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Wirtschaft in der Türkei | Türkei | bpb.de

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Wirtschaft in der Türkei Das ökonomische Chaos schafft Verlierer und Gewinner

Ozan Demircan

/ 10 Minuten zu lesen

Aktuell hat sich die türkische Lira zu einem gewissen Grad stabilisiert. Die Zinserhöhungen der Zentralbank sind jedoch hinter den Markterwartungen zurückgeblieben und die Inflation hat begonnen, sich wieder zu beschleunigen. (© picture-alliance, abaca | Depo Photos/ABACA)

Wenn man über „die Wirtschaft“ eines Landes spricht, können verschiedene Dinge im Vordergrund stehen. Die eine spricht vom Wirtschaftswachstum, der andere vom Exportüberschuss oder -defizit. Manche reden von Wirtschaftskrise und denken dabei an eine Währungskrise, andere wiederum an hohe Arbeitslosigkeit.

Es gibt zahlreiche Parameter, um die Volkswirtschaft eines Staates zu beurteilen, und nicht immer verlaufen sie in eine Richtung. Ein Beispiel: Wenn der Umrechnungskurs eines Landes fällt, die Währung also „schwächelt“, dann wird dies oft als negativer Faktor für Staat, Unternehmen und/oder Haushalte erachtet. De facto hilft eine schwache Währung allerdings exportorientierten Unternehmen.

Angenommen, Kirschen aus der Türkei kosten in der Produktion 50 Lira pro Kilo. Der Verkaufspreis der türkischen Kirschen im deutschen Supermarkt liegt bei umgerechnet 100 Lira pro Kilo. Bei einem Wechselkurs von 20 Lira pro Euro würden türkische Kirschen im Supermarkt folglich rund 5 Euro pro Kilogramm kosten.

Fällt der Wechselkurs auf 30 Lira pro Euro, kosten die Kirschen nur noch rund 3,33 Euro. Der türkische Produzent könnte den Verkaufspreis in Deutschland sogar auf 120 Lira pro Kilo anheben, dennoch wären die Kirschen für den deutschen Verbraucher mit umgerechnet 4 Euro pro Kilo immer noch günstiger, würden leichter Absatz finden und die Türkei könnte mehr Kirschen exportieren. Wenn eine Firma mehr exportiert, steigen die Erlöse. Und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen neue Mitarbeitende einstellt. Außerdem bescheren höhere Erlöse dem Staat höhere Steuereinnahmen. Und wenn die Beschäftigung steigt, gibt der Staat weniger Geld für Arbeitslosenhilfe aus.

Das klingt so, als würde eine schwache Währung allen nutzen, dem Staat, den Unternehmen und den Menschen im Land. Das ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite sorgt eine schwache Währung in der Regel für steigende Inflation. Dadurch verteuern sich Produkte und Dienstleistungen, und die Belegschaften fordern höhere Löhne und Gehälter.

Womit wir bei der Frage sind, wie sich die chaotischen Zustände bei der Währung, der Inflation und die politische Unsicherheit im Land sowie in der Region auf die Ökonomie der Türkei auswirken.

Das kurzlebige New-Economy-Modell der Regierung Erdoğan

Wenn man die türkische Volkswirtschaft in ihre drei Grundbestandteile aufteilt, nämlich die privaten Haushalte, die Unternehmen und den Staat, dann fällt auf, dass ab 2021 vor allem die Unternehmen und der Staat profitierten. Die Corona-Pandemie hatte die Wirtschaft stark beeinträchtigt. Das Wachstum musste künstlich angekurbelt werden, während die Inflation anstieg. 2021 wurde ein Wirtschaftsprogramm eingeführt, das als „neues Wirtschaftsmodell“ (Türkisch „Yeni Ekonomi Modeli“) bekannt wurde. Sein Hauptziel bestand darin, die Zinsen zu senken, Exportfirmen günstige Finanzierung bereitzustellen, und dadurch die Exporte zu erhöhen, ganz ähnlich, wie in dem obigen Kirschen-Beispiel beschrieben.

