Der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, Adalet ve Kalkınma Partisi (
Präsidentschaftswahl: kein glanzvoller Sieg für Erdoğan
Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 konnte sich Erdoğan noch mit 52,59 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang gegen seine damaligen Kontrahenten Muharrem İnce (CHP, 30,64 Prozent), Selahattin Demirtaş (Halkların Demokratik Partisi,
Kein glanzvoller Sieg für einen Autokraten, der die Türkei mit eiserner Hand, größtenteils vorbei am Parlament regiert, die Medien und Justiz kontrolliert, die Oppositionelle im Gefängnis hält und potenzielle Herausforderer mit Strafverfahren kaltstellt. Von einem fairen Wahlkampf kann auch nicht die Rede sein. In den öffentlichen Sendern hatten die Kandidaten des Regierungsblocks deutlich mehr Präsenz als die Oppositionspolitiker. Während Erdoğans Kundgebungen live ausgestrahlt wurden, konnte die Opposition die Bevölkerung nur über die sozialen Medien erreichen.
Zahlreiche Berichte über Vorkommnisse bei der Stimmabgabe nähren den Zweifel an der Korrektheit des Wahlergebnisses, die einer Aufarbeitung warten. Dass beispielsweise die ersten von der staatlichen Nachrichtenagentur bekanntgegebenen Zahlen sich von den Zahlen in der späten Nacht gänzlich unterschieden, wird von der Opposition als eine gezielte Manipulationstaktik angesehen, um die Wahlhelferinnen und Wahlhelfer der Oppositionsparteien in den Wahllokalen zu demoralisieren und zu erreichen, dass möglichst viele die Wahllokale vorzeitig verlassen.
Dass nun in den Reihen der Opposition Enttäuschung und teilweise Resignation herrscht, liegt an dem Optimismus vor der Wahl, die schon zwei Jahrzehnte dauernde Regentschaft Erdoğans beenden und einen grundlegenden Politikwechsel herbeiführen zu können. In den meisten Wahlumfragen lag der Oppositionsführer Kılıçdaroğlu vor Erdoğan, der nun für viele überraschend hinter den Erwartungen lag.
Klare Mehrheitsverhältnisse im Parlament
Bei den Parlamentswahlen konnte Erdoğans Cumhur İttifakı (Volksallianz) mit etwa 320 von 600 Sitzen die Parlamentsmehrmehrheit für sich absichern – wenngleich die AKP erstmals seit 2002 auf 35,61 Prozent abrutschte. Obwohl sie auf ihre Liste Kandidaten der kurdisch-islamistischen Hür Dava Partisi (
Trotz des Präsidialsystems ist die Parlamentsmehrheit nicht belanglos: die Nationalversammlung erlässt und ändert Gesetze, hebt diese auf, verabschiedet den Haushalt, entscheidet über Kriegserklärung und Auslandseinsätze und ratifiziert völkerrechtliche Verträge. Mit einer Zweidrittelmehrheit kann sie sich selbst auflösen und damit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ansetzen.
Wenn auch unwahrscheinlich, würde ein Wahlsieg von Kılıçdaroğlu ein sehr hohes Maß an Mobilisierung seiner Wähler, Einigkeit und Geschick erfordern – fraglich ist, ob die Opposition noch die Kraft dazu hat. Inwieweit die konservativ-islamischen Juniorparteien seiner Millet İttifakı (Allianz der Nation) bei der Stichwahl am Sonntag ihre Basis mobilisieren werden, bleibt abzuwarten. Schließlich haben diese Parteien mit dem Einzug ins Parlament ihr Ziel erreicht.
Ohne die Parlamentsmehrheit kann Kılıçdaroğlu, sollte er sich gegen Erdoğan durchsetzen, die versprochene Rückkehr zur parlamentarischen Regierungsform jedoch nicht realisieren – dafür wäre eine Dreiviertelmehrheit oder ein Referendum notwendig.
