Beispiel 1: In seiner Entscheidung Nr. 2023/951 vom 6. Februar 2023 beschloss der Strafrichter am 1. Istanbuler Amtsgericht
Die Sache ins Rollen gebracht, hatte ein Antrag des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten
Beispiel 2: Am Vorabend der Parlamentswahl vom Juni 2015 veröffentlichte die oppositionelle Tageszeitung Cumhuriyet eine Nachricht, die schilderte, wie der türkische Geheimdienst (MIT) Waffen an radikal-islamistische Gruppen der syrischen Opposition übergibt. Daraufhin erstatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Strafanzeige gegen den Chefredakteur der Zeitung Can Dündar und ihren Ankara-Korrespondent Erdem Gül, woraufhin ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Doch nicht nur die beiden Journalisten wurden festgenommen, sondern auch der Abgeordnete Enis Berberoğlu von der oppositionellen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, deutsch: Republikanischen Volkspartei), nachdem seine Immunität aufgehoben worden war. Berberoğlu habe die Informationen an Journalisten weitergegeben, hieß es. Dündar und Gül wurden später auf Beschluss des Verfassungsgerichts freigelassen
Beispiel 3: Die beiden säkularen Kolumnisten Şahin Alpay und Mehmet Altan wurden verhaftet, weil sie vor dem fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016 Kolumnen in der Zeitung "Zaman" geschrieben hatten. Zaman war das inoffizielle Organ des Netzwerks von Fethullah Gülen, der islamische Prediger, den die Regierung als Drahtzieher des Putschversuches ausgemacht hat. Nachdem Einsprüche gegen ihre Haft erfolglos geblieben waren, wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das Verfassungsgericht gab den Beschwerden statt und ordnete die Freilassung der Journalisten an.
Doch selbst Verfassungsbeschwerde haben nicht immer Erfolg.
Beispiel 4: Der Unternehmer und Mäzen der türkischen Zivilgesellschaft Osman Kavala sitzt seit mehr als fünf Jahren in Haft. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt ihn, zum Putschversuch beigetragen, die Gezi-Proteste unterstützt und Spionage betrieben zu haben. Seine Beschwerden wurden vom Verfassungsgericht zweimal abgelehnt.
Beispiel 5: Auch Selahattin Demirtaş, der Ko-Vorsitzende der kurdischen Halkların Demokratik Partisi (HDP, deutsch: Demokratischen Partei der Völker) sitzt im Gefängnis. Er sei für gewaltsame Proteste verantwortlich, die sich im Oktober 2014 gegen die Weigerung der Türkei richteten, die syrischen Kurden gegen den 'Islamischen Staat' zu unterstützten. Als Abgeordneter genießt Demirtaş eigentlich parlamentarische Immunität. Unter seiner Führung war es seiner Partei bei den Wahlen 2015 zum ersten Mal gelungen, die 10-Prozent-Hürde für den Einzug einer Partei in die Große Nationalversammlung der Türkei mit 13,6 Prozent der Stimmen zu überwinden. Ihm und anderen Abgeordneten wurde mithilfe einer Verfassungsänderung die Immunität vorübergehend aberkannt, ein Verfahren, das die
Beispiel 6: Im Dezember 2020 forderte Devlet Bahçeli, Vorsitzender der rechtsextremen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, deutsch: Partei der nationalistischen Bewegung) und Verbündeter von Erdoğan, die HDP müsse verboten werden. Drei Monate später leitete die Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Partei ein und nur zwei Wochen später ging die Klage beim Verfassungsgericht ein. Die Klage ist noch immer anhängig.
Zweifellos beschränken sich die juristisch fragwürdigen Entscheidungen türkischer Gerichte nicht auf diese Beispiele. Ihre große Zahl weist auf ein grundlegendes strukturelles Problem des türkischen Justizsystems hin, das auch die Venedig-Kommission des Europarates anspricht
Das Grundproblem: die politische Instrumentalisierung der Justiz
Von Richtern deren Unabhängigkeit von der Regierung nicht gesichert ist, sind keine juristisch einwandfreien und objektiven Urteile zu erwarten. Die Grundlage für die Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten ist eine funktionierende Gewaltenteilung. Wo die gesamte Macht zentralisiert und in den Händen einer einzelnen Person oder einer Gruppe konzentriert ist, kann nicht erwartet werden, dass die Justiz unabhängig und unparteiisch handelt. 2023 jährt sich zum hundertsten Mal die Gründung der Republik Türkei, damals zweifellos ein großer Schritt nach vorn. Doch schon in der frühen Republik war die Justiz nicht unabhängig. Der Justizminister entschied über die Zulassung von Juristen zum Richteramt und darüber, an welchen Gerichten die Richter Dienst tun. Er regelte Disziplinarfragen und die Beförderung der Richter. Der Ministerrat bestimmte den Präsidenten des
Bülent Tanör, einer der prominentesten Verfassungsrechtler stellte für die Periode fest, "die Justiz sollte die Hüterin des neuen Regimes und der Reformen sein. Es ist offensichtlich, dass das revolutionäre Regime keine wirksame gerichtliche Kontrolle der Legislative und der Exekutive wollte."
