Es bestehen fundamentale Unterschiede in den Motiven und Gründen der „Auslandstürken“ und der Menschen in der Türkei, Erdoğan ihre Stimme zu geben. Exemplarisch wäre für die Türkei die mediale Omnipräsenz des Staatspräsidenten zu nennen, dessen Profil jeden Winkel des Landes erreicht, weil staatliche Ressourcen seiner Partei, der Interner Link: AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Gerechtigkeit und Entwicklungspartei), stärker zu Gute kommen. Jenseits aller Inhalte wird dadurch ein Phänomen erzeugt, das in der Psychologie „mere exposure“ genannt wird: Allein die Tatsache, einem Phänomen immer wieder ausgesetzt zu sein, führt zu einer stärkeren Vertrautheit beim Betrachter. Erdoğan ist überall; er ist die dominante Figur täglicher Nachrichten. Die Suggestion, ohne ihn würde der Staatsapparat nicht funktionieren, drängt sich auf. Hinzu kommt die übermächtige Rolle der regierungsnahen und staatlichen Medien mit einem geschätzten Anteil von 75 bis 80% an allen Medien des Landes.
Darüber hinaus werden fast systematisch Ängste vor einer Spaltung des Landes und dem Treiben „ausländische Mächte“ durch die Terrorgefahr der PKK und der syrischen Kurdenmiliz YPG geschürt, um bei einem großen Teil der Bevölkerung Verunsicherung auszulösen und Schutz bei der Regierung suchen zu lassen. Aus der politischen Psychologie ist bekannt, dass die Erzeugung von Ängsten ein probates Mittel ist, um Herrschaft zu stabilisieren. Ängstliche Menschen wählen meist konservativer.
Recep Tayyip Erdoğan hatte zunächst seine Karriere mit Demokratisierungen und wirtschaftlichen Erfolgen begonnen. Die Abwendung von der Demokratie hat jedoch nicht erst mit der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste 2013, sondern bereits 2007 begonnen, als die AKP durch mehrfache Wahlsiege immer fester im Sattel saß und vor allem die Armee nicht mehr zu fürchten hatte.
Ein weiterer Grund seiner Wahlerfolge ist die Politisierung von Frauen: vor allem aus unteren sozialen, eher wenig gebildeten traditionellen Kontexten. Die AKP gab ihnen neue Handlungsfelder - wie etwa das Frauennetzwerk der AKP - was dieser Gruppe Stolz, politische Selbstwirksamkeit und Sichtbarkeit verlieh.
Erdoğan und die Auslandstürken
Will man Erdoğans Faszination im Ausland erklären, so gilt es zum einen auf die Bedürfnisstruktur und Präferenzen der Türkeistämmigen einzugehen, zum anderen aber auch die jeweiligen Angebote und die Anziehungskraft der AKP bzw. des Staatspräsidenten herauszustellen.
Zunächst jedoch ein kurzer Überblick über die demographische Beschaffenheit der Auslandstürken: Laut Mikrozensus hatten im Jahre 2022 etwa 28,7% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund (MH); das sind knapp 24 Millionen Menschen. Von diesen haben ca. 2,83 Millionen Wurzeln in der Türkei, womit sie etwa 3,4% der Gesamtbevölkerung darstellen. Rund die Hälfte von ihnen ist eingebürgert und etwa 300.000 Menschen haben die doppelte Staatsbürgerschaft, etwa 200.000 sind sowohl in der Türkei als auch in Deutschland wahlberechtigt.
Unter den Migrantengruppen stellen die Türkeistämmigen in Deutschland die größte Gruppe dar und damit nimmt die Bundesrepublik - weit vor allen anderen Ländern - hier einen prominenten Platz ein. Zum Vergleich: Frankreich ist - absolut betrachtet mit knapp einer Million Türkeistämmiger - das Land mit der zweitgrößten türkischen Community im Ausland.
In der Türkei lag die Zahl der potenziellen Wählerinnen und Wähler bei der letzten Wahl am 14. Mai 2023 bei ca. 61 Millionen. Die knapp 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland entsprachen damit 2,5% der Stimmberechtigten in der Türkei.
