Regierung und Opposition in der Türkei sind sich selten einig, und im Wahlkampf erst recht nicht. Bei einem wichtigen Thema besteht kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai jedoch weitgehend Einigkeit zwischen den politischen Lagern: Die rund 3,6 Millionen Syrer in der Türkei und die hunderttausenden Afghanen, die über den Iran ins Land gekommen sind, sollen verschwinden. Noch in einem anderen Punkt ähneln sich die türkischen Parteien: Sie können ihren Wählern keine realistischen Pläne präsentieren, um dieses Ziel zu erreichen.
Nach Beginn des syrischen Bürgerkrieges im März 2011 hatte die Regierung des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan die 900 Kilometer lange Grenze der Türkei zum südlichen Nachbarn für Flüchtlinge geöffnet. Diese "Politik der offenen Tür" bescherte der Türkei viel internationales Lob, auch weil die Ankömmlinge in vorbildlich ausgestatteten Lagern entlang der Grenze untergebracht wurden. Weil die Türkei Flüchtlingen aus außereuropäischen Ländern nicht die Möglichkeit gewährt, Anträge auf politisches Asyl zu stellen, erhielten die Syrer in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) einen Aufenthaltsstatus als Schutzbedürftige mit Schutz vor Abschiebung.
In dieser ersten Phase des Krieges unterstützte die Regierung Erdoğan diverse Rebellengruppen, die gegen den syrischen Staatschef Baschar al-Assad kämpften, um ihn stürzen und in Damaskus ein neues Regime errichten zu können, was eine schnelle Rückkehr der Flüchtlinge ermöglichen würde. Ankara erwartete einen kurzen Krieg; im September 2012 erklärte Erdoğan, er werde bald in der Umayyaden-Moschee in Damaskus beten: "Der Tag ist nah." Dass Millionen Flüchtlinge jahrelang in der Türkei bleiben würden, war in seinen Plänen nicht vorgesehen.
Doch genau das geschah. Die Auffanglager reichten bald nicht mehr aus, um die vielen Menschen unterzubringen. Heute ist die Türkei das Land mit den meisten Flüchtlingen in der Welt. Allein in Istanbul, weit weg von der syrischen Grenze, leben heute rund 550.000 Syrer und sind offiziell vor einer Abschiebung geschützt. Überall im Land haben sich Syrer niedergelassen, Arbeit gefunden, Geschäfte eröffnet und Familien gegründet: Inzwischen wurden rund 700 000 syrische Kinder in der Türkei geboren.
Hunderttausende weitere Syrer setzten in Booten über die Ägäis nach Griechenland und damit in die EU über. Deshalb schlossen Brüssel und Ankara im März 2016 einen Flüchtlingspakt, der die Türkei zum Torwächter für Europa machte. Gegen die Zahlung von Milliardensummen aus der EU verpflichtete sich Erdoğans Regierung, die Syrer an der Weiterfahrt nach Europa zu hindern. Obwohl es immer wieder Streit um die Vereinbarung gibt, halten sich beide Seiten mehr oder weniger daran.
In der Türkei wurden die Syrer zunächst wohlwollend aufgenommen. Religiöse Gemeinsamkeiten halfen: Sowohl die meisten Türken als auch die meisten syrischen Flüchtlinge sind sunnitische Muslime. Zudem hat die Türkei in ihrer jüngeren Geschichte einen großen Zuzug von Flüchtlingen aus ehemals osmanischen Gebieten im Kaukasus und dem Balkan erlebt; viele Türken stammen von Einwanderern aus diesen Regionen ab.
Die türkische Willkommenskultur wich mit den Jahren jedoch einem wachsenden Unmut gegenüber den Syrern: Steigende Inflation und Arbeitslosigkeit ließen Türken und Syrer auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zu Konkurrenten werden.
Vor zwei Jahren plünderte ein Mob bei ausländerfeindlichen Krawallen in der Hauptstadt Ankara die Geschäfte von Syrern im Arbeiterviertel Altindağ und zündete Autos an. Die Ablehnung der Syrer sei keine Besonderheit von Altindağ, sagte der Demoskop Bekir Ağırdır vom Meinungsforschungsinstitut Konda damals: Laut Konda-Befragungen lehnten bereits damals 70 bis 80 Prozent der Türken aller Gesellschaftsschichten die syrischen Flüchtlinge ab. Zwei von drei Wahlberechtigten forderten in Umfragen, den Zuzug von Flüchtlingen in die Türkei zu stoppen.
Erdoğan ignorierte den Ärger der Wähler zunächst, doch andere Politiker reagierten. Kemal Kılıçdaroğlu, langjähriger Vorsitzender der linksnationalen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanischen Volkspartei) und heute Präsidentschaftskandidat des größten Oppositionsbündnisses gegen Erdoğan, verspricht im Falle seines Wahlsieges die Rückführung aller Syrer innerhalb von zwei Jahren. Rechtspopulisten gehen noch weiter. In der Türkei lebten nicht vier Millionen, sondern 13 Millionen Flüchtlinge, behauptet Ümit Özdag, Chef der rechtsnationalen Zafer Partisi (Siegespartei). Er verspricht den Wählern, alle Flüchtlinge innerhalb eines Jahres aus dem Land zu werfen.
