Die Explosion des Seriensektors zur Jahrtausendwende
Um die Jahrtausendwende wurden in den Vereinigten Staaten Serien mit immer größeren Budgets produziert und ihre filmische Qualität stieg rasant. Einzelne Serien wurden zu globalen Phänomenen und traten mit Spielfilmen in Konkurrenz. Serien wie “Oz”, “The Sopranos”, “Sex and the City”, “Ally McBeal”, “24”, “Buffy”, “Angel” und “Six Feet Under” kamen oft nur wenige Wochen nach ihrem Start in den USA auch in der Türkei auf die Bildschirme, vor allem von Cine 5 und CNBC-e. Obwohl oder gerade weil sie im englischen Original mit türkischen Untertiteln gezeigt wurden, waren sie unglaublich populär. Serienschauen entwickelte sich zu einem neuen Zeitvertrieb und begann in den Großstädten Teil des Lebensstils zu werden, besonders bei Studenten, Angestellten und Freiberuflern.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch die staatlichen und privaten Kanäle, die ihre Programme auf Türkisch senden, stärker in die Produktion einheimischer Serien investierten. Sie wollten damit ihr Publikum ansprechen und so dauerte es nicht lange, bis sich die Kluft zwischen den eher westlich orientierten und den eher traditionell geprägten Teilen der türkischen Gesellschaft, die in fast allen Lebensbereichen der Türkei zu beobachten ist, auch bei der Auswahl von Fernsehserien bemerkbar machte. Jedoch gelang es in den letzten zwanzig Jahren auch einer ganzen Reihe türkischer Serien, diese kulturellen Grenzen zu überwinden und Zuschauer aus allen gesellschaftlichen Kreisen anzusprechen - und sogar im Ausland Erfolg zu haben.
Ein herausragendes Beispiel für eine solche erfolgreiche Produktion ist die Serie Asmalı Konak
Im Unterschied zu dieser und ähnlichen Serien, in denen romantische Liebesgeschichten den Rahmen der Handlung bildeten, wurde die Serie Kurtlar Vadisi
In den letzten Jahren greifen beliebte Serien oft leidenschaftlich und kontrovers diskutierte Themen auf. So behandeln etwa die Serien Kırmızı Oda, Doğduğun Ev Kaderindir, İstanbullu Gelin, Masumlar Apartmanı oder Camdaki Kız,
Auch die Serie Yargı,
Kulturproduktion in zunehmend konservativen Zeiten
Sicher weht nicht nur in der Türkei ein konservativer Wind, aber die Folgen dieses Trends für die kulturelle Produktion sind hier schwerwiegender als in vielen westlichen Ländern. Das liegt vor allem an der staatlichen Zensur und an der Selbstzensur, die daraus entsteht. Die staatliche Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, RTÜK (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu), die 1994 gegründet wurde, verhängt seit einigen Jahren sehr hohe Geldstrafen bei Abweichungen von der konservativen Staatslinie. Produzenten und Fernsehkanäle tun deshalb alles, um diese Strafen zu vermeiden.
Die Zensur von Fernsehsendungen in der Türkei ist jedoch älter als RTÜK. 1964 wurde das staatliche Fernsehen TRT ins Leben gerufen. Es gab zwar keine Behörde, welche die Sendungen von TRT überwachte, aber der Sender handelte stets mit der offiziellen Politik konform. Man ließ beispielsweise manche Künstler oder Künstlerinnen nicht auftreten oder bestimmte Szenen aus den Filmen herausschneiden.
Als 1990 der erste private Fernsehkanal Star 1 auf Sendung ging und andere private Kanäle folgten, änderte sich die mediale Landschaft. In diesen ersten vier Jahren bis zur Gründung von RTÜK wurden dort kaum Inhalte kontrolliert oder überwacht: Filme wurden nicht zensiert, viele Themen, von Sexualität bis zu aktueller Politik, konnten nun im Fernsehen in großen Runden und mit Publikumsbeteiligung offen und frei debattiert werden. Vielen Künstlerinnen und Künstlern, die vorher nicht im Fernsehen auftreten durften, konnten nun die medialen Bühnen betreten. Diese Periode beeinflusste das staatliche Fernsehen TRT gleichermaßen und verlieh auch diesem Sender nun eine gewisse Flexibilität. Doch mit der Gründung von RTÜK 1994 endete diese Phase der Medienfreiheit.