Die Lage der privaten Haushalte wurden kaum bedacht. Wegen der gestiegenen Inflation wurde Vieles teurer, während Mindestlohn und Gehälter im Jahr 2022 nur moderat angestiegen waren. Zwischen 2021 und 2023 senkte die Zentralbank der Türkei (Türkiye Cumhuriyet Merkez Bankası, TCMB) den Leitzins von 19 auf 8,5 Prozent. Das machte Anlagen ausländischer Investoren in die Lira unattraktiv und entsprechend verschlechterte sich der Wechselkurs der Lira zum Euro und zum Dollar. Die Reserven der Zentralbank gingen im selben Zeitraum stark zurück. Vor den Wahlen kurbelte die Regierung außerdem mit staatlichen Anreizen die Produktion und die private Nachfrage an. Diese lockere Finanzpolitik führte zu einer hohen Inflation von bis zu 85,5 Prozent und einem hohen Handelsdefizit.

Wie vor allem Unternehmen von dieser Politik profitiert haben, zeigt das Beispiel der Hacı Ömer Sabancı Holding A.Ş., kurz Sabancı Holding. Dieses 1967 in Adana gegründete Konglomerat ist nach der Koç Holding die zweitgrößte Industrie- und Finanzgruppe in der Türkei und befindet sich zu 78 Prozent im Besitz der Familie Sabancı.

Die Holding kontrolliert insgesamt 65 Unternehmen aus den unterschiedlichsten Branchen. Viele von ihnen sind nationale Marktführer. Die Gruppe hat 45.000 Mitarbeitende und ist in elf Ländern tätig. Zwölf Tochterunternehmen sind an der Istanbuler Börse notiert. Die Sabancı Holding hält Beteiligungen in Industriezweigen wie Automobil, Hoch- und Tiefbau, Energie, Lebensmittel, Versicherungen, Digitalisierung, Textilien, Reifen und Tabakwaren. Die Holding betreibt darüber hinaus zehn lokale Joint Ventures mit den Unternehmen Bridgestone, Toyota, Kraft, Bekaert, Heidelberg Cement, Carrefour, Dia, Hilton, Mitsubishi Motors, International Paper und Philip Morris. Kurzum, ihre Unternehmen bilden einen guten Querschnitt der türkischen Volkswirtschaft.

Ende 2022 beschäftigte die Holding 67.365 Mitarbeitende, was einen Zuwachs von 3.000 Angestellten im Jahr 2022 bedeutet. Dabei war 2022 der Mindestlohn um das Doppelte angestiegen, was eine Anpassung auch der höheren Gehälter mit sich brachte. Trotzdem fiel für die Holding der Anteil der Personalausgaben um rund 4,1 Prozent auf 3,22 Prozent. Mit anderen Worten: Obwohl die Holding die Anzahl ihrer Beschäftigten im Jahr 2022 deutlich erhöhte und diesen Mitarbeitenden auch noch deutlich höhere Löhne und Gehälter zahlte, gab sie gemessen am Gesamtumsatz im Jahr 2022 weniger für Personal aus als im Jahr zuvor – und das trotz Rekordinflation. Und diese Entwicklung ging nicht zulasten der Profitabilität der Holding: Ihre Nettoumsatzrendite stieg von knapp 24 Prozent im Jahr 2021 auf über 35 Prozent ein Jahr später. Die Sabancı Holding hätte die Löhne und Gehälter noch ein weiteres Mal verdoppeln können und wäre immer noch gut weggekommen.

Somit ist offensichtlich, wer von dem New-Economy-Modell profitiert hat und wer nicht. Die Holding freute sich über einen Rekordgewinn. Der Staat freute sich angesichts hoher Inflation und gestiegener Preise über höhere Steuereinnahmen. Und Aktionäre der Holding konnten sich über einen Anstieg des Aktienkurses von rund 190 Prozent im Kalenderjahr 2022 freuen. Mitarbeitende erhielten zwar höhere Löhne und Gehälter, profitierten jedoch nicht so stark von der positiven Entwicklung der Holding wie die Inhaber von Aktien und Beteiligungen.

