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Ein Sommer ohne Musik | Türkei | bpb.de

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Ein Sommer ohne Musik Vom Verschwinden der Festivals, dem Ende der Kulturpolitik und erzwungenem Schweigen im öffentlichen Raum

Deniz Erkmen

/ 15 Minuten zu lesen

2023 verboten türksiche Provinzverwaltung reihenweise Musikfestivals und Konzerte. Die erzwungene Stille fügt sich in das düstere Bild gesellschaftlichen Lebens in der autoritären Türkei von heute.

Eine Gruppe von Frauen hält während des Prozesses gegen die türkische Popsängerin Gülşen Bayraktar Çolakoğlu am Freitag, 21. Oktober 2022, vor dem Istanbuler Gerichtsgebäude Plakate mit der Aufschrift "Gülşen wird niemals allein gehen". (© picture-alliance/AP, Emrah Gurel)

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese

Im heißen Sommer 2023 erfasste ein seltsames Phänomen wie ein Flächenbrand die Türkei: Eine Provinzverwaltung nach der anderen verbot angesetzte Musikfestivals und Konzerte. Die Absage erfolgte meist in letzter Minute, angeordnet vom örtlichen Bürgermeister oder Gouverneur. Bereits im Sommer 2022 hatte es mehrfach derartige Interventionen gegeben. 2023 setzte sich der Trend fort. Das Thema schaffte es jedoch nicht in die internationale Presse. Auch in der Türkei reagierten die Presse und die sozialen Medien nur, wenn es sich um Konzerte bekannter Künstler wie Gülşen, Mabel Matiz, Melike Şahin oder um renommierte Events wie das Anadolu Fest handelte. Der Ausfall kleinerer Veranstaltungen ging am breiten Publikum vorbei oder wurde eher ignoriert.

So unbedeutend die Absagen im Einzelfall auch erscheinen mögen: Die erzwungene Stille fügt sich in das düstere Bild gesellschaftlichen Lebens in der autoritären Türkei von heute. Die Auftrittsverbote sind eines der Instrumente, derer sich die Regierung nun schon seit zehn Jahren bedient, um ihre Herrschaft im Land zu festigen. Dabei fährt sie eine Doppelstrategie: Während sie auf der einen Seite jegliche politische und soziale Opposition ausschaltet, konstruiert sie auf der anderen Seite das Ideal einer neuen, konservativen türkischen Gemeinschaft und mischt sich direkt ins Alltagsleben ein. Beides geht Hand in Hand: Die Propagierung eines konservativen Lebensstils als vom Staat vorgegebener Norm rechtfertigt behördliche Einmischung und Verbote – etwa bei Alkoholkonsum oder Gender-Identitäten – und schränkt die soziale Basis für oppositionelle Politik ein. Der Mechanismus greift vor allem bei der türkischen Interner Link: LGBTQ-Bewegung, die in den vergangenen Jahren zunehmend Opfer staatlicher Verfolgung und Repression wurde. Von staatlichen Stellen wird LGBTQ nicht nur als unmoralisch portraitiert, sondern als vom Ausland finanzierte, organisierte Bedrohung der „Nation“ dargestellt, quasi als Terrorgruppe, die der leicht zu beeinflussenden Jugend ihre abwegige Ideologie aufzwingt.

Auch die Kunst- und Kulturszene spürt zunehmend den Druck der Regierung. Die Konzertverbote sind nur die Spitze des Eisbergs, doch sie liefern deutliche Hinweise auf die Art und Weise, in der sich die autoritäre Herrschaft festigt, jetzt, da die Wahlen vom Mai 2023 die Regierung Recep Tayyip Erdoğans in der „Neuen Türkei“ bestätigt und jegliche Hoffnung der Opposition auf demokratischen Wandel zunichte gemacht haben. Die Auftrittsverbote machen einerseits die politische Unterdrückung durch die Regierung deutlich, zeigen aber auch, dass es in der türkischen Gesellschaft Kreise gibt, die diesen Trend unterstützen und vorantreiben. Das wirft Licht auf die totalitären Tendenzen des türkischen Regimes.

