Ukraine: Anfangseuphorie ist verflogen
Die Ukraine hat in der Türkei zunächst einen eindeutigen Unterstützer gesehen. Als im Oktober 2017 – der ukrainische Präsident hieß damals noch Petro Poroschenko – die Krimtataren Achtem Chijgoz und Ilmi Umerow aus der russischen Haft freigelassen wurden, bedankten diese sich sofort bei ihrer Ankunft bei Recep Tayyip Erdoğan für dessen Einsatz. Und Präsidentschaftskandidat Wolodymyr Selenskyj hatte bereits vor seiner Wahl demonstrativ die Türkei besucht. Das Wort „Bayraktar“, Bezeichnung für eine von der Türkei an die Ukraine gelieferte Drohne, zierte auch nach dem 24. Februar 2022 viele T-Shirts in der Ukraine.
Wenige Monate später wich die Türkei-Euphorie einer gewissen Ernüchterung und einem anschließenden Pragmatismus. In Gesprächen auf der Straße spürt man die Enttäuschung darüber, dass Erdoğan nicht bei den Sanktionen gegen Russland mitmacht, er immer wieder mit einer anti-westlichen Rhetorik von sich reden macht, er weiterhin gute Beziehungen zu Putin pflegt, die Türkei ihre wirtschaftlichen Beziehungen und ihre Energie-Partnerschaft mit Russland vertieft. Auch in den ukrainischen Medien spiegelt sich diese Ernüchterung wider – beispielhaft dafür die Meldung am 8. Mai 2023, dass Erdoğans Pressesprecher Ibrahim Kalin im türkischen Fernsehen erklärt habe, dass er nicht an einen ukrainischen Sieg im Krieg mit Russland glaube.
Wofür steht die türkische Opposition?
Entsprechend wird der Wahlkampf in der Türkei mit Spannung beobachtet. Während man weiß, was eine Außenpolitik unter Erdoğan für die Ukraine bedeutet, werfen die unklaren außenpolitischen Vorstellungen der türkischen Opposition Fragen auf. In einem Gespräch mit der Ukrajinska Prawda geht Iliya Kusa vom Ukrainian Institute for the Future davon aus, dass die Opposition, sollte sie die Macht erlangen, anti-westliche Rhetorik vermeiden wird und sich noch stärker an Nato, EU und USA orientieren wird.
Die große Unbekannte bei der Opposition, so Kusa, sei deren unklares außenpolitisches Konzept. Doch ihr Verhalten in der Vergangenheit deute, so Kusa, darauf hin, dass das Lavieren im Verhältnis zur Ukraine und Russland zwischen beiden Ländern weitergehen werde. Auch in anderen Themen sei mit einem „Weiter so“ zu rechnen. Schließlich habe die Opposition die drei türkischen Militärinterventionen in Syrien gegen die Kurden genauso mitgetragen wie den pro-aserbaidschanischen Kurs des Landes im Karabach-Konflikt und dessen Zypern-Politik.
Auch Alexandra Chartschenko von strana.news geht davon aus, dass sich wohl nicht viel ändern wird, sollte der Kandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, an die Macht kommen. „Bisher deuten die Äußerungen des Oppositionsführers und seiner Mitarbeiter darauf hin, dass sich die Politik gegenüber dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland nicht grundlegend ändern wird“, so Chartschenko. Es könne jedoch auch anders kommen, sollte Kılıçdaroğlu tatsächlich die Wahl gewinnen. „Sein Wunsch, die Beziehungen zum Westen wiederherzustellen, könnte die neuen Machthaber dazu veranlassen, ihre Distanz zu Moskau zu vergrößern. Zum Beispiel, indem sie sich einigen Sanktionen gegen Russland anschließen oder damit beginnen, die Ukraine aktiver mit Waffen zu versorgen.“
Demgegenüber ist sich Osman Paschajew vom Portal ua.south nicht sicher, dass eine neue türkische Regierung die türkischen Beziehungen zum Westen verbessern will. Schließlich habe ausgerechnet die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei CHP, gute Beziehungen zu Russland, dem Iran und China.
In der Ukraine sieht man, dass Erdoğan angeschlagen ist. Das Erdbeben, die hohe Inflation, eine geeinte Opposition, sein Gesundheitszustand nagen an dessen politischer Zukunft. Natürlich müsse die Ukraine weiterhin freundschaftliche Beziehungen zur Türkei aufrechterhalten, meint der bekannte und der Selenskyj-Regierung nahestehende Politologe Wolodymyr Fesenko. „Wir dürfen aber unsere partnerschaftlichen Beziehungen nicht auf Erdoğan personalisieren", so Fesenko auf dem Portal Podrobnosti.ua.