Die Bevölkerung wurde unterdessen mit fragwürdigen Methoden bei Laune gehalten: Wer seine Ersparnisse in Türkische Lira - und nicht in Dollar oder Euro - anlegte, dem wurde ein ähnlich hoher Zinsertrag wie bei der Anlage in Devisen garantiert. Damit sollte verhindert werden, dass Türkinnen und Türken ihre Ersparnisse in Euro oder Dollar anlegen und die Lira aufgrund sinkender Nachfrage noch weiter fällt.

Die Strategie hätte erfolgreich sein können, wenn die Weltwirtschaft floriert hätte. Doch die Folgen des Ukrainekriegs, insbesondere weltweit stark steigende Energiekosten sorgten ab dem 4. Quartal 2022 für einen Rückgang des globalen Wachstums. Dies ließ auch die türkischen Exporte schrumpfen. Der globale Rückgang der Nachfrage und die einheimische Wirtschaftspolitik als Wahlkampfmittel der Regierung besiegelten das Schicksal der export- und investitionsorientierte Wachstumspolitik des New-Economic-Modells.

Wahlkampf: Förderung der Konsumlaune auf Kosten des Steuerzahlers

Bereits ein Jahr nach Einführung des New-Economy-Modells vollführte die Regierung Erdoğan eine 180-Grad-Wende. Zu Beginn des Wahlkampfs der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 14. und 28. Mai 2023 rückte die Regierung die Wählerinnen und Wähler in den Brennpunkt der Wirtschaftspolitik. Jetzt ging es darum, die Bevölkerung bei Laune zu halten – erst recht nach den verheerenden Erdbeben vom Februar 2023, die mehr als 50.000 Menschenleben forderten.

Ein wichtiges Ziel im Wahlkampf war es daher, den Wechselkurs stabil zu halten. Der schwache Lirakurs hatte den Firmen geholfen, ihre Umsätze zu steigern. Jetzt sollte eine stabile Lira den Menschen im Land beim Konsum helfen. Während des Wahlkampfes, ab Oktober 2022 bis ins Frühjahr 2023, vermochte es die Regierung, den Wechselkurs der Lira relativ stabil zu halten. So stieg der Lirapreis für einen Dollar vom Oktober 2022 bis zum 26. Mai 2023 nur von 18,60 Lira auf 19,97 Lira. In den sieben Monaten davor hatte der Wertverlust der Lira noch bei 30 Prozent gelegen.

Erreicht wurde diese Stabilität der Lira dadurch, dass die türkischen Staatsbanken in großem Stil Anleihen von Unternehmen aufkauften und die Türkische Zentralbank massiv in den Devisenmarkt eingriff, indem sie US-Dollar verkaufte. Die Lira verlor nicht weiter an Wert, und Türkinnen und Türken konnten sich Importprodukte wie iPhones oder ausländische Autos leisten und Auslandsreisen antreten.

Die Berechnung der sogenannten Kaufkraft belegt dies. Dieser Begriff beschreibt, wie lange ein Konsument arbeiten muss, um sich ein bestimmtes Produkt zu leisten, und bildet damit ein gutes Maß für den Wohlstand der Bevölkerung. Ende 2021 musste ein Konsument, beispielhaft, das Äquivalent von 14,8 monatlichen Mindestlöhnen sparen, um sich ein iPhone 13 Pro Max kaufen zu können. Ein Jahr später, als die Wirtschaftspolitik auf Konsumlaune und Kaufkraft ausgerichtet wurde, reichten rund 11 monatliche Mindestlöhne aus, um sich das Folgemodell iPhone 14 Pro Max leisten zu können – und das, obwohl das Folgemodell in Lira sogar leicht teurer gewesen war.