Das bestehende Präsidialsystem erlaubt dem künftigen Präsidenten auch ohne Mehrheit im Parlament zu regieren, denn das Parlament hat – zugunsten der Exekutive – an Macht verloren: Für die Ernennung der Regierung und des Kabinetts braucht es keine Zustimmung des Parlaments. Auch kann der Staatspräsident per Dekrete mit Gesetzeskraft regieren und - durch seinen Rücktritt - Neuwahlen herbeiführen. Eine derartige mögliche politische Konstellation versucht der Regierungsblock als Unstabilitätsfaktor zu diskreditieren.
Vier Faktoren der Wahlergebnisse
Was sind die Gründe dafür, dass sich der Regierungsblock trotz der schwächelnden Wirtschaft und Führungsschwäche die Parlamentsmehrheit absichern und Präsident Erdoğan sich eine günstige Ausgangslage für die Stichwahl schaffen konnten? Vier Faktoren verdienen eine nähere Betrachtung.
Faktor Wirtschaft: Der Regierung ist es gelungen, die Wirtschaftskrise durch mediale Inszenierungen von Prestigeprojekten wie etwa die Eröffnung des ersten Atomkraftwerks der Türkei, die Markteinführung des ersten türkischen Elektroautos oder durch den Erdgasfund im Schwarzen Meer im Wahlkampf zu überlagern. Im Mittelpunkt der Wahlkampagne der Volksallianz stand Modernisierungs- und Wohlstandsversprechen. Gekonnt pflegte Erdoğan das Narrativ, dass seine Regierung und die Türkei Zielscheibe eines versteckten Wirtschaftskrieges sei. Die Wohlstandsverluste der letzten Jahre entschärfte er zudem mit großzügigen Wahlgeschenken, wie etwa die Anhebung des Mindestlohns und der Renten, die Erhöhung der Gehälter für Staatsbedienstete sowie kostenlosen Erdgas für private Haushalte im gesamten Monat Mai. Im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte hat die AKP-Regierung mit wirtschaftlicher Begünstigung, sozialen Transfers und Klientelismus große Bevölkerungsteile in ihre Abhängigkeit gebracht. Diese mussten und müssen befürchten, dass mit einem Machtwechsel dieses Netz an Begünstigung zusammenbricht.
Faktor Identitätspolitik und Lagerdenken: Zusammenschluss von links-säkularen, nationalen und konservativ-islamischen Parteien zu einem Wahlbündnis – Allianz der Nation – hat Hoffnungen auf Überwindung des Lagerdenkens geweckt. Die Erwartung, die Wirtschaftskrise würde dazu führen, dass die Konturen politischer Lager weicher werden, sodass mehr Wechsel zwischen Parteien unterschiedlicher politische Ausrichtung möglich ist, hat sich ebenfalls nicht realisiert. Das Lagerdenken und der Faktor Identität haben sich als viel resilienter erwiesen, als angenommen wurde, und bewirkt, dass Wähler trotz Wirtschaftskrise und Führungsschwäche sich nicht von Erdoğan abwandten.
Dazu beigetragen hat Erdoğans bewährte Strategie der Dämonisierung, Polarisierung und Stigmatisierung der Opposition. Immer wieder rückte er das Oppositionsbündnis und seinen Kandidaten Kılıçdaroğlu in die Nähe von Terrororganisationen. Auf Großkundgebungen attackierte er Kılıçdaroğlu, spielte auf seine alevitische Zugehörigkeit an und diffamierte ihn als „Agenten des Westens“. Er sprach von „Handlanger der Gülen-Bewegung“, da etwa das Bündnis versprach, politische Gefangene freizulassen oder titulierte Kılıçdaroğlu als „Bündnispartner der PKK“, da er auch von der HDP unterstützt wurde.
Faktor Nationalismus: Die Wahlergebnisse zeigen, dass der türkische Nationalismus sich im Aufwind befindet. Erdoğan appellierte gekonnt an den türkischen „Nationalstolz“, indem er beispielsweise im April den ersten türkischen Flugzeugträger präsentierte oder die militärische Stärke unterstrich. Der Präsident verband sein Modernisierungs- und Wohlstandsversprechen mit Demonstration nationaler Größe, in dem er sich als mächtigen Staatsmann, Schlichter internationaler Konflikte – Beispiel: Getreideabkommen zwischen Ukraine und Russland – und Anwalt nationaler Interessen - Beispiel: Veto beim Nato-Beitritt Schwedens - auf dem internationalen Parkett inszenierte.
