Es war eine der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der Türkei: Zweimal bebte am 6. Februar im Südosten des Landes die Erde, mindestens 50.000 Menschen verloren ihr Leben. Experten schätzen die Opferzahlen sogar noch weit höher ein. Mancherorts warteten die Menschen bei Eiseskälte tagelang auf staatliche Hilfen, riefen Verschüttete unter den Trümmern, bis sie irgendwann verstummten. Zurück blieb eine traumatisierte Nation.
Elf Provinzen und 15 Millionen Menschen sind betroffen, fast jeder im Land kennt jemanden aus der Erdbebenregion. Bis heute leben viele Menschen in Zelten und Containern, es mangelt an Hygiene, Arbeit und Schulunterricht. Geschätzt über drei Millionen Menschen haben die Katastrophenregion verlassen, versuchen sich nun anderorts ein neues Leben aufzubauen.
Zugleich wird die Türkei am 14. Mai einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament wählen. Die Beben sind seither das dominierenden Thema des Wahlkampfes. Die meisten Parteien haben beschlossen, wegen der Katastrophe auf laute Wahlkampfmusik und ausgelassene Kundgebungen zu verzichten. Ein leiser Wahlkampf sollte es werden, aus Rücksicht auf die Opfer. Politiker aller Parteien besuchen regelmäßig das Erdbebengebiet, die größte Oppositionspartei CHP etwa hält ihre Fraktionssitzungen jede Woche in einer anderen Ortschaft der Region ab. Regierung wie Opposition zeigen in den Medien unablässig, wie sie vor Ort aktiv sind, wie sie Rettungsteams, Lebensmittel und Zelte in die Region schickten, wie sie Camps und Feldlazarette aufbauen.
Schon in den ersten Tagen nach der Wahl kochten Diskussionen darüber auf, wer für die hohen Opferzahlen verantwortlich ist. Die Opposition beschuldigte die Erdoğan-Regierung, zu spät und zu schlecht koordiniert Hilfen in die Region geschickt zu haben. Regierungsnahe Medien wie die Yeni Şafak hielten das für ungerechtfertigt: „Keine Macht auf der Welt kann bei solch einer Katastrophe überall und effektiv eingreifen“,
Das Verständnis von Einheit bekam jedoch schnell Risse: die kurdennahe HDP berichtete etwa, dass von ihnen in die Region geschickten Lastwagen mit Hilfslieferungen beschlagnahmt wurden. Ein gut funktionierendes Camp der türkischen Arbeiterpartei TIP in Antakya ließ der lokale Gouverneur an einen unwirtlichen Ort umziehen und eine Suppenküche der ebenfalls oppositionellen islamischen SAADET-Partei in Malatya wurden von den dortigen Behörden aufgelöst. Die Erdoğan-Regierung schien der kritischen Opposition im Erdbebengebiet nicht das Feld überlassen zu wollen. Die Nachrichten über solche Aktionen verbreiteten sich in sozialen Medien wie ein Lauffeuer.
So verstummten auch die politischen Diskussionen nicht. Mit der Zeit rückte in sozialen Medien und oppositionellen Zeitungen die Frage nach Versäumnissen im Vorfeld in den Vordergrund. Die ganze Türkei ist erdbebengefährdet, erlebt immer wieder verheerende Beben. Ein großes Beben war auch im Südosten des Landes erwartet worden – es war quasi eine Katastrophe mit Ansage, betont das Internetportal T24: „Nach jedem Erdbeben das gleiche Bild, die gleichen Statements. Es wurden keine Schritte unternommen, um den Verlust von Leben und Eigentum bei Erdbeben zu minimieren. Die Mahnungen und Studien von Wissenschaftlern treffen auf taube Ohren. Bis die Katastrophe kommt. ...“
Dabei machte Recep Tayyip Erdoğan, seit über 20 Jahren an der Macht, Erdbebensicherheit immer wieder zu seinem Thema. Er ließ die Bauvorschriften mehrmals verschärfen, versprach sichere Bauten. Unter seiner Regierung wurde die Infrastruktur massiv erneuert, boomte die Baubranche – doch bei den Beben im Februar stürzten auch viele neue Gebäude ein. Grund war die Gier von Politik und Bauunternehmern, glaubt die kemalistische Zeitung Cumhuriyet: „Stadtplünderung und Bodenspekulation sind die schnellsten und effektivsten Mittel zur Bereicherung. Nationale und lokale Politiker plündern Städte und Bauland. Die Baufirmen verwenden marodes und schlechtes Material. Die politisch Verantwortlichen führen keine Inspektionen durch. Das Volk ist ungebildet. Die Moral ist verdorben. Jeder ist nur noch auf das schnelle Geld aus“
Kritische Journalisten recherchierten, dass manche Gebäude einstürzten, weil tragende Säulen im Untergeschoss entfernt wurden, um Platz für Bankfilialen oder Korankurse zu machen. Sie deckten auf, dass mancherorts auf weichem Untergrund Genehmigungen für viel zu hohe Gebäude erteilt wurden und erinnerten daran, dass die Erdoğan-Regierung immer wieder nachträglich gegen Strafzahlungen illegale Bauten genehmigen ließ. Das brachte ihnen stets viele Wählerstimmen – mit tödlichen Folgen.