Willkommen in der Opposition! Wer wird zensiert - und warum?

Die Gruppe der Kunstschaffenden und Musikmachenden, deren Konzerte und Shows untersagt werden, ist ausgesprochen heterogen. Es traf den Rapper Eypio ebenso wie den Ethnorocksänger Korhan Özyıldız, den türkischen Folkmusiker Hüseyin Turan oder die berühmte kurdische Künstlerin Aynur Doğan. Trotzdem ist es kein Zufall, dass gerade sie Auftrittsverbot erhielten. Ihnen allen wird unterstellt, sie seien „Gegner der Regierung“ und würden diese sogar „beleidigen“. Sie würden sich gegen die Politik des Präsidenten und seine national-konservative, türkisch-islamische Weltsicht auflehnen, lautet der Vorwurf. Die "Gefühle des Volkes", bzw. "die Sensibilitäten der Nation" würden verletzt werden. Im extrem polarisierten sozialen und politischen Klima der Türkei, hat der jahrelange populistische Diskurs und die nicht weniger populistische Politik der Regierung ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen „Uns“ (die Anhänger der Regierung) und „Euch“ (alle anderen) erzeugt. So fruchtete das Argument, diese Künstlerinnen und Künstler gehören der von Erdoğan repräsentierten und geführten politischen Gemeinschaft, also der Nation, wie er sie sich vorstellt, nicht mehr an. Mehr noch, sie seien "Feinde" der Nation.

Die Sängerin Melek Mosso sprach sich bei Konzerten für Frauenrechte aus und widmete eine ihr verliehene Auszeichnung während der Preisverleihung dem Kampf der Frauen. Wer jedoch wie sie Unbehagen angesichts der Lage im Land äußert oder Kritik übt, wird als „Staatsfeindin“ gebrandmarkt. Auch Mabel Matiz und Melike Şahin nutzten Preisverleihungen für Statements, in denen sie ihre Solidarität mit der LGBTQ-Community in der Türkei bekräftigten. Der Folksänger Hüseyin Turan – er nennt sich selbst Dissident – positionierte sich vor den Wahlen in den sozialen Medien als Unterstützer der Opposition.

In allen diesen Fällen waren es organisierte AKP-Anhänger, die über die sozialen Medien kritische Künstlerinnen und Künstler wegen ihrer Aussagen oder Meinungen heftig attackierten. Sie bedrängen zudem auch AKP-Bürgermeister, in deren Städten Auftritte zu untersagen.

Man muss sich jedoch nicht kritisch zur Regierung äußern, um zur Zielscheibe von Auftrittsverboten zu werden. Oft reicht es aus, kurdisch zu sein und eine andere Identität und Muttersprache zu haben. So betreffen die Auftrittsverbote der vergangenen drei Jahre oft kurdische Künstlerinnen und Künstler. Viele von ihnen haben Probleme, Veranstaltungsorte für ihre Inszenierungen oder Konzerte zu finden. Oft wurden sie zudem aus dem Programm gestrichen, sobald die Veranstalter kurdischsprachige Songs auf der Setlist entdeckten. Es entsteht deshalb der Eindruck, dass es heute einen inoffiziellen Bann gegen das Kurdische im öffentlichen Raum gibt. Die Zeit der Liberalisierung, die auch den freien Gebrauch des Kurdischen einschloss, ist offenbar vorbei.

Doch neben den Kurden trifft es auch andere Kritiker des türkischen Staates, wie etwa die radikale Linke. Allein der Verdacht, dass die bekannte, linke Politfolkband Grup Yorum, die bereits seit langem Ziel staatlicher Angriffe ist, auftreten könnte, genügte der Bezirksverwaltung von Istanbul-Sultangazi, um ein ganzes Festival zu verbieten.