Während also zuvor die Wirtschaftspolitik vor allem auf gute Bedingungen für die Unternehmen und den Staat abzielte, stand während des Wahlkampfes die Lage der Bevölkerung im Mittelpunkt. Entsprechend beruhte der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Türkei in dieser Zeitspanne eher auf dem Konsum der privaten Haushalte als auf einer Zunahme der Exporte. Die zwei Jahre oder acht Quartale vorher hatten vor allem die Exporte einen positiven Beitrag zum Anstieg des BIP geleistet.

All diese Manöver in der Wirtschaftspolitik gingen auf Kosten der finanziellen Disziplin des Staatshaushalts. Privatpersonen finanzierten ihr neues Smartphone oder andere Produkte mit Krediten, hinzu kamen zudem noch die Kosten für das alltägliche Leben, etwa für die Mietwohnung, Lebensmittel sowie Energie und Treibstoffe. Und auch der Staat verschuldete sich immer stärker, um seine Steuergeschenke zu finanzieren. In Lira gerechnet sind die Budgetausgaben des Staates allein im ersten Halbjahr 2023 um 102 Prozent angestiegen. Bis zum Wahlmonat Mai gab die türkische Volkswirtschaft viel mehr aus, als sie einnahm.

Nach den Wahlen: Schritte zur Normalisierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik

Am Ende gewann der Amtsinhaber, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, die Stichwahl um die Präsidentschaft am 28. Mai. Die Volkswirtschaft stand jedoch so schlecht da wie selten zuvor. Die Inflation war auf bis zu 85,5 Prozent gestiegen, die Reserven der Zentralbank waren beinahe komplett abgeschmolzen. Investoren zogen ihre Gelder ab, weil das Vertrauen in das Land und seine Wirtschaftsführung stark gesunken war. Es musste eine Kehrtwende her.

Und so ernannte der Staatspräsident Mehmet Şimşek zum Finanzminister. In der Finanzwelt ist er nicht unbekannt, hat er doch zu Beginn seiner Karriere unter anderem in der Wirtschaftsabteilung der US-Botschaft gearbeitet und später unter anderem bei den Großbanken Merrill Lynch sowie bei der Deutschen Bank. Şimşek hatte außerdem bereits zwischen 2007 und 2018 unter Erdoğan verschiedene Ministerposten inne, darunter den des Finanzministers, und genießt in der internationalen Finanzwelt hohes Ansehen.

Bei der Zeremonie zur erneuten Übernahme des Finanzministeriums sagte Şimşek, die Türkei habe keine andere Wahl, als zur wirtschaftlichen Vernunft zurückzukehren. Transparenz und Vorhersehbarkeit wirtschaftlicher Entscheidungen und die Einhaltung internationaler Normen seien zentrale Bedingungen für die Steigerung des Wohlstands. Şimşek bemüht sich, erneut ausländische Investoren ins Land zu locken und er will der Inflation mit größerer Haushaltsdisziplin begegnen.

Auch an der Spitze der Zentralbank kam es zu einem Wechsel. Die neue Präsidentin der Bank, Hafize Gaye Erkan, war vorher in leitenden Positionen bei US-amerikanischen Banken tätig. Mittlerweile ist es ihr gelungen, in der Zentralbank ihr eigenes Team aufzustellen. Dass der ehemaliger Entwicklungsminister Cevdet Yılmaz zum Vizepräsidenten ernannt worden ist, gilt als weiteres Zeichen dafür, dass die Türkei Schritt für Schritt zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik zurückkehrt.

Ausblick

Die neuen Leute an den Schaltstellen der türkischen Wirtschaft stehen vor einer großen Aufgabe: Die Währung des Landes muss sich dringend stabilisieren. Im Jahr 2013 kostete ein Volkswagen Polo laut offizieller Preisliste 63.900 Türkische Lira. Zehn Jahre später bekommt man für dieselbe Summe gerade mal ein Smartphone. Was absurd klingt, hat einen unglaublichen Effekt auf die Psychologie der Konsumenten: Viele kaufen, wie bereits früher in Phasen hoher Inflation, Gold oder investieren in Immobilien, in der Hoffnung, dass sie damit ihr Erspartes langfristig sinnvoll anlegen können. Das führte zu einer Immobilienblase, in der nicht nur die Grundstückspreise innerhalb weniger Jahre teils um das Zehnfache anstiegen. Außerdem gingen viele Türkinnen und Türken das Risiko ein, illegal auf Grundstücken ohne Baugenehmigung zu bauen, um sich anschließend durch Vermietung oder Verkauf ein Nebeneinkommen zu generieren.

