Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
Im heißen Sommer 2023 erfasste ein seltsames Phänomen wie ein Flächenbrand die Türkei: Eine Provinzverwaltung nach der anderen verbot angesetzte Musikfestivals und Konzerte. Die Absage erfolgte meist in letzter Minute, angeordnet vom örtlichen Bürgermeister oder Gouverneur. Bereits im Sommer 2022 hatte es mehrfach derartige Interventionen gegeben. 2023 setzte sich der Trend fort. Das Thema schaffte es jedoch nicht in die internationale Presse. Auch in der Türkei reagierten die Presse und die sozialen Medien nur, wenn es sich um Konzerte bekannter Künstler wie Gülşen, Mabel Matiz, Melike Şahin oder um renommierte Events wie das Anadolu Fest handelte. Der Ausfall kleinerer Veranstaltungen ging am breiten Publikum vorbei oder wurde eher ignoriert.
So unbedeutend die Absagen im Einzelfall auch erscheinen mögen: Die erzwungene Stille fügt sich in das düstere Bild gesellschaftlichen Lebens in der autoritären Türkei von heute. Die Auftrittsverbote sind eines der Instrumente, derer sich die Regierung nun schon seit zehn Jahren bedient, um ihre Herrschaft im Land zu festigen. Dabei fährt sie eine Doppelstrategie: Während sie auf der einen Seite jegliche politische und soziale Opposition ausschaltet, konstruiert sie auf der anderen Seite das Ideal einer neuen, konservativen türkischen Gemeinschaft und mischt sich direkt ins Alltagsleben ein. Beides geht Hand in Hand: Die Propagierung eines konservativen Lebensstils als vom Staat vorgegebener Norm rechtfertigt behördliche Einmischung und Verbote – etwa bei Alkoholkonsum oder Gender-Identitäten – und schränkt die soziale Basis für oppositionelle Politik ein. Der Mechanismus greift vor allem bei der türkischen
Auch die Kunst- und Kulturszene spürt zunehmend den Druck der Regierung. Die Konzertverbote sind nur die Spitze des Eisbergs
Willkommen in der Opposition! Wer wird zensiert - und warum?
Die Gruppe der Kunstschaffenden und Musikmachenden, deren Konzerte und Shows untersagt werden, ist ausgesprochen heterogen. Es traf den Rapper Eypio
Die Sängerin Melek Mosso sprach sich bei Konzerten für Frauenrechte aus
In allen diesen Fällen waren es organisierte AKP-Anhänger, die über die sozialen Medien kritische Künstlerinnen und Künstler wegen ihrer Aussagen oder Meinungen heftig attackierten. Sie bedrängen zudem auch AKP-Bürgermeister, in deren Städten Auftritte zu untersagen.
Man muss sich jedoch nicht kritisch zur Regierung äußern, um zur Zielscheibe von Auftrittsverboten zu werden. Oft reicht es aus, kurdisch zu sein und eine andere Identität und Muttersprache zu haben. So betreffen die Auftrittsverbote der vergangenen drei Jahre oft kurdische Künstlerinnen und Künstler.
Doch neben den Kurden trifft es auch andere Kritiker des türkischen Staates, wie etwa die radikale Linke. Allein der Verdacht, dass die bekannte, linke Politfolkband Grup Yorum, die bereits seit langem Ziel staatlicher Angriffe ist, auftreten könnte, genügte der Bezirksverwaltung von Istanbul-Sultangazi, um ein ganzes Festival zu verbieten.
Kontrolle des öffentlichen Raumes
Diese Absagen und Auftrittsverbote sind mehr als nur eine Sanktionierung, um unerwünschte Kunstschaffende zum Schweigen zu bringen. Sie dienen der Kontrolle des öffentlichen Raumes. Der Staat will kontrollieren, was öffentlich stattfinden darf. Daher werden nicht nur bestimmte Personen, Auftritte und Debatten aus dem Rampenlicht gedrängt, sondern es wird der Öffentlichkeit selbst – und insbesondere der Jugend – die Möglichkeit der Begegnung und Zusammenkunft mit anderen genommen.