Kontrolle des öffentlichen Raumes

Diese Absagen und Auftrittsverbote sind mehr als nur eine Sanktionierung, um unerwünschte Kunstschaffende zum Schweigen zu bringen. Sie dienen der Kontrolle des öffentlichen Raumes. Der Staat will kontrollieren, was öffentlich stattfinden darf. Daher werden nicht nur bestimmte Personen, Auftritte und Debatten aus dem Rampenlicht gedrängt, sondern es wird der Öffentlichkeit selbst – und insbesondere der Jugend – die Möglichkeit der Begegnung und Zusammenkunft mit anderen genommen.

Die Interner Link: Gezi-Proteste von 2013, als zahlreiche Gruppen gegen die AKP-Politik aufbegehrten und sich in großen Demonstrationen die Unzufriedenheit und der starke Wunsch nach Veränderung in der Bevölkerung ausdrückte, waren ein kritischer Wendepunkt für die Regierung. Die Regierung dämonisierte die Proteste, Aktivisten wurden angeklagt und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Menschenrechtsaktivisten und Kulturmäzen Osman Kavala wurde wegen Unterstützung der Gezi-Proteste inhaftiert und verbüßt nun, wegen angeblicher Teilnahme am Putschversuch von 2016, eine lebenslange Haftstrafe.

Staatspräsident Erdogan sowie ranghohe AKP-Vertreter benutzen noch heute die Gezi-Proteste von 2013 als Schreckensbild für Unruhe, Instabilität und Aufstand, um jeglichen öffentlichen Protest zu diskreditieren. Die Regierung scheint zurzeit eine ähnlich große Mobilisierung wie vor zehn Jahren zu fürchten. Nach jenen Gezi-Ereignissen hat die Regierung seit nunmehr zehn Jahren die oppositionelle Szene ständig im Blick. Bereits mehrfach wurden Demonstrationen verboten und andere Maßnahmen ergriffen, um Proteste der Opposition einzuschränken sowie große Bündnisse und parteiübergreifende Mobilisierung zu verhindern. In einigen türkischen Provinzen sind Straßenproteste bereits seit langem „illegal“.

Die Absagen von Festivals in der Türkei sind insofern mit Demonstrationsverboten vergleichbar, als es auch bei ihnen darum geht, möglichen Protest zu zerschlagen, bevor er sichtbar wird oder sich dabei gleichgesinnte Kritiker zusammenfinden. Es ist kaum vorstellbar, dass die höhere türkische Regierungsebene die Unzufriedenheit von Teilen der Jugend nicht erkennt. Diese Unzufriedenheit kann sich jedoch zurzeit nicht kanalisieren. Angesichts des aktuellen Ausmaßes der Verletzung von politischen und bürgerlichen Rechten im Land, und insbesondere angesichts der Restriktionen der Presse und der sozialen Medien, die die freie Rede in der Öffentlichkeit geradezu ersticken, sind die Möglichkeiten für die Formulierung und Diskussion oppositioneller Überzeugungen extrem reduziert. Öffentliche Kritik ist gefährlich. Breite Bündnisse, Proteste und politische Aktionen auf der Straße sind praktisch unmöglich geworden. Viele Menschen sind enttäuscht von der offiziellen Politik und zunehmend frustriert. Es überrascht daher nicht, dass eine desillusionierte Jugend Kunstschaffende, die sich öffentlich kritisch äußern, begeistert feiert. „Geçcek“, ein Song des türkischen Popstars Tarkan, und die politischen, kritischen Videos der Rapper Ezhel und Saniser, Olay bzw. Susaman, gingen viral. Daher empfindet die Regierung Ansammlungen tausender junger Menschen als explosive Mischung, umso mehr, wenn ein kritischer Künstler auf der Bühne steht. Darüber hinaus sind viele junge Menschen davon überzeugt, dass die Regierung, nach den verheerenden Erdbeben im Februar 2023, die Universitäten vor allem deshalb aufforderte, ihre Lehrangebote online fortzuführen, um mögliche Zusammenkünfte oder Demonstrationen der Studierenden zu verhindern.