Angesichts der Wahlergebnisse der Auslandstürken in Deutschland wurde in der öffentlichen Debatte gefragt: „Wie kann es sein, dass Menschen hier in Freiheit und Sicherheit leben, zudem die Vorzüge der Demokratie genießen, jedoch in ihren Herkunftsländern Sympathie für repressive Parteien zum Ausdruck bringen“? Zum einen gibt es auch eine große Zahl von einheimischen Deutschen, welche die Vorzüge der Demokratie genießen und autoritären Parteien ihre Stimme geben. Zum anderen stammen viele Zuwanderer aus Ländern, die weniger demokratische Strukturen ausgebildet haben, wie etwa Russland, das frühere Jugoslawien, Griechenland und eben die Türkei, die seit den letzten 60 Jahren drei Militärputsche sowie eine Fülle an antidemokratischer Interventionen erlebt hat und als eine „defekte Demokratie“ bezeichnet wird. Insofern sind sie weniger vertraut mit demokratischen Strukturen der Willensbildung und Beteiligung.
Anders als Deutsche im Ausland, können Türkeistämmige im Ausland erst seit etwa zehn Jahren direkt in den türkischen Generalkonsulaten ihre Stimme abgeben. Diese von der AKP eingeführte Möglichkeit bedeutet zweifellos einen Demokratisierungs- bzw. Partizipationsschub. Doch ging die AKP dabei auch strategisch vor, weil sie die politischen Präferenzen der Auslandstürken für rechtskonservative Parteien kannte.
Doch die zentrale Frage bleibt: Warum gewann auch in Deutschland die AKP bzw. deren Parteivorsitzender Recep Tayyip Erdoğan?
Die Wahlpräferenz der Auslandstürken ist nicht neu, wie die untenstehende Tabelle im zeitgeschichtlichen Verlauf zeigt : Bereits 2008 lag die AKP unter den in der Türkei Wahlberechtigten mit 67 Prozent weit vor allen anderen Parteien.
Ideologisch-weltanschauliche Nähe
Die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland weist eine große ideologisch-weltanschauliche Nähe zur AKP auf. In der ersten Phase der Migration, von 1961 bis 1973, rekrutierten sich die damaligen „Gastarbeiter“, weitestgehend aus der ländlichen Bevölkerung, die eher konservativ-islamisch geprägt war. In Deutschland organisierte sich diese Generation über landsmannschaftliche Vereine (oft „Kulturvereine“ genannt) sowie über Moscheevereine, die konservativen Parteien nahestanden. Und gerade religiöse Gruppen fanden in der AKP ihre politische Interessenvertretung. Besonders das konservative türkische Milieu ist in Deutschland und anderen europäischen Aufnahmeländern gut organisiert. Zu nennen sind hier primär die rund 900 DITIB (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) Moscheen in Deutschland, Ableger der enorm ressourcenreichen staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet, die unter Kontrolle der Regierung steht. Die türkische Regierung bestimmt zudem das Handeln der Yunus Emre Kulturzentren und ist in Deutschland und Europa außerdem über die Lobby-Organisation UID (Union internationaler Demokraten) vertreten, die sich früher UETD (Union europäischer türkischer Demokraten) nannte.
Konservativ-religiösen Haltungen werden in den Familien an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Generell ist die intergenerationale Wertetransmission bei Zuwanderern stark ausgeprägt. Das gilt insbesondere für die intergenerationale Stabilität der Religiosität. Innerhalb Deutschlands spielt Nordrhein-Westfalen (mit etwa einem Drittel aller Türkeistämmigen in Deutschland) eine besondere Rolle, da dort vor allem Arbeitskräfte für die Montanindustrie gesucht wurden, die sich primär aus der Bergbauregion der Türkei an der konservativen Schwarzmeerküste rekrutierten. Von daher ist es keine Überraschung, dass der Generalkonsulatsbezirk Essen überproportional hohe Anteile an AKP-Wählern (zwischen 60 bis 75%) aufweist.
Die Auswanderung unterschiedlicher Gruppen erklärt auch die Differenzen im Ländervergleich: So haben bspw. in den USA, Kanada und Großbritannien nur zwischen 17 und 20% ihre Stimme für Erdoğan abgegeben. Dort sind vor allem Studierende und Akademiker vertreten, Leute eher linksliberaler Orientierung mit recht hoher Bildung.