Die
Staatspräsident Erdogan sowie ranghohe AKP-Vertreter benutzen noch heute die Gezi-Proteste von 2013 als Schreckensbild für Unruhe, Instabilität und Aufstand, um jeglichen öffentlichen Protest zu diskreditieren.
Die Absagen von Festivals in der Türkei sind insofern mit Demonstrationsverboten vergleichbar, als es auch bei ihnen darum geht, möglichen Protest zu zerschlagen, bevor er sichtbar wird oder sich dabei gleichgesinnte Kritiker zusammenfinden. Es ist kaum vorstellbar, dass die höhere türkische Regierungsebene die Unzufriedenheit von Teilen der Jugend nicht erkennt. Diese Unzufriedenheit kann sich jedoch zurzeit nicht kanalisieren. Angesichts des aktuellen Ausmaßes der Verletzung von politischen und bürgerlichen Rechten im Land, und insbesondere angesichts der Restriktionen der Presse und der sozialen Medien, die die freie Rede in der Öffentlichkeit geradezu ersticken, sind die Möglichkeiten für die Formulierung und Diskussion oppositioneller Überzeugungen extrem reduziert. Öffentliche Kritik ist gefährlich. Breite Bündnisse, Proteste und politische Aktionen auf der Straße sind praktisch unmöglich geworden. Viele Menschen sind enttäuscht von der offiziellen Politik und zunehmend frustriert. Es überrascht daher nicht, dass eine desillusionierte Jugend Kunstschaffende, die sich öffentlich kritisch äußern, begeistert feiert. „Geçcek“, ein Song des türkischen Popstars Tarkan, und die politischen, kritischen Videos der Rapper Ezhel und Saniser, Olay bzw. Susaman, gingen viral.
Schutz der "Sensibilitäten der Nation"
Anders als bei Demonstrationsverboten erfolgt die Absage von Veranstaltungen durch die Behörden in der Regel ohne Begründung. Die Musikerinnen und Musiker werden schlicht darüber informiert, dass ihr Konzert nicht stattfindet.
Die deutlichste Aussage gegen Festivals findet sich in einem Statement der "Zivilgesellschaftlichen Plattform Balıkesir", ein Zusammenschluss von 25 islamistischen Organisationen, die sich für ein generelles Festivalverbot einsetzen. „Festivals“, so heißt es in ihrer Erklärung, „bringen die Jugend dazu, unmoralische Beziehungen einzugehen, die als haram, vom Koran verboten und damit nicht erlaubt sind. Sie verführen sie zum Konsum von Alkohol und Drogen, machen sie betrunken und hetzen sie auf zur Rebellion und Revolte.“ Sie „verdummen die türkische Jugend, treiben sie in die Sucht und untergraben das Türkische Jahrhundert.“
Überdies verstoßen Frauen, die sich nicht in ein bestimmtes konservatives Bild fügen wollen und sich öffentlich einmischen, gegen konservative Befindlichkeiten. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Fall der Sängerin Gülşen, die zunächst wegen ihrer gewagten – als unanständig empfundenen – Kleidung im Zentrum der Kritik stand.
