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Breites Oppositionsbündnis gefährdet Erdoğans Wiederwahl | Türkei | bpb.de

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Breites Oppositionsbündnis gefährdet Erdoğans Wiederwahl

Kristina Karasu

/ 8 Minuten zu lesen

Der türkische Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu hat Chancen, die Präsidentschaftswahl gegen Recep Tayyip Erdoğan zu gewinnen. Er verspricht eine Rückkehr zur Demokratie, schlägt ruhige und versöhnliche Töne an. Die Folgen der Erdbeben vom 6. Februar, die Hyperinflation, mangelnde Freiheiten und Zukunftsperspektiven der Jugend sind die dringendsten Sorgen der Bevölkerung.

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu. (© picture-alliance, abaca)

Er scheint das genaue Gegenteil von Erdoğan: Während der Präsident zu prachtvollen Empfängen in seinem Palast empfängt, veröffentlicht Kılıçdaroğlu Videos von seinem beschaulichen Küchentisch; während Erdoğan poltert und droht, ruft Kılıçdaroğlu das Volk dazu auf, sich zu versöhnen. Rhetorisch weiß Erdoğan seit Jahrzehnten seine Wähler zu begeistern; Kılıçdaroğlu dagegen ist kein starker Redner, er strahlt eher den Charme eines freundlichen Bürokraten aus. Während Erdoğan frommer Sunnit ist, gehört Kılıçdaroğlu zur alevitischen Minderheit. Lange Zeit galt er deswegen als unwählbarer Kandidat. Doch seit Kılıçdaroğlu Anfang März zum Präsidentschaftskandidaten der türkischen Opposition ernannt wurde, liegt er in den meisten Umfragen vor Erdoğan – was ist passiert?

Die Türkei geht durch harte Zeiten: Seit Jahren verliert die türkische Lira an Wert, im letzten Jahr explodierten die Preise, die Inflation lag zwischenzeitlich offiziell bei 85 Prozent – und laut unabhängigen Ökonomen noch weit höher. Während Recep Tayyip Erdoğan seit über 20 Jahren mit dem Versprechen von Aufschwung und Wohlstand regiert, seinem Land viele wirtschaftliche Boom-Jahre bescherte und es zur bedeutenden Regionalmacht aufsteigen ließ, ging es für viele Menschen in der Türkei im letzten Jahr nur noch bergab. Sukzessive hatte Erdoğan außerdem Freiheiten beschnitten, Regierungsgegner inhaftiert und ein autoritäres Präsidialsystem eingeführt. Zehntausende von jungen, gut ausgebildeten Berufsanfängern haben in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen, sehen für sich keine Zukunft mehr in der Türkei. Anfang Februar wurde das Land dann auch noch von zwei verheerenden Erdbeben heimgesucht; mangelnde Vorsorge und ein zu schlecht organisierter Katastrophenschutz hatten das Unglück noch vergrößert.

Die türkische Opposition hatte sich vor einem Jahr zu einem breiten Bündnis aus sechs Parteien zusammengeschlossen, angeführt von der republikanischen Volkspartei CHP und ihrem langjährigen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Sonderlich progressiv mutet das Bündnis auf den ersten Blick nicht an: Zu ihm gehören die nationalistische İyi-Partei und die islamische Saadet-Partei sowie zwei Parteien, die von einstigen Weggefährten Erdoğans gegründet wurden.

Allerdings arbeitete das Bündnis ein Programm aus, das eine Rückkehr zum parlamentarischen System, eine unabhängige Justiz und mehr Demokratie verspricht. Die Kandidaten-Frage jedoch brachte die „Nationale Allianz“ erst Anfang März auf den Tisch; um ein Haar drohte das Bündnis daran zu scheitern. Erst nach tagelanger Diplomatie hinter verschlossenen Türen einigte sich das Bündnis doch noch auf Kılıçdaroğlu als gemeinsamen Kandidaten. Viele Wähler und Kommentatoren begrüßten das: „Der Sechsertisch ist aus dieser Krise gestärkt hervorgegangen. Ganz nach Nietzsches Worten ‚was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, schrieb Habertürk.

Für die islamisch-konservative, regierungsnahe Yeni Şafak hingegen blieb ein fahler Beigeschmack. Kolumnist İsmail Kılıçarsla erinnerte die Krise an die 1990er Jahre, als Koalitionsregierungen mit internen Auseinandersetzungen das ganze Land blockierten. Es wäre furchtbar, wenn dies die Türkei erneut erleben müsse, erst recht in einer Zeit, in der die Menschen in der Erdbebenregion dringend Hilfe benötigen.