Personen, die in der zweiten und größeren Migrationswelle (während und nach dem Militärputsch von 1980) eingewandert sind, kamen mit einer eher politisch linken Gesinnung oder aus den überwiegend von Kurden besiedelten Gebieten im Osten und Südosten der Türkei und suchten in Deutschland (Frankreich, Schweden, Belgien) politisches Asyl. Auch heute noch stellt diese Gruppe zusammen mit den alevitischen Gemeinden das größten Wählerreservoir der pro-kurdischen HDP bzw. der CHP im Ausland.
Identifikation mit einer mächtigen Türkei: die Suche nach einem starken Wir
Von 2002 bis etwa 2013 erlebte die Türkei einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, einen deutlichen Anstieg des Bruttoinlandprodukts sowie des Pro-Kopf-Einkommens und eine Zunahme ihrer internationalen Bedeutung. So wurde ihr Herkunftsland für Türkeistämmige eine immer attraktivere Identifikationsquelle, auch wenn für sie damit keine eigenen wirtschaftlichen Vorteile verbunden waren. Die Tatsache, dass auch mit längerer Aufenthaltsdauer in Deutschland keine intensivere Einbindung und keine höhere Akzeptanz in der hiesigen Gesellschaft einhergingen, verstärkte diese Tendenz. Menschen haben das Bedürfnis, Teil eines starken „Wirs“ zu sein; und bei fehlenden Identifikationsangeboten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wurde und wird dieses starke Wir in einer mächtigen Türkei bzw. in einem unerschütterlichen Islam gesucht.
In der deutschen Debatte wird vielfach über eine angeblich misslungene Integration - besonders „der Türken“, und „der Muslime“ diskutiert. Von dieser fraternalen Diskriminierung, also der Abwertung der eigenen Gruppe, fühlen sich auch diejenigen ihrer Mitglieder betroffen, die selbst keine konkrete Ausgrenzung oder Diskriminierung erlebt haben. Denkt man beide Gruppen zusammen („Türken und Muslime“), hat man genau die Wählerschaft von Erdoğan, die sich national/nationalistisch und islamisch versteht.
Umarmungsstrategie Ankaras und verbesserter Service in den Konsulaten
Fast zeitgleich mit den Debatten um eine gescheiterte Integration in Deutschland gründete die türkische Regierung im Jahre 2011 das „Präsidium für Türken im Ausland und Verwandte Gemeinschaften“, (Yurtdışı Türkler ve Akraba Topluluklar Başkanlığı, YTB). Damit signalisierte sie: Nicht der deutsche Staat, wir kümmern uns um Euch! Diese Umarmungsstrategie trug ebenfalls zu einer Re-Ethnisierung bei. Push- und Pull-Faktoren wirkten zusammen.
Nicht zuletzt hat sich in den letzten zehn Jahren der Service in den Konsulaten verbessert und in sozio-kultureller Hinsicht hat eine Angleichung des dortigen Personals an das eher konservative Milieu der Türkeistämmigen im Ausland stattgefunden. Auch Frauen aus dem islamisch-konservativem Lager (so etwa mit Kopftuch) arbeiten nun in türkischen staatlichen Einrichtungen, was im früheren kemalistisch-säkularem System undenkbar war. Der Elitenwechsel in der Türkei von „laizistisch und kemalistisch“ zu „religiös-konservativ, islamisch-nationalistisch“ ist auch in Deutschland angekommen, und die Türkeistämmigen sehen sich nun selbst in den türkischen Behörden repräsentiert.
Faszination als Person: Erdoğans Interaktion mit seinen Anhängern
Wir in Europa haben unseren eigenen Blick auf Erdoğan: Er wird als Spalter und als eine Reizfigur gesehen: In Europa sind wir – idealtypisch - an einer sachlichen Politik orientiert, hinter der persönliche Eitelkeiten und Größenphantasien des einzelnen Politikers zurück zu treten haben. In der Türkei und von einer Vielzahl Türkeistämmiger wird Erdoğan jedoch gerade deshalb von seinen Anhängern geschätzt und verehrt, weil er Beharrlichkeit, Macht und Präsenz zeigt.