Nach dem Erdbeben vom Februar dieses Jahres reiste Özdağ ins Katastrophengebiet und veröffentlichte Gespräche mit Türken, die über syrische Plünderer und Räuber klagten. "Hörst du das, Erdoğan?", fragte Özdağ nach einer solchen Begegnung auf Twitter. Özdağs Partei wurde erst vor knapp zwei Jahren gegründet und kommt in den Umfragen auf zwei bis drei Prozent.
Kılıçdaroğlu bekräftigte bei einem Besuch an der syrischen Grenze kürzlich sein Versprechen, die Syrer nach Hause zu schicken, wenn er die Wahl gewinnen und Erdoğan als Präsidenten ablösen sollte. Die Rückführung werde "ohne den dunklen Fleck des Rassismus" von statten gehen, versprach er. Als Präsident will er zudem alle Afghanen in den Iran abschieben. "Wir haben keine Vorurteile gegen Ausländer", sagte Kılıçdaroğlu. "Aber wir wollen in unserem eigenen Land frei leben und nicht zulassen, dass die demographische Struktur unseres Landes verändert wird."
Kılıçdaroğlus Oppositionsbündnis aus sechs Parteien verspricht in seinem Wahlprogramm außerdem, die türkischen Grenzen mit moderner Überwachungstechnik besser abzuriegeln, um Flüchtlinge abzuwehren. Die Rückführung von Flüchtlingen in Herkunftsländer soll beschleunigt, Abschiebezentren sollen ausgebaut werden. Außerdem will die Opposition die Praxis der Regierung Erdoğan beenden, reichen Zuwanderern im Gegenzug für den Kauf von Immobilien die türkische Staatsbürgerschaft zu verleihen.
Die Oppositionsallianz deutet zudem an, dass sie den Flüchtlingsdeal mit der EU nach einer Regierungsübernahme nicht einfach fortschreiben will. Sie werde nicht zulassen, dass die Türkei von anderen Ländern als "Lagerhaus" für Flüchtlinge missbraucht werde, heißt es im Wahlprogramm. "Türkei zuerst", antwortete Kılıçdaroğlu in einem Interview mit Euronews auf die Frage nach der Flüchtlingspolitik nach einem Regierungswechsel.
Als Erdoğan die Brisanz des Flüchtlingsthemas erkannte, rückte auch er von der "Politik der offenen Tür" ab. An den Grenzen zu Syrien und zum Iran wurden Betonmauern errichtet, die türkischen Grenztruppen verstärkten die Überwachung mit Patrouillen und Nachtsichtgeräten. Die Zahl der Abschiebungen stieg. Von 2016 bis 2021 wurden nach Angaben von Innenminister Süleyman Soylu 320.000 Flüchtlinge aus der Türkei in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Eine halbe Million Syrer kehrten demnach auf eigenen Wunsch nach Syrien heim. Mehr als 600.000 Flüchtlinge reisten laut Soylu in diesem Zeitraum aus der Türkei nach Europa weiter: "In den vergangenen fünf Jahren haben 1,5 Millionen Menschen dieses Land verlassen", sagte der Minister im Mai 2022 in einem Fernsehinterview.
Erdoğan verkündete zur selben Zeit, seine Regierung wolle eine weitere Million Syrer "auf freiwilliger Basis" in ihr Heimatland zurückschicken. Sein Plan sieht die Ansiedlung von Syrern in Gebiete Syriens vor, die von mit der Türkei kooperierenden Rebellen gehalten werden. Allein in der Provinz Idlib sollen demnach 100.000 Häuser für Rückkehrer errichtet werden. Aus der Rückführung im großen Stil ist aber bisher nichts geworden. Daneben sollen auch in die türkisch besetzten Gegenden von Nordwest-Syrien Flüchtlinge umgesiedelt werden.
Für die Lösung der Flüchtlingsfrage in der Türkei kommt Erdoğan um eine Zusammenarbeit mit der syrischen Führung nicht herum. Kılıçdaroğlu und andere Oppositionspolitiker fordern seit Jahren, die Türkei solle Gespräche mit Assads Regierung führen. Erdoğan lehnte das lange ab, doch im vergangenen Jahr schwenkte er auf die Linie der Opposition ein. In Kontakten zwischen türkischen und syrischen Regierungsvertretern unter Vermittlung von Assads Schutzmacht Russland will der türkische Präsident ein Spitzentreffen mit Assad vorbereiten.
Auch der syrische Staatschef lehnt ein Treffen mit Erdoğan bisher ab, weil er seinem Widersacher nicht mit Vereinbarungen in der Flüchtlingsfrage im Wahlkampf helfen will. Nach Medienberichten verlangt Assad als Vorbedingung für ein Gipfeltreffen mit dem türkischen Präsidenten den Rückzug aller türkischen Truppen vom syrischen Staatsgebiet. Das ist für Erdoğan jedoch nicht erfüllbar, weil er in den vergangenen Jahren die Militärinterventionen ins Nachbarland als notwendige Vorwärtsverteidigung gegen die kurdische Miliz Yekîneyên Parastina Gel, YPG in Syrien und damit als Maßnahme für die nationale Sicherheit der Türkei gerechtfertigt hat.