Die Formel zur Einigung beinhaltete, dass die CHP-Bürgermeister von Ankara (Mansur Yavaş) und Istanbul (Ekrem İmamoğlu), Wunschkandidaten der İyi-Partei, bei einem Wahlsieg zu stellvertretenden Präsidenten werden; ebenso sollten die Führer der anderen Bündnisparteien diese Posten bekleiden. Während einige Analysten das Modell einer multiplen Führung als untauglich bewerten, , sehen andere darin eine Möglichkeit, die Opposition auch über ideologische Gräben hinweg zu einen. Zudem garantiere es, dass ein neuer Präsident trotz Präsidialsystem nicht so autoritär regieren könne wie Erdoğan: „Wenn Kılıçdaroğlu dem Rausch der Macht verfallen sollte, kann er von anderen Parteichefs durch 'Checks and Balances' gestoppt werden“, glaubt die Tageszeitung Karar.

Ein autoritäres Präsidialsystem mit starkem Führer an seiner Spitze versus ein parlamentarisches System, geführt von einer breiten Koalition – darum geht es eigentlich bei der Wahl Mitte Mai.

Die kurdennahe Partei HDP hat keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, unterstützt indirekt Kılıçdaroğlu. Mit seinem sozialdemokratischen Profil ist er für viele Kurden ein wählbarer Kandidat. Gegen die HDP selbst läuft seit Monaten ein Verbotsverfahren, vielen ihrer Abgeordneten droht ein Politikverbot – weil die Regierung die Partei als den politischen Arm der PKK betrachtet. Um trotzdem zur Wahl antreten zu können, wechselte die Riege der HDP im März kurzer Hand zur „Yeşil Sol Parti“ (Grüne Linkspartei) und stellte ganz neue Kandidaten auf. Die Repressionen gegen kurdische Regierungsgegner hielten trotzdem an: Am 25. April führten Anti-Terror-Einheiten der Polizei eine Razzia in der Kurdenhochburg Diyarbakır durch, bei der 128 Journalisten, Politiker, Juristen, Künstler und Vertreter der Zivilgesellschaft festgenommen wurden. Der türkische Innenminister nannte es eine Operation gegen die PKK, die HDP hingegen bewertete es als offene Drohung und Einschüchterungsversuch der Gesellschaft im Wahlkampf.

Schon seit Jahren sitzen viele führende Kurdenpolitiker und Aktivisten in Haft, unter ihnen der populäre Ex-Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş. Er veröffentlicht derzeit pausenlos Tweets aus dem Gefängnis heraus, unterstützt dabei den Kandidaten Kılıçdaroğlu. Der wiederum verspricht, die Kurdenfrage im Parlament lösen zu wollen. Außerdem wolle er der Praxis ein Ende setzen, gewählte Bürgermeister im kurdisch geprägten Südosten des Landes durch Zwangsverwalter zu ersetzen. Für viele Kurden sind das wichtige Signale, die lange auf sich warten ließen. Während sich Kılıçdaroğlu den Kurden annähert, propagieren regierungsnahe Medien, er werde heimlich von der Terrororganisation PKK unterstützt – ein gern genutzter Vorwurf, um Oppositionelle zu diffamieren.

Zugleich gibt sich Kılıçdaroğlu neuerdings fromm, um religiöse Wähler zu gewinnen. Er nimmt öffentlich an Moscheeeröffnungen, Fastenbrechen und Gebeten teil, verwendet in seinen Reden religiöse Worte. Auch Erdoğan tut das, vertritt er doch seit jeher offen den politischen Islam. Kılıçdaroğlu hingegen ist Chef einer säkularen Partei und sollte auf diesen frommen Wettstreit verzichten, mahnt Journalist Levent Gültekin in Diken: Die Opposition sei sich nicht darüber im Klaren, dass sie damit den von der AKP-Regierung vorangetriebenen Wandel zu einer Politik, in der Religion eine dominierende Rolle spielt, sogar noch verfestige.

Religion blieb das große Reizthema in diesem Wahlkampf. Anfang April empörten sich Propaganda-Medien tagelang über ein Foto, auf dem Kılıçdaroğlu mit Schuhen angeblich auf einem Gebetsteppich steht. „Er ist in religiösen Fragen unsensibel, gleichgültig und nachlässig“, meint Kolumnist Abdulkadir Selvi in Hürriyet und fügt hinzu, das Foto offenbare die wahre Gesinnung seiner Partei CHP.