Wollen die AKP und die Regierung Erdoğan eine radikale Veränderung der türkischen Gesellschaft? Diese Frage wird in politischen Kreisen des Landes intensiv diskutiert. Nicht wenige deuten das Verkaufsverbot von Alkohol nach 22 Uhr, die sehr hohe Besteuerung von Spirituosen und das während der Pandemien eingeführte Musikverbot nach Mitternacht, das auch nach der Aufhebung der Covid-Restriktionen beibehalten wurde, als Einmischung der Regierung in die Lebensweise der Menschen im Land. Mit Konzertabsagen sollen kritische Worte und oppositionelle Meinungen sowie bestimmte Identitäten aus dem öffentlichen Leben verbannt werden. Gleichzeitig dient dieses dazu, ein konservatives Ideal zu konstruieren und dieses der türkischen Gesellschaft aufzuzwingen. Es ist die Vision einer homogenen, türkisch-nationalistischen, sunnitisch-islamischen, streng patriarchalischen Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, in der Minderheiten, die nicht schweigen wollen, wie etwa queere Menschen oder Frauen außerhalb familiärer Strukturen, keinen Platz haben und bestenfalls in den eigenen vier Wänden unsichtbar oder am Rande der Gesellschaft „geduldet“ werden. Die Politik der Zensur und Verbote der Regierung gegenüber der Musikszene muss daher im Kontext von gesellschaftspolitischen Maßnahmen gesehen werden, die der Verwirklichung dieses konservativen Ideals dienen. Beispiele dafür sind etwa der erschwerte Zugang für Frauen zu Abtreibungen, die zunehmende Zahl von Predigerschulen oder der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, einer internationalen Menschenrechtsvereinbarung gegen häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen. Die von der Regierung kontrollierten Medien propagieren diese Weltsicht sowohl in ihren Unterhaltungsprogrammen, also auch in Fernsehserien und Filmen oder Talkshows.
Der angestrebte Gesellschaftswandel verleiht der autoritären Regierung der Türkei totalitäre Züge. Die Konzertabsagen zeigen eine solche Dynamik nicht nur von oben nach unten, sondern auch unten nach oben: Zahlreiche Auftrittsverbote wurden verhängt, nachdem dies in den sozialen Medien aggressiv gefordert wurde und die jeweiligen Künstler oder Musiker dort stark angegriffen wurden. Die meisten Fälle betrafen dabei Bezirke mit AKP-Bürgermeistern.
Die „Verwüstung“ des öffentlichen Raumes
Der Druck auf die Kulturszene richtet sich nicht nur gegen Musikerinnen und Musiker. Erst vor wenigen Monaten gab es vehemente Proteste gegen eine Ausstellung in Istanbuls neuer Galerie Feshane, da dort „LGBTQ-Propaganda“ betrieben würde und daher die Schließung des Museum gefordert wurde.
Überdies hat die aktuelle Wirtschaftskrise im Land vor allem für die Musikszene dramatische Konsequenzen: Schon während der Pandemie hatte es keine Engagements mehr gegeben, und Musikerinnen und Musiker erhielten keinerlei staatliche Hilfen. Somit stehen Viele – angesichts der Auftrittsverbote aktuell – vor dem finanziellen Ruin.
Neben den Problemen und Risiken, die Kunstschaffende in der Türkei heute bewältigen müssen, droht auch das „Austrocknen“ des öffentlichen Lebens und der freien Kunstszene im Land. Der Versuch, der Kulturwelt eine islamische Ideologie aufzustülpen, zerstört viele Initiativen, ohne dass die Regierung eine eigene nennenswerte Kunst- und Kulturförderung ihrer Politik vorantreibt.
Der Tod des türkischen „Urgesteins“ und „Vaters des anatolischen Rocks“ Erkin Koray in diesem Jahr
Das heißt nicht, dass es keine Kulturproduktion mehr gäbe. Nach wie vor wird, wenn auch unter massivem Druck und allen Widrigkeiten zum Trotz, kreativ gearbeitet. Doch für viele Menschen im Land, und vor allem für die Jugend in den Städten wird das Leben täglich freudloser und trister. Die urbane Mittelschicht ächzt unter der anhaltenden Wirtschaftskrise, leidet unter den damit einhergehenden hohen Inflationsraten und Wechselkursschwankungen. Längst musste sie sich von zentralen Elementen ihres Lebensstils verabschieden: kaum mehr Kulturevents, Verzicht von teuren Restaurantbesuchen, kaum noch Urlaubsreisen. Gefühlt chancenlos angesichts der von ihnen erlebten politischen Repressionen und ökonomischer Härte, erklärten in einer 2022 durchgeführten Jugendstudie