Faktor politische Kohäsion: Dem Oppositionsblock ist es nicht gelungen, die Wähler jenseits oppositioneller Milieus davon zu überzeugen, dass auch im Falle eines Regierungswechsels Sicherheit und Stabilität gesichert wären. Verstimmungen und Differenzen zwischen Präsidentschaftskandidaten Kılıçdaroğlu und Meral Akşener, der Vorsitzenden der Guten Partei, haben zusätzlich Zweifel hinsichtlich der Geschlossenheit des Wahlbündnisses aufkommen lassen. Der Regierungsblock – soziopolitisch und ideologisch kohärenter als die Opposition – konnte sich geschickt als Garanten der Kontinuität und Stabilität inszenieren.
Das Stimmverhalten der Deutsch-Türken
Eindeutiger war das Wahlergebnis bei den Auslandstürken. Von den 1,83 Millionen gültigen Stimmen fielen 57,47 Prozent – 1,04 Millionen Stimmen – auf Erdoğan. Die 1,83 Millionen gültigen Stimmen im Ausland macht einen Anteil von 3,28 Prozent der gesamten gültigen Stimmen dieser Wahl aus. In Deutschland konnte er sogar 65,49 Prozent (475.593 Stimmen), seine Volksallianz 65,09 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Die Allianz der Nation blieb bei 22,07, die linke Allianz für Arbeit und Freiheit bei 10,61 Prozent der Stimmen.
Bei einer Wahlbeteiligung von 48,73 Prozent wählten in Deutschland 733.216 Personen. Die niedrige Wahlbeteiligung im Vergleich zur Türkei lässt sich u.a. mit den langen Anfahrten zu den Wahllokalen und Wartezeiten bei der Stimmabgabe erklären.
Wie ist das Stimmverhalten der Deutsch-Türken einzuordnen?
Eine Erklärung für den Wahlerfolg Erdoğans wäre u.a. der Amtsbonus – der Staatspräsident ist dank türkischer Medien im Alltag der Deutschtürken präsenter als seine Herausforderer und gilt aufgrund seiner zwei Jahrzehnte währenden Amtszeit als erfahrener und „kampferprobter“ Staatsmann. Währenddessen war Kılıçdaroğlu für die meisten Auslandstürken eher ein Unbekannter, der seit Beginn seiner politischen Karriere nur in der Opposition war und keine Exekutiverfahrungen in verantwortlichen Positionen innehatte. Hinzu kommt, dass die Deutschtürken beispielsweise die infrastrukturelle Modernisierung in der Türkei als Erdoğans alleiniges Verdienst ansehen, während sie etwa von den Folgen der Wirtschaftsmisere oder politischer Verfolgung nicht betroffen sind.
Wie weiter mit der Türkei?
Im Falle eines Wahlsiegs für Erdoğan, was wahrscheinlich ist, ist weder in der Innen- noch in der Außenpolitik eine Wende zu erwarten. Zu befürchten ist, dass die Türkei vollends in die Autokratie abgleitet und der entfachte Nationalismus das Verhältnis zum Westen weiter belastet. Was wiederum die ausländischen Investoren und Anleger abschrecken dürfte, auf die Erdoğan angewiesen ist, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen und das Erdbebengebiet aufzubauen. Experten zufolge steht die türkische Wirtschaft vor großen Herausforderungen: die Devisenreserven sind nahezu aufgebraucht und die Staatsausgaben enorm ausgeweitet. Kehrt Erdoğan zu einer Wirtschaftspolitik mit strikter Haushaltsdisziplin und Zinserhöhung zurück, wird er möglicherweise sein Klientelnetzwerk und Anhängerschaft verlieren.