Suncem Koçer, Wissenschaftlerin im Fachbereich Medien und Visuelle Künste der Koç-Universität in Istanbul, analysierte Struktur und Funktion der Rundfunk-Kontrollbehörde und schrieb dazu 2020 im Online-Magazin Altyazı: “RTÜK wurde in einer relativ chaotischen Situation gegründet, unmittelbar nachdem das staatlichen Rundfunk- und Fernsehmonopol aufgehoben worden war. Die Gründung der Behörde erfolgte ohne jede gründliche Debatte über Themen wie Kontrolle und Selbstkontrolle und ohne Beteiligung nicht-staatlicher Akteure. Das ist ein Grund dafür, dass die Kontrollen und Sanktionen der Behörde voller Widersprüche sind. Viele Änderungen und Anpassungen der Regeln, die seit der Gründung von RTÜK 1994 vorgenommen wurden, hatten ihren Grund nicht in sachlichen Überlegungen zur Medienaufsicht, sondern erfolgten nach wirtschaftlichen Gegebenheiten und nach der politischen Konjunktur. (...) Das gilt auch für das Gesetz, das letztes Jahr (2022 A.d.R.) auf den Weg gebracht wurde und RTÜK bevollmächtigt, auch Internetangebote zu beaufsichtigen. Es entwickelte sich zu einem Instrument der aktuellen politischen Agenda und wurde zu einem Motor für das Projekt, die Gesellschaft zunehmend konservativer zu gestalten.”
So gibt es heute in türkischen Serien niemanden mehr, der raucht oder Alkohol trinkt. In solchen Szenen verschwinden die Zigaretten und der Drink sofort hinter einem Nebel. Da Regisseurinnen und Drehbuchautoren genau das vermeiden möchten, werden solche Szenen gar nicht mehr gedreht. Aber die Zensur beschränkt sich nicht auf das Rauchen oder Trinken. Der anwachsende Umfang der Zensur lässt sich etwa an der Serie Bir İstanbul Masalı
Eine der jüngsten Zensurmaßnahmen betraf die Fernsehserie Kızılcık Şerbeti
In den sozialen Medien wurden besonders jene Szenen geteilt, in denen es aufgrund der ideologischen Fixierung der beiden Familien zu absurden Streitereien kommt. So stellte die Serie indirekt die gesellschaftliche Polarisierung in Frage, die manche politischen Akteure zurzeit propagieren. Das erweckte wohl den Argwohn der staatlichen Regulierungsbehörde RTÜK. Nach der Ausstrahlung einer Szene, in der die Tochter der konservativen Familie von ihrem Mann Gewalt erfährt, verhängte die Behörde mit der Begründung, die Serie zeige Gewalt gegen Frauen, eine hohe Geldstrafe und ein fünfwöchiges Sendeverbot. Dagegen wurde in vielen Medienkanälen und den sozialen Medien heftig protestiert, denn man vermutete, dass es im Grunde nicht um die Darstellung von Gewalt gegangen sei, sondern dass gezeigt wurde, dass sich auch Frauen aus religiös-konservativen Familien wehren können. Zudem zensierte RTÜK in der Vergangenheit selten Darstellungen von Gewalt an sich, etwa in Mafia-, Krimi- und Aktionsserien. Hier werden höchstens Wunden und Blut vernebelt.
Türkische Fernsehserien als Exportschlager
Auf besonders großes Interesse stoßen nicht nur in der Türkei, sondern auch im Ausland Serien, die das Heldentum der türkischen Armee oder den Kampf der Vorfahren aus der osmanischen Zeit zeigen. Diriliş Ertuğrul
Im Ausland sind diese und ähnliche Serien besonders in den überwiegend muslimischen Ländern des Nahen Ostens und in Asien beliebt. Die Produktion solcher Serien ist durchaus im Interesse der türkischen Regierung. Schließlich steht TRT unter ihrer Kontrolle und die privaten Kanäle, die solche Serien in Auftrag geben, sind alle als regierungsnah anzusehen. Diese Serien transportieren nationale Größe und eine konservative Weltanschauung.
Die ins Ausland meistverkaufte türkische Serie, Muhteşem Yüzyıl
Türkische Telenovelas
Ein Großteil der türkischen Serien, die in anderen Regionen der Welt - hier vor allem in Lateinamerika und Südeuropa - beliebt sind, sind sogenannte Telenovelas
Doch unter der Länge und Anzahl der Folgen leidet oftmals die Qualität. Auch die Proteste der Serienmitarbeiter konnten an dieser Entwicklung nichts ändern. Denn bei langen Folgen mancher wöchentlichen TV-Serien müssen Drehbuchautoren jede Woche Texte von etwa 100 Seiten liefern. Da ist es unumgänglich, dass sich dadurch Verhaltensmuster und Klischees wiederholen.
Die Konkurrenz der internationalen digitalen Portale wie Netflix, HBO Max oder Disney+ könnten in der Türkei und für die türkischen Produktionen neue Standards setzen. Aber die Erwartungen, dass mit den internationalen Portalen eine Plattform für freiere und kreativ anspruchsvollere Serien geschaffen würde, blieben weitestgehend unerfüllt. Auch Tunç Şahin, der in der Türkei mit 7 Yüz
Momentan schränken die wirtschaftliche Krise und der wachsende Konservatismus die Leistungsfähigkeit der Film- und Fernsehproduktionen stark ein. Nichtsdestotrotz behauptet sich die Türkei weiterhin international, nach den USA, auf dem zweiten Platz der größten Serienexporteure. Als ein Land, das weder ganz dem Westen noch dem Osten zugeordnet werden kann, erobert es mit seinen Serien, in denen dieses Dilemma vielfach sichtbar wird, vielleicht (noch) nicht Westeuropa und Nordamerika, wohl aber andere Teile der Welt.