bpb.de: Was geschah in der Türkei in der Nacht des 15. Juli 2016?
Günter Seufert: Teile der Armee, insbesondere der Luftwaffe, versuchten außerhalb der Befehlskette, also nicht angeleitet von den Kommandeuren der Teilstreitkräfte bzw. vom Generalstab, sondern eher auf der Majorsebene, einen Staatsstreich zu inszenieren. Dabei wurden Fernsehsender und Radiostationen gekapert, Brücken, Flughäfen und andere strategische Punkte besetzt. Dieser Putschversuch wurde von einer Minderheit innerhalb des Militärs organisiert. Große Teile des Militärs verhielten sich in den ersten Stunden passiv. Der Putsch wurde niedergeschlagen, einerseits von der Polizei, die in der Türkei mittlerweile mit schweren Waffen ausgerüstet ist, und andererseits von großen Teilen der Bevölkerung, also der Anhängerschaft der Regierung. Im weiteren Verlauf hat die Regierung auch Militäreinheiten gegen die Putschisten eingesetzt. Es gab ungefähr 250 tote Zivilisten, die Zahl der Verletzten lag ungefähr bei 1.500.
Welche Akteure werden hinter dem Putschversuch vermutet?
In der Türkei wird allgemein davon ausgegangen, dass Militärkader der sogenannten Gülen-Bewegung, also Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, die zentrale Rolle gespielt haben. Es gibt eine Reihe von Indizien dafür, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Wenn man sich die Beförderungen in den Jahren vor dem Putschversuch anschaut und mit den Offiziersrängen vergleicht, die hauptsächlich in dem Putsch aktiv geworden sind, deutet das klar auf Kreise der
Welche Beweise gibt es bezüglich der Urheberschaft des Putsches?
Zweifelsfrei beweisen kann man sie nicht. Die Regierung sagt, sie sei sich sicher. Aber als außenstehender Beobachter hat man den Eindruck, dass die Regierung nicht an einer vollständigen Aufklärung interessiert ist. Es gab eine parlamentarische Untersuchungskommission, deren Bericht nie veröffentlicht worden ist. Die Mitglieder der
Können Sie das Verhältnis der AKP und der Gülen-Bewegung bis zur jüngsten Vergangenheit nachzeichnen?
Die AKP-Regierung hat nicht nur auf dem Feld der Bildungspolitik mit der Gülen-Bewegung kooperiert, sondern auch was die Besetzung von hochrangigen Bürokratieposten von der Polizei bis zu den Gerichten und eben das Militär anbelangt. Bevor die AKP 2002 an die Macht kam, bestand in der höheren Bürokratie ein gewisses Übergewicht säkularer Kräfte. Die Regierung glaubte, sich des Staatsapparats nur sicher sein zu können, wenn sie die eigenen Leute an den Schaltstellen der Bürokratie hat. Nach der Dekade (2002-2012) der engen Kooperation der Gülen-Bewegung mit der AKP-Regierung, als die säkularen Kräfte zum großen Teil entmachtet waren, entstand ein Machtkampf zwischen diesen beiden islamischen Akteuren um die Macht im Staate. So kam es zu dem Putsch und den Reaktionen darauf.
Warum scheiterte der Putsch?
Erstens, weil er nur von einer Minderheit des Militärs durchgeführt worden ist. Zweitens, weil er nicht innerhalb sondern gegen die Kommandostruktur abgelaufen ist. Ein anderer Grund, weshalb er scheiterte, ist, dass die
Was ist nach dem Putsch mit dem Militär und seiner Stellung im Staat passiert?
Staatsstreiche des Militärs haben sich in der türkischen Geschichte immer gegen Mitte-Rechts Regierungen gerichtet, deshalb haben Mitte-Rechts-Regierungen immer versucht, den großen Einfluss des Militärs in der türkischen Politik zu begrenzen. Dieser Einfluss rührt daher, dass die
Welche Auswirkungen hatte der Putsch auf die Gewaltenteilung in der Türkei?
