - musste die Regierungspartei die Genehmigung der Bergbauunternehmen widerrufen.

Die sozialen Medien dienen mittlerweile als Rettungsring auch für jene, die bereits im Gefängnis sitzen. Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş, der seit 2016 inhaftiert ist, bleibt über seine Anwälte und X, ehemals Twitter, somit nach wie vor Teil der öffentlichen Debatte. Dadurch gelang es ihm nicht in Vergessenheit zu geraten und weiterhin zu einer wichtigen politischen Persönlichkeit des Landes zu bleiben.

Die Opposition und die sozialen Medien

Durch die Einschränkung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts, konnte die Opposition in den letzten Jahren wenige öffentliche Proteste organisieren. So nutzte auch sie die sozialen Medien, insbesondere vor den Wahlen im Mai 2023. Eine der überzeugendsten Auftritte des Gegenkandidaten Kılıçdaroğlu, der am Ende gegen Erdoğan verlor, waren die Videos aus seiner eigenen Küche. Diese Videos, in denen er meist über die Wirtschaftskrise in der Türkei und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung sprach, waren sehr populär und gingen schnell viral. Seine Interviews mit YouTube-Stars waren enorm erfolgreich.

Der Einfluss der sozialen Medien hatte sich bereits 2019 bei den Kommunalwahlen in der Türkei gezeigt. Die Opposition konnte damals mit ihren Social-Media-Kampagnen offensichtlich besonders Wähler in den Großstädten erreichen. Gebiete, deren Bevölkerung eher jünger und mit digitalen Medien vertraut sind.

Bei den anstehenden Kommunalwahlen im Mai 2024 werden wieder digitale Wahlkämpfe zwischen Regierung und Opposition ausgefochten. Es bleibt zu sehen, wer aus diesem Rennen als Sieger hervorgehen wird.

Weitere Inhalte

Bülent Mumay war Redakteur der später eingestellten linksliberalen türkischen Tageszeitung „Radikal“ und leitete die Online-Redaktion der „Hürriyet“. Seit August 2016 schreibt Mumay Kolumnen für die türkische Tageszeitung „Bir Gün“. Im deutschsprachigen Raum ist er durch seine „Briefe aus Istanbul“ bekannt, die in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erscheinen, zudem arbeitet er als Journalist für die Türkisch-Redaktion der „Deutschen Welle“.