Schutz der "Sensibilitäten der Nation"

Anders als bei Demonstrationsverboten erfolgt die Absage von Veranstaltungen durch die Behörden in der Regel ohne Begründung. Die Musikerinnen und Musiker werden schlicht darüber informiert, dass ihr Konzert nicht stattfindet. Werden doch einmal Gründe genannt, dann heißt es meist „moralische Bedenken“, „Missachtung der Werte“ oder „Verletzung der Sensibilitäten der Nation“. Anlässlich des 2022 untersagten Konzerts von Niyazi Koyuncu erklärte die AKP-geführte Stadtverwaltung von Pendik, sie könne „einem Musiker, der nicht [ihre] Werte und Ansichten vertritt, keine Genehmigung für ein Konzert auf den öffentlichen Plätzen von Pendik erteilen.“ Nach der Absage der Auftritte von Melike Şahin und Hüseyin Turan ließ der Bürgermeister von Bursa wissen, dass „…wir bereits diverse Künstler erlebt haben, die mit polarisierten Statements unsere Werte beleidigen. Man kann nicht erwarten, dass wir das einfach so hinnehmen. […] Ich möchte betonen, dass wir unser Kunst- und Kulturprogramm mit Künstlern fortsetzen werden, die den nationalen Willen (milli irade) achten und die Werte der Nation respektieren.“ Das Konzert der Sängerin Gökçe in der westanatolischen Stadt Sandıklı in der Provinz Afyon wurde verboten, nachdem sie etwa in der Pride Week von 2023 getwittert hatte: „Die Leute sollen lieben, wen sie wollen.“ In der Verlautbarung des AKP-Bürgermeisters von Sandıklı hieß es dazu: „Das für den 11. August geplante Konzert wurde nach meinen Recherchen zu Äußerungen der eingeladenen Künstlerin abgesagt. Sie beleidigt unseren verehrten Präsidenten und setzt sich für LGBT ein. Wir haben immer gesagt, dass wir Kinder dieses Landes sind. Wir werden nicht dulden, dass jemand unseren geschätzten Präsidenten oder unsere heiligen Werte verletzt. Wer derartige Meinungen teilt oder weitergibt, darf unseren Bezirk nicht betreten, geschweige denn hier ein Konzert geben.“

Die deutlichste Aussage gegen Festivals findet sich in einem Statement der "Zivilgesellschaftlichen Plattform Balıkesir", ein Zusammenschluss von 25 islamistischen Organisationen, die sich für ein generelles Festivalverbot einsetzen. „Festivals“, so heißt es in ihrer Erklärung, „bringen die Jugend dazu, unmoralische Beziehungen einzugehen, die als haram, vom Koran verboten und damit nicht erlaubt sind. Sie verführen sie zum Konsum von Alkohol und Drogen, machen sie betrunken und hetzen sie auf zur Rebellion und Revolte.“ Sie „verdummen die türkische Jugend, treiben sie in die Sucht und untergraben das Türkische Jahrhundert.“ Neben dem Verzicht auf Festivals fordert die Plattform Regelungen für Veranstaltungen, damit gesichert ist, dass kein Alkohol ausgeschenkt wird und dass Frauen und Männer getrennt feiern.