Tatsächlich ist der Weg zur Stabilisierung der Wirtschaft noch weit. Trotz des neuen Teams in der Wirtschaftspolitik ist der Kapitalzufluss aus dem Ausland immer noch relativ schwach. Die Zahl der Arbeitslosen ist zwar relativ stabil, mit 9,6 Prozent aber immer noch vergleichsweise hoch. Die Jugendarbeitslosenquote stieg im Juni von 17,4 auf 18,6 Prozent. Die Erwerbsquote der Frauen sank von 36,40 Prozent im November vergangenen Jahres auf 35 Prozent im Juni 2023.

Die bisher getroffenen Maßnahmen des neuen Finanzministers könnten die Lage erst einmal verschlimmern, bevor es wieder aufwärts geht. Im Juni 2023 wurden die Kreditbedingungen verschärft und es kam zu Steuererhöhungen. Das erhöhte die Betriebskosten der Unternehmen. Gleichzeitig gingen die Exporte zurück, so dass sich die Wirtschaftstätigkeit insgesamt verlangsamte. Auf Jahresbasis schrumpfte die Produktion gleich in zehn Sektoren. Am schlimmsten traf es den Textilsektor, einer der wichtigsten exportorientierten Sektoren, mit einem Rückgang von 13,4 Prozent. Der Sektor ist besonders wichtig für die türkische Wirtschaft. 1,5 Millionen Menschen arbeiten dort, das entspricht rund sechs Prozent aller sozialversicherungspflichten Beschäftigten im Land. Im Jahr 2022 hat das Land Textilien und Bekleidung im Wert von umgerechnet 30 Milliarden US-Dollar exportiert. Dies entspricht nach Angaben der türkisch-deutschen Industrie- und Handelskammer in Istanbul rund einem Viertel der verarbeitenden Industrie im Land. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung hat also konkrete negative Auswirkungen auf einen der wichtigsten Wirtschaftssektoren der Türkei.

Die türkische Lira hat sich bis zu einem gewissen Grad stabilisiert. Die Zinserhöhungen der Zentralbank sind jedoch hinter den Markterwartungen zurückgeblieben, und die Inflation hat begonnen, sich wieder zu beschleunigen. Experten der Commerzbank rechnen damit, dass die Lira weiter an Wert verliert und warnen vor einer Inflations-Abwertungs-Spirale.

Wenn die Inflation wieder ansteigt, wird der Wechselkurs der Lira weiter fallen. Die türkische Volkswirtschaft stünde dann vor den wichtigen Kommunalwahlen im März 2024 wieder genau da, wo sie kurz nach den Präsidentschaftswahlen gestanden hatte – mit denselben Schwächen und vor denselben Herausforderungen.

In seiner Ansprache nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl hat Staatschef Erdoğan seiner Partei einen ähnlichen Erfolg bei den Kommunalwahlen im nächsten Jahr als Ziel vorgegeben. Bei den Wahlen im Mai 2023 hatte ihm auch die Konsumlaune der Wählerinnen und Wähler zum Sieg verholfen. Aktuell scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Es bleibt daher abzuwarten, wie lange Erdoğan seinem neuen Wirtschaftsminister Zeit gibt, die Finanzen in Ordnung zu bringen. Gut möglich, dass Erdoğan schon bald wieder die rationale Haushaltsdisziplin opfert, um die Wählerinnen und Wähler erneut auf seine Seite zu ziehen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Ozan Demircan arbeitet als Korrespondent für die deutsche Tageszeitung Handelsblatt in Istanbul. Er studierte Volkswirtschaft an der Universität Köln und hat zeitgleich eine vierjährige Ausbildung an der verlagsunabhängigen Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft absolviert.