Erst Mitte April trat Kılıçdaroğlu die Flucht nach vorne an. Er veröffentlichte ein Video, in dem er sich öffentlich als Alevit bekennt, ohne großes Aufheben darum zu machen. In der Türkei kommt das einem Tabubuch gleich: Aleviten waren hier in der Vergangenheit schon so oft Diskriminierungen und Angriffen ausgesetzt, dass sie ihren Glauben nur selten offenbaren – obwohl geschätzt 25 bis 35 Prozent der Türken Aleviten sind. Viele ultrareligiöse Sunniten, die Kernwählerschaft Erdoğans, haben tiefsitzende Vorurteile gegenüber Aleviten, Kılıçdaroğlus Kandidatur schien deswegen lange aussichtslos. In seinem Video hingegen appelliert Kılıçdaroğlu an Jungwähler: „Ihr habt die Chance, mit eurer Stimme das Land aus den schmerzhaften, trennenden Debatten über Sunniten, Aleviten, Türken, Kurden, Lasen, Tscherkessen und Arabern herauszuholen. Wir wollen nicht länger über das Trennende, über Unterschiede und Aussonderungen reden, sondern über das Gestalten, über geteilte Träume und Gemeinsamkeiten“, so der Oppositionskandidat.

Kılıçdaroğlus Video wurde in kürzester Zeit über 35 Millionen Mal angesehen, sorgte weltweit für Aufsehen. Oppositionelle Medien feierten das Video als historisch, die säkulare Cumhuriyet lobt: „Während der Wahltermin näher rückt und die hässlichen Angriffe auf Kılıçdaroğlu wegen seiner Konfession zunehmen, ist das ein Schritt zur Verteidigung des demokratischen Regimes.“

Beide Seiten wissen, dass die Folgen der Erdbeben vom 6. Februar, die Hyperinflation, mangelnde Freiheiten und Zukunftsperspektiven der Jugend die dringendsten Sorgen der Bevölkerung sind. Erdoğan setzt in seinem Wahlkampf darauf, permanent zu betonen, was er in seiner 20-jährigen Amtszeit alles erschaffen hat – Straßen, Brücken, Zugstrecken und Krankenhäuser. Er feiert das erste türkische Elektroauto und die unbemannten Kampfdrohnen made in Türkiye, beobachtet Karar: „Seine Botschaft: ‚das habe ich gemacht, und ich werde noch mehr machen’. Das Problem dabei ist, dass es ihm an Zukunftsvisionen mangelt. Er redet in diesem Wahlkampf immer in der Vergangenheitsform.“

Das Programm Kılıçdaroğlus dagegen scheint visionärer: Er verspricht eine lebenslange Familienversicherung, 300 Milliarden Dollar Investitionen aus dem Ausland, neue High-Tech-Zentren und Fabriken, dazu eine fortschrittliche Bildung. Durch Videobotschaften versucht er insbesondere die Millionen Jungwähler anzusprechen. Dazu kommt, dass der Präsident gesundheitlich angeschlagen ist. Schon seit Monaten wirkt er müde und schlapp, der einst feurige Redner liest nun vom Teleprompter ab, mischt sich nur noch selten unter sein Volk. Bei einem Live-TV-Interview am 25. April wurde ihm so schlecht, dass das Programm unterbrochen werden musste. Allen Unkenrufen zum Trotz sind Erdoğans Anhänger mit ihm ideologisch und emotional aber weiter stark verbunden, meint Habertürk. Sein Programm von „Regionalismus, Nationalismus und ideellen Werten“ finde vor allem in Anatolien ein großes Echo.

So wird es vermutlich ein knappes Rennen. Laut aktuellen Umfragen kommt Kılıçdaroğlu auf 49, Erdoğan auf 42 Prozent der Stimmen. Ein zweiter Wahlgang ist gut möglich. Auch bei den zeitgleich stattfindenden Parlamentswahlen zeichnet sich derzeit keine absolute Mehrheit für Kılıçdaroğlus oder Erdoğans Parteibündnisse ab. Wohl auch deswegen buhlen beide derzeit um die Gunst winziger Parteien – wohl wissend, dass diesmal jede Stimme zählt. Erdoğan geht sogar so weit, sich der Hisbollah-nahen Hüdapar anzunähern und die islamische Yeniden Refah Partei in sein Bündnis holen, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau ablehnen und eine Änderung des Gesetzes zum Schutz von Frauen vor Gewalt fordern. Sollte Erdoğan die Wahlen doch noch gewinnen, erwarten Frauen in der Türkei schwere Zeiten.

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arbeitet als freie Journalistin und Filmemacherin in Istanbul. Sie ist Türkei-Korrespondentin von "eurotopics".