Erdoğan schafft es immer wieder, seine Anhänger mit einer stark emotionalisierten Ansprache und Protesthaltung für sich zu gewinnen. „Alle sind gegen die Türkei: wir müssen daher zusammenhalten“. Durch seine besondere Volksnähe, die Suggestion, „einer von uns“ zu sein sowie „aus armen Verhältnissen“ zu stammen, erreicht er auch die türkeistämmigen Migranten, die in der Regel selbst aus armen Verhältnissen kommen. Seine Sprache und Rhetorik sind einfach; für jeden verständlich und in binären Oppositionsstrukturen aufgebaut: Wir gegen die Anderen; Muslime gegen Christen; die Türkei gegen den Westen. Der Einzelne bedarf deshalb keiner Sachkenntnis, um sich zu positionieren, zu entscheiden und zu urteilen. Gedächtnispsychologische Untersuchungen zeigen, dass sich Menschen bei ihren Urteilen umso stärker von affektiven Einflüssen leiten lassen, umso weniger Detailinformationen sie zum Sachverhalt verfügen. Kulturvergleichende Untersuchungen sowie Studien im innerdeutschen Vergleich belegen, dass eine hohe Bildung mit geringeren Autoritarismuswerten korreliert und insbesondere von der gymnasialen Bildung ein liberalisierender Effekt ausgeht. Menschen, die über höhere kognitive Fähigkeiten verfügen, sind eher in der Lage gesellschaftliche Hintergründe differenzierter zu betrachten, politische Propaganda eher zu erkennen, und nicht einem „Schwarz-Weiß“-Schema zu verfallen. Laut einer empirischen Studie des türkischen Survey-Instituts KONDA (2017) liegt der Bildungsgrad der AKP-Wählerinnen und Wähler merklich unterhalb des türkischen Durchschnitts . Mit Blick auf Deutschland zeigt eine Studie aus dem Jahre 2016, dass türkeistämmige Jugendliche deutlich weniger über die politischen Verhältnisse in Deutschland wissen, als ihre Altersgenossen aus anderen ethnischen Gruppen. Das unterstreicht noch einmal den Stellenwert von allgemeiner und politischer Bildung.
Was tun und wie weiter?
Um den Einfluss und die Attraktivität autoritärer politischer Systeme und Persönlichkeiten insbesondere auf junge Menschen zu reduzieren, braucht es eine deutliche Intensivierung der politischen Bildung junger Zuwanderinnen und Zuwanderer. Ferner sind eine Stärkung der politischen Partizipation Türkeistämmiger sowie staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung bzw. der Abbau von Diskriminierung in der Bildungs- und Arbeitswelt zentral. Denn wenn Menschen das Gefühl haben „ausgegrenzt“ zu sein, erscheint es für sie psychologisch widersinnig, an der Wertewelt jener Gruppe teilzuhaben. Das lässt sich mit empirischen Daten des Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung belegen: Wenn Mitwirkungsmöglichkeiten höher eingeschätzt werden, werden auch höhere Zugehörigkeitsgefühle wahrgenommen. Mehr politische Partizipation könnte – neben einer stärkerer Berücksichtigung von Zuwandererinteressen – auch durch eine höhere Präsenz von Kandidaten mit Migrationshintergrund bei Wahlen erreicht werden: Hier haben eine Vielzahl von Studien in europäischen Ländern gezeigt, dass Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund Kandidatinnen und Kandidaten vorziehen, die ebenfalls eine Zuwanderungsgeschichte haben. Das sollte für politische Parteien einen Anreiz bilden, bei der Auswahl ihrer Spitzenkandidaten sensibler zu sein und neben dem Blick auf die Stammwähler auch die Offenheit der Partei für kulturelle Vielfalt vorantreiben.
Eine ausführlichere Version dieses Aufsatzes erscheint im Jahrbuch für Extremismus und Demokratie (2023), hrsg. von Uwe Backes et al. unter dem Titel „Abschaffung der Demokratie aus der demokratischen Komfortzone heraus?“.