Überdies verstoßen Frauen, die sich nicht in ein bestimmtes konservatives Bild fügen wollen und sich öffentlich einmischen, gegen konservative Befindlichkeiten. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Fall der Sängerin Gülşen, die zunächst wegen ihrer gewagten – als unanständig empfundenen – Kleidung im Zentrum der Kritik stand. Dann filmte und teilte ein Konzertbesucher einen Witz, den sie auf der Bühne über die Schüler und Schülerinnen von Predigerschulen in der Türkei machte, und Gülşen wurde festgenommen. Die Konsequenzen waren nicht nur zahlreiche Auftrittsverbote, sondern auch ein Prozess, bei dem sie zu einer zehnmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Wollen die AKP und die Regierung Erdoğan eine radikale Veränderung der türkischen Gesellschaft? Diese Frage wird in politischen Kreisen des Landes intensiv diskutiert. Nicht wenige deuten das Verkaufsverbot von Alkohol nach 22 Uhr, die sehr hohe Besteuerung von Spirituosen und das während der Pandemien eingeführte Musikverbot nach Mitternacht, das auch nach der Aufhebung der Covid-Restriktionen beibehalten wurde, als Einmischung der Regierung in die Lebensweise der Menschen im Land. Mit Konzertabsagen sollen kritische Worte und oppositionelle Meinungen sowie bestimmte Identitäten aus dem öffentlichen Leben verbannt werden. Gleichzeitig dient dieses dazu, ein konservatives Ideal zu konstruieren und dieses der türkischen Gesellschaft aufzuzwingen. Es ist die Vision einer homogenen, türkisch-nationalistischen, sunnitisch-islamischen, streng patriarchalischen Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, in der Minderheiten, die nicht schweigen wollen, wie etwa queere Menschen oder Frauen außerhalb familiärer Strukturen, keinen Platz haben und bestenfalls in den eigenen vier Wänden unsichtbar oder am Rande der Gesellschaft „geduldet“ werden. Die Politik der Zensur und Verbote der Regierung gegenüber der Musikszene muss daher im Kontext von gesellschaftspolitischen Maßnahmen gesehen werden, die der Verwirklichung dieses konservativen Ideals dienen. Beispiele dafür sind etwa der erschwerte Zugang für Frauen zu Abtreibungen, die zunehmende Zahl von Predigerschulen oder der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, einer internationalen Menschenrechtsvereinbarung gegen häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen. Die von der Regierung kontrollierten Medien propagieren diese Weltsicht sowohl in ihren Unterhaltungsprogrammen, also auch in Fernsehserien und Filmen oder Talkshows.

Der angestrebte Gesellschaftswandel verleiht der autoritären Regierung der Türkei totalitäre Züge. Die Konzertabsagen zeigen eine solche Dynamik nicht nur von oben nach unten, sondern auch unten nach oben: Zahlreiche Auftrittsverbote wurden verhängt, nachdem dies in den sozialen Medien aggressiv gefordert wurde und die jeweiligen Künstler oder Musiker dort stark angegriffen wurden. Die meisten Fälle betrafen dabei Bezirke mit AKP-Bürgermeistern. Es ist nicht zu belegen, dass die Internet-Angriffe koordiniert erfolgten oder ob es sich um Beiträge Einzelner handelte. Die Frage bleibt offen, ob dabei die Partei Druck auf die Bürgermeister (und Gouverneure) ausübte oder ob diese autonom handelten, entweder als Reaktion auf öffentlichen Druck oder gemäß dem eigenen politischen Kalkül und mit Zustimmung der Parteiführung. Grundsätzlich liegt jedoch die Vermutung nahe, dass es eine gewisse Beteiligung der konservativen Bevölkerung gibt, die heute möglicherweise weniger zurückhaltend ist, wenn es darum geht, anderen die eigenen Sichtweisen aufzuzwingen. Ebenso vehement wie die Angriffe in den Sozialen Medien, ist das Verhalten mehrerer islamisch geprägter Organisationen und Netzwerke, die öffentlich Amtsträger bedrängen, in ihrem Sinn zu intervenieren. Dazu zählen die bereits erwähnte Zivilgesellschaftliche Plattform Balıkesir oder die der Islamischen Partei der Glückseligkeit (Interner Link: Saadet Partisi) nahestehende sehr aktive Jugendorganisation Anadolu Gençlik Derneği. Gruppen wie diese entstanden im Zusammenhang einer von der AKP-Politik geförderten regierungsfreundlichen Zivilgesellschaft, die kulturelle Hegemonie herstellen soll. Ihre Rolle bei den Konzertverboten ist nur ein Beispiel für ihren Aktivismus.

