Im Wahlkampf der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei war der Druck auf die LGBT-Community kräftig angestiegen. Das Regierungslager nutzte das Thema „Gender“ aktiv, um die Unterstützung konservativer Wähler zu gewinnen und den politischen Gegner zu diffamieren. Aber auch nach den Wahlen lässt die öffentliche Dämonisierung von Menschen aus der LGBT-Community nicht nach. Das schürt nicht nur die Besorgnis um ihre Rechte, sondern auch um ihre persönliche Sicherheit.
Abbau von Rechten und Akzeptanz der LGBT-Community in der Ära Erdoğan
LGBT-feindliche Politik war lange keine Konstante der Regierungszeit von Recep Tayyip Erdoğan. Wenn es auch niemals aktive Maßnahmen oder Gesetzesinitiativen zum Schutz und für die Gleichstellung von LGBT gab, so verfolgte seine Partei, die
Etwa ab 2010 wendete sich die Regierung jedoch gegen die Bewegung. Es kam zu verbalen Attacken von Politikern in regierungsnahen Medien und in den sozialen Medien. Seit 2015 werden Pride-Veranstaltungen zunehmend verboten, dennoch stattfindende Demonstrationen werden mit Polizeigewalt aufgelöst, und es kommt zu Strafverfolgungen von Aktivisten. Auch der Ausstieg der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (die so genannte Istanbul-Konvention) 2021 gehört in diesen Kontext: Der Schritt wurde aufgrund des Drucks konservativer Gruppen getan, denen zufolge, diese Konvention u.a. Homosexualität fördere.
In den letzten zwei Jahren entstand darüber hinaus eine Art Anti-LGBT-Bewegung. Ihre Demonstrationen werden im Gegensatz zu denen der LGBT-Bewegung nicht verboten. Aus Furcht, dass westliche Staaten die türkische Jugend zur Homosexualität verführen wollen, um die türkische Gesellschaft zu zersetzen, wird auch ungehindert ein Verbot von , wie es heißt, „LGBT-Propaganda“ gefordert
LGBT als Wahlkampfthema
Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 wurde das Thema LGBT vom Regierungslager aktiv zur Mobilisierung konservativer Wählerschichten genutzt. So bezeichneten Erdoğan und sein Innenminister Süleyman Soylu queere Menschen immer wieder als „pervers“, ja selbst als „Terroristen“
Besonders schrill traten im Wahlkampf die Stimmen zweier Kleinstparteien hervor, die Erdoğan in sein Wahlbündnis integrierte. Die erste dieser Parteien ist die kurdisch-islamistische
Die Oppositionsparteien griffen das Thema dagegen kaum auf. Die Republikanische Volkspartei (
Verschärfung des Tons nach den Wahlen
Hoffnungen, die LGBT-Feindlichkeit würde nach ihrer Instrumentalisierung im Wahlkampf wieder abflauen, haben sich jedoch nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil hat sich der Ton in der Politik und in den regierungsnahen Medien weiter verschärft. So ist in großen und einflussreichen Medien inzwischen von einem „LGBT-Terror“ die Rede. Die Abgeordnete Ceyda Bölünmez der Regierungspartei AKP aus Izmir wird von der eher linken Zeitung Solcu Gazete mit der Aussage zitiert: “LGBT und seine Erweiterungen sind kein Kampf um Identität. Es handelt sich um eine klinisch diagnostizierte Störung. Eine Behandlung ist auch hormonell möglich.”
Im Juli 2023 wurden Streaming-Plattformen wie Netflix, Amazon Prime, Mubi, Disney+ und Blu TV von der Medienaufsichtsbehörde RTÜK (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu) wegen „unsittlicher“ Sendungen mit Strafen belegt. In der Begründung einer Sanktion gegen Netflix wird die Grundhaltung der Behörde zu diesem Thema deutlich: "Der Film widerspricht dem Prinzip, die Familie zu schützen. Er zeigt ein durch keine Norm geregeltes Geschlechtsleben und unbegrenzte sexuelle Beziehungen, er konstruiert eine auf der Sexualität sich gründende alternative Welt, er sucht die [auf der ganzen Welt gültige] universelle Form der Familie zu verändern, er zeigt obszöne Szenen in allen Details und präsentiert es als normal und richtig."
