In diesem Kontext ist auch die Drohung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Richtung Griechenland Anfang September 2022 zu verstehen: "Eines Nachts können wir kommen"
Angst, alleine da zu stehen
Umfrageergebnisse
Auch die griechische Politik teilte diese Sorgen und befürchtete, dass der türkische Präsident kurz vor den Wahlen trotz potentieller Konsequenzen durch die EU und die USA einen militärischen Konflikt provozieren könnte, in der Hoffnung, dass nationalistische Wähler ihn unterstützen würden. So schrieb beispielsweise Kathimerini: „Angesichts der schweren Wirtschaftskrise, die seiner Popularität ernsthaft schadet, wird Erdoğan mit Sicherheit bis zum Schluss die nationalistische Karte ausspielen, wobei Athen sein Hauptziel ist. … In jedem Fall verheißt sein unberechenbarer Charakter nichts Gutes für Griechenland.”
Große Welle der Solidarität
Trotz der angespannten Situation zwischen beiden Ländern: Wenn es um eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben geht, fühlen sich Menschen in Griechenland und der Türkei verbunden. Sie leben in derselben geologischen Zone und sind gleichermaßen durch die Natur bedroht. Von klein auf wird den Kindern in beiden Ländern beigebracht, wie man sich bei einem Beben verhalten soll.
Als am 6. Februar heftige Erdbeben die Türkei und Syrien erschütterten, erklärte der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis binnen kurzer Zeit, dass sein Land unverzüglich Hilfe leisten würde.
Das Webportal In.gr lobte ebenfalls die Solidarität: „In ganz Griechenland mobilisieren sich Bürger mit Blick auf ihre Nachbarn. Lebensmittel, Decken, Medikamente, alles, was in diesen schwierigen Zeiten gebraucht wird, wird gesammelt. … Vereine, Schulen und Gewerkschaften sind aktiv, um das Drama der von den Erdbeben betroffenen Türken so gut wie möglich zu lindern. Wer kann nach diesen Bildern der Menschlichkeit und Solidarität schon wieder von einem Krieg zwischen Griechenland und der Türkei sprechen? Sicherlich nicht die Menschen. Aber die Politiker? Hoffen wir, dass sie etwas gelernt haben.”
Nur die Ruhe vor dem Sturm?
Und doch gibt es einen großen Unterschied zwischen humanitären Krisen und politischen Interessen. Für viele in Griechenland bedeuten die Annäherung und Hilfsbereitschaft vor den türkischen Wahlen nur eine Phase der Ruhe vor dem Sturm. Das Webportal Ardin-Rixi schreibt dazu: „Der Sturm droht jederzeit loszubrechen, da die Türkei weder das UN-Seerechtsübereinkommen noch die Republik Zypern anerkennt. Solange die Türkei ihre Ansprüche gegenüber Griechenland aufrechterhält und ihre Fantasien einer Wiedererrichtung eines neo-osmanischen Reiches im 21. Jahrhundert nicht aufgibt, wird der casus belli bestehen bleiben.”
Auch News247 glaubt nicht an eine dauerhafte Entspannung: „Bis September, so scheint es, wird es eine Atempause geben. Aber dann - und unabhängig davon, ob Erdoğan wiedergewählt wird - werden die Stürme, die hitzige Rhetorik und die Drohungen zurückkehren. Und dann, in der neuen politischen Landschaft nach den Wahlen, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Amerikaner mit Unterstützung der Europäer Maßnahmen ergreifen, um unser Land über Den Haag zum Dialog und Kompromiss zu drängen. Die nächste griechische Regierung muss sich vorbereiten, denn die Vorzeichen sind schlecht.”
Regierungswechsel bringt keine Hoffnung
Auch ein möglicher Regierungswechsel in der Türkei hat auf diese Besorgnis keinen Einfluss. Leonidas Koumakis, Kolumnist und Mitglied der International Hellenic Association (IHA) schreibt in HuffPost Greece: „Im Kontext der anhaltenden Raubtierpolitik in der modernen Türkei bleiben die Ausrichtung und die Ziele gegenüber dem Hellenismus unverändert. Unabhängig davon, welche politische Strömung gerade an der Macht ist – seien es Neu-Türken, Islamisten oder die Pan-Türken im Allgemeinen.”
Doch auch wenn sich türkische Präsidenten und griechische Premiers oft gegenseitig provozieren, um sich im eigenen Land in einem besseren Licht zu präsentieren, hat das nicht immer Einfluss auf die Stimmung in der Bevölkerung. Eine aktuelle Umfrage vor der griechischen Wahl am 21. Mai legen nahe, dass die Preissteigerung das Thema ist, das die Wahlentscheidung der Menschen wohl am stärksten prägen wird.
Die Menschen in Griechenland und der Türkei teilen sich also nicht nur die Gefahr von Naturkatastrophen, sondern auch die wirtschaftlichen Probleme. Nicht eventuelle militärische Konflikte, sondern diese Sorgen sind vermutlich entscheidend dafür, wie in Griechenland und der Türkei gewählt wird.