Die „Verwüstung“ des öffentlichen Raumes

Der Druck auf die Kulturszene richtet sich nicht nur gegen Musikerinnen und Musiker. Erst vor wenigen Monaten gab es vehemente Proteste gegen eine Ausstellung in Istanbuls neuer Galerie Feshane, da dort „LGBTQ-Propaganda“ betrieben würde und daher die Schließung des Museum gefordert wurde. Eine Zeichnung von Ersin Karabulut beim Cartoon- and Illustration-Festival in der Gazhane, einer städtischen Galerie in Istanbul, wurde nach Beschwerden über den „mangelnden Anstand“ des Werkes abgehängt. Ereignisse wie diese schaffen ein Klima der Angst und können zur Selbstzensur der Kunstschaffenden führen. Denn Wenige erheben ihre Stimme und Viele verhalten sich mittlerweile eher konform. Möglicherweise beginnen bald auch nicht von der AKP regierte Verwaltungsbezirke und Kultureinrichtungen, aus Angst vor Repressalien und im vorauseilenden Gehorsam, Künstler oder Veranstaltungen zu verbieten, noch bevor diese negativ auffallen. Kritischen Kulturschaffenden in der Türkei wird damit immer mehr die Möglichkeit genommen, öffentlich kreativ tätig zu sein.

Überdies hat die aktuelle Wirtschaftskrise im Land vor allem für die Musikszene dramatische Konsequenzen: Schon während der Pandemie hatte es keine Engagements mehr gegeben, und Musikerinnen und Musiker erhielten keinerlei staatliche Hilfen. Somit stehen Viele – angesichts der Auftrittsverbote aktuell – vor dem finanziellen Ruin.

Neben den Problemen und Risiken, die Kunstschaffende in der Türkei heute bewältigen müssen, droht auch das „Austrocknen“ des öffentlichen Lebens und der freien Kunstszene im Land. Der Versuch, der Kulturwelt eine islamische Ideologie aufzustülpen, zerstört viele Initiativen, ohne dass die Regierung eine eigene nennenswerte Kunst- und Kulturförderung ihrer Politik vorantreibt.

Der Tod des türkischen „Urgesteins“ und „Vaters des anatolischen Rocks“ Erkin Koray in diesem Jahr ist eine traurige Mahnung daran, dass das Potenzial der reichen, komplexen und vielfältigen Kulturtraditionen, einschließlich des säkularen Erbes der Republik, langsam ausgeschöpft ist.

Das heißt nicht, dass es keine Kulturproduktion mehr gäbe. Nach wie vor wird, wenn auch unter massivem Druck und allen Widrigkeiten zum Trotz, kreativ gearbeitet. Doch für viele Menschen im Land, und vor allem für die Jugend in den Städten wird das Leben täglich freudloser und trister. Die urbane Mittelschicht ächzt unter der anhaltenden Wirtschaftskrise, leidet unter den damit einhergehenden hohen Inflationsraten und Wechselkursschwankungen. Längst musste sie sich von zentralen Elementen ihres Lebensstils verabschieden: kaum mehr Kulturevents, Verzicht von teuren Restaurantbesuchen, kaum noch Urlaubsreisen. Gefühlt chancenlos angesichts der von ihnen erlebten politischen Repressionen und ökonomischer Härte, erklärten in einer 2022 durchgeführten Jugendstudie 73 Prozent der Befragten, dass sie die Türkei verlassen würden, sobald sie die Möglichkeit dazu hätten. Die Türkei stellt – wenig überraschend – einen zunehmenden Braindrain fest, denn es gehen vor allem beruflich qualifizierte Mittelschichtsangehörige, etwa Akademiker, wie IT-Fachleute, Ingenieure oder Ärzte. Wenn das Ideal der türkischen Regierung darin besteht, die Mehrheit für Hungerlöhne schuften zu lassen und ihren bisherigen gesellschaftlichen wie kulturellen Lebensstil einzuschränken, während wenige Reiche in Dubai-ähnlichem Konsum schwelgen, kann man ihnen nicht vorwerfen, dass sie von Auswanderung träumen.

Weitere Inhalte

Dr. Deniz Erkmen studierte Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Bosporus-Universität Istanbul und erwarb ihren Doktortitel in Politikwissenschaft an der University of Michigan. Ihre Lehr- und Forschungsgebiete sind vergleichende Politik, politische Soziologie, Politik des Nahen Ostens, Zivilgesellschaft und politische Partizipation, Transnationalismus, qualifizierte Migration, Globalisierung und Identitäten.