Erdoğan entschuldigte sich einige Wochen nach den Beben für die anfangs unzureichenden Hilfen. Hunderte Bauunternehmer wurden medienwirksam festgenommen. Doch politische Konsequenzen gab es keine, kein einziges Regierungsmitglied trat zurück.
Stattdessen versprach Erdoğan schon zwei Tage nach dem Beben, die Katastrophenregion innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt lagen noch immer Menschen lebendig unter den Trümmern begraben. Während Experten das als absolut unrealistisches, aber gut klingendes Wahlversprechen beurteilten, stieß dies bei Erdoğans Anhängern auf viel Zustimmung. Sie schätzen ihren Präsidenten ohnehin als fleißigen Macher. „Er ist der einzige, der die Region wieder aufbauen kann“ glauben viele. Seither zelebrieren Erdoğan und seine Minister jede Woche neue Grundsteinlegungen im Erdbebengebiet, posten Abgeordnete fleißig Bilder von Betonmischern und Baggern. Im Gegenzug stellte Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu am 25. April ein umfangreiches Wirtschaftsprogramm für die Erdbebenregion vor. Er versprach dort neue und nachhaltige Hochtechnologie, Finanz- und Biochemiezentren zu errichten und die dortigen Häfen umfassend zu modernisieren. Neuen Aufschwung und Wohlstand für die Region, das versprechen beide.
Zugleich haben sich die politischen Gräben weiter vertieft. Bei Regierungsgegnern ist die Wut gegen Erdoğan seit den Beben gestiegen, gepaart mit einer ohnmächtigen Trauer. Für sie hat das Erdbeben ein Versagen des autoritär organisierten Staates offenbart und welche tödlichen Folgen es haben kann, wenn eine Regierung schon längst keine Rechenschaft mehr abgibt. Regierungsanhänger hingegen sehen Erdoğan und seine Regierung nicht als Wurzel des Problems, sondern als Retter in der Not. In den überwiegend regierungsnahen Massenmedien wird ihnen dieses Bild permanent bestätigt. Die Türkei hat großes Glück, in solche Zeiten von einem solch erfahrenen Führer wie Erdoğan regiert zu werden, schreibt gar die regierungsnahe Sabah: „In Erdoğans politischen Leben gab es nie eine angenehme Zeit. Er kam immer voran, indem er Probleme löste. Er weiß gut, wie man Krisen bewältigt. Ja er schöpft seine Kraft aus diesen Schwierigkeiten“
Das spiegelt sich auch in den Umfragen wieder. Zwar liegt der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu in den meisten Umfragen vorne, doch noch immer wollen 42-45 Prozent der Wähler für Erdoğan und 30-40 Prozent für seine Partei AKP stimmen – ähnliche Werte wie vor den Erdbeben.
Zugleich sind die derzeitigen Umfragen mit Vorsicht zu genießen. Wie die Wähler in den Erdbebengebieten wählen werden, untersuchen sie nur unzureichend. Die Zeitung Habertürk rechnet außerdem vor, dass von den geschätzt über drei Millionen Menschen, die die Erdbebenregion verlassen haben, sich bisher nur 133.000 in anderen Provinzen haben registrieren lassen: „Es besteht das Risiko, dass bei einer so historischen und kritischen Wahl drei Millionen oder sogar noch mehr Bürger aus dem Erdbebengebiet ihre Stimme nicht abgeben werden, und dieses Risiko sollten Opposition und Regierung ernst nehmen“
Zugleich steht die Frage im Raum, ob in den Erdbebengebieten ausreichend Wahlsicherheit gewährleistet werden kann bzw. ob Wahlbetrug dort leichtes Spiel hätte. Es bleibt also abzuwarten, ob die Wahlen in der Türkei fair verlaufen – ganz besonders in den Katastrophenzeiten.