Es ist wichtig, dass wir da von zwei Schritten sprechen. Erstens von der Situation direkt nach dem Putsch und den darauffolgenden zwei Jahren, in denen die Regierung den Ausnahmezustand erlassen hat. In dessen Rahmen hat sie sich zusätzliche Kompetenzen angeeignet und konnte mit Notverordnungen nach dem Ausnahmezustandsrecht regieren. Die Regierung konnte dadurch, ohne das Parlament von vornherein in Regelungen miteinzubeziehen, Gesetze erlassen und die bürokratischen Institutionen verändern. Eine zweite Periode begann, als die Regierung, noch unter dem Ausnahmezustand, ein Verfassungsreferendum zur Einführung des Präsidialsystems abgehalten und gewonnen hat. Das sind zwei Schritte zur Veränderung des gesamten politischen Systems. Bei der Gewaltenteilung sehen wir, dass sich der Einfluss der Exekutive auf die Judikative bereits in den Monaten und Wochen nach dem Putsch erheblich verstärkt hat – ganz einfach dadurch, dass die Regierung ganz offiziell viele Rechte und Grundfreiheiten durch die Erklärung des Ausnahmezustandes außer Kraft gesetzt hat. In dieser Zeit kam es zu sehr weitreichenden Säuberungen in der Bürokratie, die die Regierung selbst, ohne Gerichtsbeschluss, vorgenommen hat. Die Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft unterlagen nicht der Kontrolle des Verfassungsgerichts und Gerichtsentscheidungen gegen Maßnahmen hatten keine aufschiebende Wirkung. Bereits damals, in den Wochen nach dem Putsch, wurde so das Funktionieren der Judikative in großen Teilen ausgehebelt. Die Kompetenz des Parlaments wurde über die Möglichkeit, per Rechtsverordnung zu regieren, weitgehend beschnitten. Mit der Einführung des Präsidialsystems wurden diese Praktiken gewissermaßen festgeschrieben. Dadurch, dass z.B. der Staatspräsident in großem Maße die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und die Zusammensetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte bestimmt. Letzterer ist für die Ernennung der Richter an den niederen Gerichten verantwortlich, weshalb der Staatspräsident direkt in laufende Verfahren eingreifen kann. Des Weiteren wurden gleich in den ersten Wochen nach dem Putsch die Richter des Kassationsgerichtshof (das Revisionsgericht) und des Staatsrats (das höchste Verwaltungsgericht) komplett entlassen und die beiden hohen Gerichte gemäß den Vorstellungen der Regierung neu besetzt.
Welche politischen Narrative kursierten nach dem Putschversuch? Hat er zu einer weiteren politischen Polarisierung in der Türkei geführt – oder dominiert eher der Mythos eines geeinten Volkes, das sich gegen den Putschversuch gestellt hat?
Wir sahen nach dem Putsch eine große Solidarität mit der Regierung. Der Regierung gelang es, ein Narrativ zu etablieren, wonach die Bevölkerung den Putsch einhellig zurückgeschlagen und damit die Demokratie in der Türkei gerettet hat. Es gab direkt nach dem Putsch tatsächlich Solidarisierungserklärungen aller Parteien, einschließlich der Hauptoppositionspartei
Können Sie Genaueres zu den Verhaftungs- und Entlassungswellen im Nachgang des Putsches sagen? Wie wurden diese Maßnahmen im internationalen Kontext gesehen?
Die Säuberungen wurden außergewöhnlich schnell vorgenommen. Offensichtlich waren bereits Listen derjenigen vorbereitet, die man jetzt beschuldigte, Mitglied der Gülenisten zu sein, aber auch von anderen, die nicht auf Regierungslinie lagen. Das Klima nach dem Putsch wurde dazu benutzt, Akademiker, die sich kritisch zur
Wurde der Putsch politisch instrumentalisiert?
Der Putsch ist von der Regierung sicher politisch instrumentalisiert worden. Es besteht eigentlich kein Zweifel daran, dass die Regierung den Putsch einerseits dazu benutzt hat, um das Militär als politische Macht zu zerschlagen und gegen die Opposition, seien es Konservative, Säkulare, Gewerkschafter, Kurden oder kritische Akademiker, vorzugehen.
Kritikerinnen und Kritiker behaupten, der Putschversuch sei genutzt worden, um ein Verfassungsreferendum durchzuführen und das Präsidialsystem im Jahr 2017 einzuführen. Wie würden Sie das einordnen und bewerten?