Erdoğan sucht deshalb nach anderen Lösungen. Um Überfremdungsängsten in der türkischen Bevölkerung zu begegnen, hat seine Regierung den Ausländeranteil in türkischen Städten begrenzt. Seit dem Stichtag 1. Juli 2022 wird der Ausländeranteil pro Stadtviertel auf 20 Prozent gedeckelt. Ist die Quote erreicht, wird weiteren Ausländern der Zuzug verboten.
Nach Angaben von Innenminister Süleyman Soylu liegt der Anteil von Ausländern in rund 1.200 von landesweit 32.000 Stadtvierteln in der Türkei über dieser Marke. Betroffen sind also nicht einmal fünf Prozent der Viertel, doch der Zuzugsstopp zielt auf die Städte und Kieze der Türkei mit dem höchsten Anteil an Ausländern. Im südosttürkischen Gaziantep unweit der syrischen Grenze etwa sind rund 20 Prozent aller Stadtviertel betroffen, im direkt an der Grenze gelegenen Kilis sogar mehr als 90 Prozent der Viertel. Ob diese Ausländer-Quote reicht, um die türkischen Wähler zu beruhigen, ist ungewiss. Eine Umfrage des Instituts MetroPoll kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass vier von fünf Türken dafür sind, den Verkauf von Wohnungen an Ausländer zu verbieten.
Seit der Erdbebenkatastrophe vom Februar versucht Erdoğans Regierung, Syrer im Unglücksgebiet am Umzug in andere Landesteile zu hindern, was die türkischen Wähler dort weiter verärgern könnte. In den elf Provinzen, die vom Beben betroffenen sind, lebten nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bis zum 6. Februar etwa 1,7 Millionen Syrer, die – ebenso wie die türkischen Erdbebenopfer – alles verloren haben. Populisten wie Özdağ machen sie für Plünderungen verantwortlich. Nach einer Anordnung der Behörden müssen Syrer, die im Katastrophengebiet gemeldet sind und sich in anderen Landesteilen in Sicherheit gebracht haben, spätestens nach zwei Monaten an ihre Wohnadresse zurückkehren.
Weil die Regierung und Kılıçdaroğlus Oppositionsbündnis ähnliche Positionen in der Flüchtlingsfrage beziehen, nimmt die Brisanz des Themas für den Wahlkampf ab: In der Türkei gibt es keine starke politische Kraft, die gegen die Rückführung der Flüchtlinge auftritt oder Beschränkungen für die Flüchtlinge, etwa bei der Wahl des Wohnortes, ablehnt. Unabhängig vom Wahlausgang wird die Türkei auch weiterhin versuchen, so viele syrische und afghanische Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückzuführen wie möglich.
Nicht nur deshalb zeichnet sich ab, dass das Flüchtlingsthema kein wichtiges Wahlkampfthema wird. Schon Monate vor der Erdbebenkatastrophe mit mehr als 50.000 Toten und einem wirtschaftlichen Schaden von mehr als 100 Milliarden Euro standen für die Wähler andere Probleme im Vordergrund. Als Demoskopen des Instituts Asal im Juni vergangenen Jahres nach den drängendsten Problemen der Türken fragten, nannten 76,3 Prozent der Befragten die schlechte Wirtschaftslage und 7,5 Prozent die hohe Arbeitslosigkeit. Nur drei Prozent stuften die vielen Flüchtlinge in der Türkei als größtes Problem ein.
Im Vergleich zu westlichen Staaten, wo die Flüchtlingsfrage heftig umstritten ist, spiele das Thema in der Türkei keine entscheidende Rolle, sagt Berk Esen, Politologe an der Universität Sabancı in Istanbul. Ein Grund dafür sei die Kontrolle der Regierung über die meisten Medien im Land: Zeitungen und Fernsehsender verzichteten darauf, die ausländerfeindliche Stimmung im Land mit negativen Berichten über Flüchtlinge anzuheizen, weil dies nicht im Interesse der Regierung wäre, sagte Esen kürzlich in einem Online-Seminar des Newsletters Turkey Recap.
Nach den Wahlen könnte die Flüchtlingsdebatte allerdings zu einem beherrschenden Thema der türkischen Innenpolitik werden, meint Esen. Sollte Erdoğans Regierung unterliegen, werde sich die neue Führung in Ankara, die anders als Erdoğan die Medien nicht kontrolliere, auf eine stärker ausländerfeindliche Berichterstattung einstellen müssen. Die neue Regierung werde dann unter Druck geraten, weil sie nicht in der Lage sein dürfte, ihr Versprechen – die massenhafte Rückführung von Flüchtlingen innerhalb kurzer Zeit – einzulösen: "Das wird ein wichtiges Problem in einer Türkei nach Erdoğan."