Die Gründung der Republik Türkei geschah in einem politischen Klima, das geprägt war von starkem Zentralismus, türkischem Ethnozentrismus und der Entschlossenheit der maßgeblichen Akteure, die Gesellschaft auf Biegen und Brechen zu säkularisieren. Das führte zwangsläufig zu Diskriminierung und dem Versuch der Assimilierung von Minderheiten und es ist die Wurzel für Probleme, die das Land noch heute in Atem halten wie die Kurdenfrage und der Islamismus. Die Justiz konnte sich diesem Klima nicht entziehen, sondern hatte als effektives politisches Instrument ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Richter waren Teil der kemalistischen politischen Elite. Formal waren sie unabhängig, sie konnten aber nicht unparteiisch sein.
2010 versuchte die damals noch reformorientierte Regierung von Staatspräsident Erdoğan dieses Problem mit einer Verfassungsänderung zu lösen, die zur politischen Pluralisierung und kulturellen Diversifizierung der Justiz führen sollte. Das hermetisch abgeriegelte ideologische Universum der damals immer noch ganz überwiegend kemalistisch orientierten Richterschaft sollte durch die Berufung von Richtern anderer politischer Orientierung in die hohen Gerichte aufgebrochen und die größere kulturelle und politische Vielfalt der Richterschaft zu einer eher unparteiischen Justiz führen. Die Venedig-Kommission des Europarats hatte dazu 2010 in ganz ähnlicher Richtung argumentiert.
Das damals noch von der kemalistischen Elite kontrollierte Verfassungsgericht setzte jedoch ein Verfahren für die Wahl durch, das erneut eindeutige Mehrheiten - zum Vorteil für die Kemalisten - hervorbringen sollte. Doch die Verfassungsrichter hatten nicht realisiert, wie weit die Organisierung von Fethullah-Gülen-treuen Richtern - damals noch Verbündete der AKP - in der Richterschaft bereits fortgeschritten war, und das vom Verfassungsgericht durchgesetzte Verfahren produzierte ein Übergewicht von Gülen-nahen Richtern im Rat der Richter und Staatsanwälte. Denn aus den Wahlen ging nicht die Liste der Kemalisten, sondern eine inoffiziell von Gülenisten im Justizministerium ausgearbeitete Liste als Sieger hervor. Anschließend wurde die Anzahl der Richter am Verfassungsgericht, am Kassationsgerichtshof und am höchsten Verwaltungsgericht erhöht. Die neuen Stellen wurden mit Gülen-nahen Richtern besetzt und so die Dominanz der Kemalisten in der Justiz gebrochen.
2013 zerbrach das politische Bündnis zwischen der AKP und den Gülenisten und die Justiz wurde zum Schauplatz des Machtkampfs zwischen der AKP-Führung und den Gülenisten. Von einer vollständigen Kontrolle durch die AKP war damals jedoch noch immer nicht die Rede.
Von einer Justiz im Dienst einer Ideologie zu einer Justiz im Dienst einer Person
Das Bild änderte sich nach dem Putschversuch am 15 Juli 2016. Der Ausnahmezustand wurde verkündet und der Staat durch insgesamt 17 Notstands-Verordnungen, die der verfassungsrichterlichen Kontrollen entzogen waren, grundlegend umgestaltet. Alle staatlichen Institutionen, insbesondere jedoch Armee, Polizei und Justiz wurden von tatsächlichen oder auch nur möglichen Dissidenten gesäubert. Alle Richter des Kassationsgerichts und des höchsten Verwaltungsgerichts wurden über Nacht entlassen; um die Gülenisten dort loszuwerden, wurden die Zahl der beiden höchsten Gerichten jetzt radikal verringert und nur diejenigen wieder ernannt, die dem Staatspräsidenten als absolut loyal erschienen. Die Zahl der damals entlassenen Richter, unter ihnen zwei Richter des Verfassungsgerichts, beläuft sich auf mehr als 4.300. So unterstehen seit Anfang 2017 alle grundlegenden Einrichtungen des Staates faktisch einer Person – dem Staatspräsidenten. Als die Türkei im April 2017 per Verfassungsänderung ein ganz eigenes Präsidialsystem einführte, wurde diese Situation legalisiert und die im Ausnahmezustand geschaffene personale Herrschaft des Staatspräsidenten zur neuen Normalität.