Ich würde das unterschreiben. Schon die Ausrufung des Ausnahmezustandes war im Grunde nicht von Gesetzen gedeckt und erfolgte aus politischen Motiven. Denn bereits zwei bis drei Tage nach dem Putsch erklärten der Generalstab und die Regierung übereinstimmend, dass sie die Lage unter Kontrolle haben. Alle Parteien hatten sich mit der Regierung solidarisiert, und in der Bevölkerung gab es keinerlei Unterstützung des Putsches. Auch die Medien hatten sich einhellig gegen den Putsch ausgesprochen. Die gesamte Stimmung im Land war eine Anti-Putschisten-Stimmung, und die Lage war sicherheitsmäßig unter Kontrolle, deshalb gab es rechtlich keinen Grund den Ausnahmezustand auszurufen. Schon die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Nutzung der dadurch gegebenen erweiterten Kompetenzen im Sinne der Machterweiterung und der Machtverfestigung der Regierung zeigt, dass der Putsch politisch instrumentalisiert worden ist. Die Tatsache, dass der Ausnahmezustand dann für ganze zwei Jahre aufrechterhalten worden ist, so dass die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018, aber auch das Referendum zur Verfassungsänderung zur Einführung des Präsidialsystems unter Ausnahmezustandsrecht durchgeführt worden sind – mit den dadurch gegebenen Einschränkungen für die Opposition –, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass der Putsch im Sinne der Regierung instrumentalisiert worden ist.
Wodurch unterscheidet sich das
Durch den bestimmenden Einfluss des Präsidenten auf die Zusammensetzung der Gerichte und damit den Einfluss der Exekutive auf die Judikative. Ein weiterer Punkt ist die Konzentration aller exekutiven Macht in der Person des Staatspräsidenten. Im parlamentarischen System der Türkei wurde die Regierung, also die Ministerriege, vom Ministerpräsidenten zusammengestellt und vom Parlament bestätigt. In der Regel kamen die Minister aus den Reihen der Parlamentarier, das Parlament hatte gewisse Rechte, wie große und kleine Anfragen, es konnte der Regierung mit einfacher Mehrheit das Misstrauen aussprechen und die Regierung dadurch zum Rücktritt zwingen, ohne dass dies den Fortbestand des Parlaments beeinflusst hätte. Im heutigen Präsidialsystem in der Türkei ist es nun so, dass der Staatspräsident, sobald er direkt vom Volk gewählt ist, ohne Einfluss des Parlaments seine Minister außerhalb des Parlaments ernennt und das Parlament muss die Regierung, das Kabinett, nicht mehr bestätigen. Im parlamentarischen System in der Türkei hatte das Kabinett eine ganze Reihe von Funktionen z.B. bei der Ausrufung des Ausnahmezustandes, bei der Ernennung von Spitzenbürokraten, wie z.B. dem Präsidenten der Religionsbehörde oder der Besetzung des Chefs der Zentralbank. Im Präsidialsystem bestimmt Erdoğan diese Dinge alle alleine. Der Präsident ist vom primus inter pares („Erster unter Gleichen“) des Kabinetts zum alleinigen Inhaber der exekutiven Gewalt geworden. Wenn das Parlament den Staatspräsidenten zum Rücktritt zwingt, beschließt es damit seine eigene Auflösung. Die Wahlen des Staatspräsidenten und die Parlamentswahlen müssen immer zusammen stattfinden. Gleichzeitig hat das Parlament nur ein eingeschränktes Budgetrecht. Heute muss das Parlament zwar pro Forma dem vom Präsidentenamt vorgelegten Budget zustimmen, doch wenn es nicht zustimmt, kann der Präsident mit dem konjunkturell angepassten Budget des letzten Jahres weiter regieren. Durch den großen Einfluss der Regierung auf das Justizsystem gibt es heute eine viel größere Zahl an Parlamentariern, die damit konfrontiert sind, dass ihre parlamentarische Immunität aufgehoben werden kann. Das ist eine direkte Möglichkeit, Druck auf kritische Parlamentarier auszuüben. Über diesen Zugriff des Präsidenten auf die Justiz findet zurzeit eine nie dagewesene Kriminalisierung der Opposition statt. Das sind Einschränkungen der Handlungsfähigkeit des Parlaments und der politischen Parteien, die wir im parlamentarischen System nicht gekannt haben.
Wie sind die rechtsstaatlichen und demokratischen Zustände in der Türkei – auch im Lichte der Putschnacht – heute zu beurteilen?
Paradoxerweise trägt das von Erdoğan eingeführte Präsidialsystem zur Unterminierung seiner Macht bei. Denn die früher notorisch durch ideologische Gräben gespaltene Opposition hat heute mit der Ablehnung des Präsidialsystems und der faktischen Ein-Personen-Herrschaft des Staatspräsidenten einen gemeinsamen politischen Nenner gefunden. Der Regierung steht heute eine Front der Opposition gegenüber, die sich aus der sehr rechtslastigen
Interview: Tobias Brück, Redaktion: Baran Korkmaz