Darüber hinaus wurden die massiven Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit besonders im Pride-Monat Juni 2023 deutlich, in dem traditionell an die Stonewall-Aufstände in New York im Juni 1969 erinnert wird, die sich nach einer gewaltsamen Polizeiaktion in einer Schwulenbar entzündeten. Fast alle LGBT-bezogenen Veranstaltungen wurden in diesem Jahr verboten. Das Zeigen der Regenbogenfahne wird zunehmend unmöglich. Die Durchführung der Pride-Parade im säkularen Zentrum Istanbuls, wo auch die Gezi-Proteste stattgefunden hatten, wurde durch massives ganztägiges Polizeiaufgebot verhindert. Dennoch versammelten sich mehrere hundert Menschen im benachbarten Stadtteil Şişli. Doch hier wie auch auf der Pride-Parade in Izmir kam es zu etlichen Festnahmen. Anti-LGBT-Aktivisten agieren dagegen ohne Einschränkungen. So wurde zum Beispiel ein von der Anwaltskammer Izmir veranstaltetes Frühstück im Rahmen der Pride-Woche von Anhängern der nationalistischen Vaterlandspartei (
Die verschärfte Stimmung bekommen auch Kulturveranstalter und Künstler zu spüren. Im Juni 2023 wurde in Istanbul eine Vorführung des Films „Pride“ aufgelöst, der von der Solidarität zwischen homosexuellen Aktivisten und streikenden Bergarbeitern in England 1980 erzählt. Etliche Besucher wurden festgenommen. Die Begründung des Verbots durch den Bezirksgouverneur: Die Vorführung verstoße gegen nationale und moralische Werte und könne den öffentlichen Frieden gefährden
Doch auch Widerstand ist sichtbar. Zahlreiche LGBT-Organisationen sind weiter aktiv und führten Aktionen zum Pride-Monat durch.
Schwierige Aussichten
Mit Blick auf die dritte Amtszeit Präsident Erdoğans erwarten LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten eine weitere Einschränkung ihrer Rechte und Freiheiten. Mahmut Şeren vom LGBT-Verein ÜniKuir befürchtet, dass durch Änderung von Gesetzen oder der Verfassung die Aktivitäten von LGBT-Organisationen kriminalisiert werden könnten. Regierungsnahe Medien diskutierten bereits das so genannte Propagandagesetz in Russland, das öffentliche Information zu Fragen von Homosexualität oder Geschlechtsidentität unter Strafe stellt. Auch die körperliche Unversehrtheit von Aktivisten sei zunehmend gefährdet. Reyda Ergün, bis Ende 2022 am Research Center for Gender and Women’s Studies an der Kadir Has University in Istanbul tätig, befürchtet eine weitere Einschränkung der akademischen Freiheit, wenn es um Genderfragen geht.
Die Selbstzensur werde zunehmen und die Zusammenarbeit von Akademikern mit zivilgesellschaftlichen Organisationen mit diesem Themenschwerpunkt mit höheren Risiken verbunden sein. Auch das persönliche Leben dürfte durch die Verbreitung von Hassrede in vielerlei Hinsicht betroffen sein – sei es durch Nachteile in Beruf und Studium, die immer geringere Sichtbarkeit von LGBT in der Kulturproduktion oder schlicht ihre persönliche Sicherheit.
Juristische Konsequenzen kann die LGBT-feindliche Politik in einer Verfassungsänderung finden, von der die AKP bereits 2022 das erste Mal gesprochen hat und die im Herbst 2023 in die Wege geleitet werden soll. Artikel 41 der Verfassung „Schutz der Familie und Kinderrechte” soll um die Definition der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau ergänzt werden. Wenngleich dies ein symbolischer Akt ohne direkte praktische Auswirkungen wäre, befürchten LGBT-Organisationen, dass das Prinzip der Gleichbehandlung vor dem Gesetz unterminiert und Menschenrechtsverletzungen Tür und Tor geöffnet würde.
Die zunehmend LGBT-feindliche Politik der AKP und ihrer politischen Partner dient einerseits der Festigung ihrer Wählerbasis und nutzt dazu das emotional aufgeladene Thema Familie