Im neuen System kann der Staatspräsident gleichzeitig Vorsitzender einer Partei sein, ein Recht, von dem Präsident Erdoğan sofort Gebrauch machte. Und weil es in der Türkei keine innerparteiliche Demokratie gibt, und der Vorsitzende bestimmt, wer für einen Sitz im Parlament kandidieren darf und die Chance hat, gewählt zu werden, kann der Präsident - als Vorsitzender der stärksten Partei - das Parlament und die Gesetzgebung kontrollieren. Doch damit nicht genug. Mit dem neuen Präsidialsystem türkischer Art
Mit Hilfe von Präsidialverordnungen wurde die gesamte öffentliche Verwaltung dem Präsidenten unmittelbar unterstellt. Damit gerieten Institutionen wie die Zentralbank, das Statistische Amt und die Bankenaufsicht unter direkte Kontrolle des Präsidenten, was sowohl den Handlungsspielraum dieser Institutionen einschränkte als auch ihre Bindung an das Gesetz schwächte. Vor dem Hintergrund einer solchen korrumpierenden Konzentration der Macht und der Ausschaltung von politischer Kontrolle kann nicht erwartet werden, dass die Justiz unabhängig agiert.
Einen direkten Schritt zur Kontrolle der Justiz durch die Regierung stellen die erneuten Änderungen der Vorschriften für den Rat der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcılar Kurulu, HSK) dar. Vor dem Übergang zum Präsidialsystem war der Rat mehrheitlich von Richtern gewählt worden. Nun wurde er aufgelöst und alle Mitglieder neu bestimmt. Von insgesamt 13 Mitgliedern werden jetzt sechs vom Präsidenten ernannt und sieben Mitglieder vom Parlament gewählt (Art. 159/3 TVerf). Da aber der Präsident mit der Unterstützung der extremen Nationalisten von der MHP die absolute Mehrheit des Parlaments kontrolliert und das Schicksal der Abgeordneten vom Willen des Parteivorsitzenden abhängt, kann der Präsident die Zusammensetzung des Rates und damit sein Handeln bestimmen. Bedenkt man, dass der Rat für Richter und Staatsanwälte die Richter des Kassationsgerichts und drei Viertel der Richter des Höchsten Verwaltungsgerichts ernennt, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Justizapparat der Türkei gemäß der Loyalität der Richter zur Person des Staatspräsidenten strukturiert ist.
Für die anstehenden Wahlen ist von Belang, dass die Mitglieder des Hohen Wahlrats, Yüksek Seçim Kurulu (YSK), unmittelbar vom Kassationshof und vom höchsten Verwaltungsgericht bestimmt werden. Der Hohe Wahlrat bestimmt die Modalitäten aller Wahlen, kontrolliert ihre Durchführung und entscheidet über eventuelle Einsprüche. Seine Entscheidungen unterliegen nicht der richterlichen Kontrolle und gegen seine Beschlüsse kann keine Verfassungsbeschwerde eingelegt werden.
Auch bei der Besetzung des Verfassungsgerichts hat der Präsident maßgeblichen Einfluss. Zwölf seiner 15 Richter ernennt der Präsident zum Teil aus Vorschlagslisten des Kassationsgerichtshofs und des höchsten Verwaltungsgerichts. Drei Richter wählt das Parlament, notfalls mit einfacher Mehrheit, so dass auch hier der Präsident seinen Einfluss geltend machen kann.
Damit hat der Präsident seit dem fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016 direkten Einfluss auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts, der beiden höchsten Revisionsgerichte, des Rats für Richter und Staatsanwälte und des Hohen Wahlrats. Was das Verfassungsgericht betrifft, sind heute die Mehrheit (9 von 15) seiner Richter bereits von Erdoğan ernannt. Der Rest sind Ernennungen seines Vorgängers im Präsidentenamt Abdullah Gül, der zwar ebenfalls von Erdoğans Partei ins Amt gebracht wurde, aber moderate Personen ernannt hat. Trotzdem kommen heute alle Richter des Verfassungsgerichts aus dem konservativen Spektrum, und alle sind Männer.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass sich das Verfassungsgericht in elementaren Streitfällen aus der Affäre zieht. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: 2017 hat das Verfassungsgericht entgegen seiner früheren Rechtsprechung entschieden, dass es keine Befugnis zur Überprüfung der Notstandsverordnungen hat.