Russland: Die Bedeutung der Türkei ist allen bewusst
Auch in Russland ist man sich der regionalen Bedeutung der Türkei bewusst. Sowohl die staatstragend-kremltreuen als auch die kritisch-oppositionellen Medien sehen aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine und aufgrund des westlichen Sanktionsregimes eine besondere Rolle der Türkei. Kirill Martynow, Chefredakteur der Nowaja Gazeta Ewropa, bezeichnet die Türkei in seinem Video-Blog als „wichtigsten internationalen Hub für Russland“
Zugleich sehen russische Kommentatoren in der Türkei durchaus einen ewigen Konkurrenten: Seit 1568 habe man zwölf Mal gegeneinander Krieg geführt, wobei sich bis heute die Interessensphären der beiden Ex-Imperien überlappen würden, so der in Exilmedien omnipräsente Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew.
Andererseits haben beide Länder unter ihren Langzeitherrschern Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan einen frappanten Gleichklang in Ideologie, Herrschaftsstil und geopolitischer Positionierung entwickelt, die beide Regimes trotz ihrer Konkurrenz fast automatisch zu Alliierten macht: Erdoğan „vertritt offen die Priorität der Souveränität, er kritisiert die westliche Hegemonie und unterstützt das Projekt einer multipolaren Welt“, erklärte bereits im März 2023 der als Kreml-Vordenker berühmt-berüchtigte Philosoph Alexander Dugin in einem Artikel auf der Webseite katehon.com seines Zargrad-Instituts. Ankaras Blockadehaltung gegen die Nato-Norderweiterung sowie seine konziliante Haltung gegenüber Russland sei dem Westen ein Dorn im Auge, weshalb dieser Erdoğan „um jeden Preis beseitigen“ wolle, schreibt Dugin: „Wenn dies 2016 bei dem Staatsstreich nicht gelang, dann eben 2023 bei den Wahlen.“
Angesichts dieses Pro-Erdoğan-Eifers in den russischen Medien haben es leisere Stimmen schwer, gehört zu werden. So etwa die Vorwahl-Analyse des Wirtschaftsportals Banki Segodnja, wonach auch Kemal Kılıçdaroğlu keine eindeutig antirussische Haltung habe: Nicht nur, dass er 2015 nach dem Externer Link: Abschuss eines russischen Jagdbombers Erdoğan scharf kritisiert habe – der Kandidat des Oppositionsbündnisses „fordert seit langem die Anerkennung der Legitimität von Syriens Präsident Assad, was für Russland auch wichtig ist“. Im Falle seiner Wahl würde sich die auf Eigeninteressen fokussierte Russland-Politik der Türkei gar nicht grundlegend ändern, heißt es in dem Artikel. Denn eine Haltung sei für alle Türken charakteristisch: „Sie interessieren sich mehr für innere Angelegenheiten als für Außenpolitik.“
Kreml-treue Medien wünschen sich Erdoğans Sieg
Der türkische Wahlkampf wurde in den russischen Medien lange ignoriert. Bezeichnend hierfür war ein Artikel des Webportals gazeta.ru von Anfang Mai, der einzig die Frage erörterte, ob eventuelle Auseinandersetzungen die Sicherheit russischer Touristen gefährden könnten – die Antwort lautete: nein.
Dugin gab in seinem Text die Position der russischen Staatsmedien vor: Erdoğan sei zwar ein schwieriger Partner, aber ideologisch wie geostrategisch de facto ein Verbündeter Moskaus – dessen Sieg deshalb absolut wünschenswert sei. Und im Umkehrschluss: Wenn Erdoğan scheitere, sei dies Folge eines westlichen Komplotts – und schlecht für Russland.
Nichtstaatliche Medien versuchen hingegen, die Wahlen nüchtern zu betrachten: Das Nachrichtenportal news.ru hält eine Niederlage Erdoğans gegen den „türkischen Ghandi“ Kılıçdaroğlu zwar auch für „undenkbar“. Aber es begründet dies mit Erdoğans Autorität und der fehlenden Transparenz des Wahlprozesses: „Selbst im Falle einer Wahlniederlage werden loyale Richter und Beamte der Opposition den Sieg verwehren und versuchen, die Ergebnisse zu annullieren.“
Kirill Martynow, Chefredakteur der Nowaja Gazeta Ewropa, hält dagegen, denn in der Türkei würden Wahlergebnisse noch nicht so verfälscht wie in Russland: „Die Türken können versuchen, Erdoğan in diesen Wahlen abzusetzen“, meint er optimistisch.
Das Wirtschaftsportal Banki Segodnja spricht in der oben erwähnten Vorwahlanalyse von einem Kopf-an-Kopf-Rennen, das vor allem in einem eventuellen zweiten Wahlgang nicht mehr prognostizierbar sei: „Denn im zweiten Durchgang können sich die Stimmen für die ausgeschiedenen Bewerber völlig unvorhersehbar verteilen. Faktisch stimmen die Leute dann nicht mehr ‚für‘ ihren Kandidaten, sondern ‚gegen‘ jenen, den sie nicht unterstützen.“