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Bildungspolitische Umbrüche in der Türkei

Meltem Kulaçatan

/ 11 Minuten zu lesen

Der türkische Staatspräsident Kemal Atatürk zeigt auf einer Tafel lateinische Buchstaben. (© picture-alliance/akg)

Die türkische Bildungspolitik ist eng mit der Gründungsgeschichte und den Modernisierungsprozessen der Türkei verbunden. Wesentlichen Merkmale der türkischen Bildungspolitik gehen dabei zurück auf die Gründungsphase der Republik Türkei und ihre Vorgeschichte, das Osmanische Reich. Sie ist zudem eng verschränkt mit den Transformationsprozessen der Kulturlandschaft und der politischen Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahr 1923, also noch im Jahr der Gründung der Republik Türkei, wollte der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) die landesweit hohe Analphabetismusquote bekämpfen und die strukturelle Bevorzugung von Jungen im Bildungssystem abschaffen. Sein Leitsatz war, dass ein modernes Land es sich nicht leisten könne, Mädchen von Schule und Bildung auszuschließen. Gleichzeitig wurden konfessionelle Bildungseinrichtungen geschlossen. Parallele Schulsysteme und die Verfestigung von Bildungseliten wurden nicht weiter geduldet.

Historische Hintergründe

Zu den größten Vorhaben des Staatsgründers Atatürk zählte die sogenannte kemalistische Kulturrevolution, die in kürzester Zeit einen modernen Nationalstaat schaffen sollte. Eines der einflussreichsten und kontrovers diskutierten Narrative, ausgehend von der Gründung der Republik Türkei, ist die Behauptung, der staatliche, moderne Schulsektor sei erst durch die kemalistische Kulturrevolution ermöglicht worden, dass durch sie allein die Modernisierung ihren Anfang und ihre Vollendung gefunden hätte. Das ist, wie im folgenden Verlauf noch zu zeigen sein wird, nur bedingt richtig.

Das neue Staatsprojekt adressierte alle Lebensbereiche der damals rund 13 Millionen Menschen in der Türkei (im Jahr 2020 zählt die Türkei etwa 83 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger). Sowohl die Etablierung der lateinischen Schrift als auch die damit verbundene landesweite Alphabetisierungskampagne und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gehörten zu dem täglich sichtbaren Teil dieses Umbruchs. Ziel war der Aufbau eines modernen türkischen Nationalstaates, der an Europa anschlussfähig sein sollte und dessen Bevölkerung aus fortschrittlich und solidarisch gesinnten Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern bestehen sollte.

Knapp skizziert, war zuvor das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert durch zwei Segmente im Bildungssystem gekennzeichnet: Zum einen durch so genannte formale Bildungsinstitutionen, die in ein staatliches und in ein religiös orientiertes Schulwesen unterteilt waren. Zum anderen gabe es militärische Bildungsinstitutionen, die allein Jungen vorbehalten waren. Das staatliche Schulwesen beinhaltete die Grundschule, in denen Kinder im Alter von fünf bis sechs Jahren, also insgesamt vier Jahre lang, unterrichtet wurden. Ihnen wurde das Lesen und Schreiben sowie osmanisches Türkisch als auch die Rezitation des Korans beigebraucht. Mädchen und Jungen wurden geschlechtergetrennt unterrichtet, wobei mehr Jungen als Mädchen am Schulunterricht teilnahmen. Eine allgemeine und verbindliche Schulpflicht existierte im 18. und 19. Jahrhundert des Osmanisches Reiches noch nicht.

Daneben gab es weiterführende religiös orientierte Schulen, die medrese, die wiederum in staatliche als auch private Schulen unterteilt waren. In den medrese wurden verschiedene Bereiche unterrichtet, Schwerpunkte waren u.a. der Islam, die Geschichte des Islams sowie naturwissenschaftliche, scholastische und medizinisch ausgerichtete Fächer. Die militärischen Schulen dienten zur Ausbildung der zukünftigen Soldaten im Osmanischen Reich. In diesen Schulen unterrichteten ausschließlich Angehörige des Militärs (Gemici: 2019).

Mit der Gründung der Republik Türkei (1923) sollte die Idee der Gleichberechtigung über den Bildungsweg erfolgen, indem die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde: Kein Kind sollte aufgrund seiner sozialen Herkunft, seiner Religionszugehörigkeit, seiner ethnischen Herkunft oder seines Geschlechts von der staatlichen Schulbildung ausgeschlossen werden.

Eines der wesentlichen Merkmale dieser Prozesse war die Zurückdrängung der Religion, des Islams, als öffentliches, soziales und politisches Bindeglied. Ein nach wie vor hartnäckiges Rechtfertigungsargument für die rigorose Verdrängung und Auflösung religiöser Institutionen (insbesondere die Verdrängung islamischer Symbole sowie die Schließung von Orten mystischer Heiligenverehrung) fußt auf der Behauptung, Atatürk sei Atheist gewesen und habe eine Aversion gegenüber dem Islam als Religion gehabt. Diese Argumentation wird aus religionskritischen Zitaten Atatürks, seinem säkularen Habitus, der Idee des Laizismus, die mit der Trennung von Religion und Staat einhergeht und seinem persönlichen Lebensstil abgeleitet. Diese Darstellung wird jedoch in der Türkei seit je her kontrovers diskutiert. Nicht weniger wichtig ist in diesem Zusammenhang aber Atatürks, für seine Zeit fortschrittliche, Sicht auf das Prinzip der Staatsbürgerschaft. Hier verfolgte er das sogenannte Geburtsortsprinzip (ius soli): Anders als noch zuvor im Millet-System (siehe Info-Kasten), galt jede in den neuen Staatsgrenzen geborene Person, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, als Türkin oder Türke (Belge 2001: 30–35). An die Stelle der Religion als Bindeglied der Gesellschaft im Osmansichen Reich trat nun die Nationalstaatlichkeit und somit die türkische Staatsbürgerschaft in den Mittelpunkt der identitätsstiftenden Merkmale. Darin liegt einer der größten Brüche zwischen der Gründung der Republik Türkei und dem Osmanischen Reich.

InfoMillet-System

Das Millet-System war ein fester Bestandteil im Osmanischen Reich, welches sowohl verwaltungsrechtliche als auch religionsrechtliche Bedeutung hatte. Millet war die Bezeichnung für die Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Der Begriff stammt vom arabischen Begriff milla ab, was Religion bedeutet. Auf der Basis des islamischen Rechts im Osmanischen Reich konnten die Religionsgemeinschaften im Rahmen einer Selbstverwaltung ihre religiösen Praktiken ausüben. Dazu gehörten beispielsweise Eheschließungen, Gottesdienste, das Zelebrieren von religiösen Feiertagen oder andere rechtliche Aspekte wie zum Beispiel das Erbrecht oder Bestattungsrituale.

Die Voraussetzung für das Millet-System war, dass sich die Menschen vorrangig über ihre Religion identifizierten und nicht etwa über ethnische oder nationale Zugehörigkeiten. Zugleich wurde den betroffenen Menschen ein Schutzstatus eingeräumt: Sie wurden als dhimmi bezeichnet. Dieses Konzept betraf Nicht-Musliminnen und Nicht-Muslime (vornehmlich Gläubige von schriftlich festgehaltenen Offenbarungsreligionen) unter islamischem Recht. Dieser Schutzstatus ermöglichte es ihnen, ihre Religion auszuüben, wenn sie eine entsprechende Steuer entrichteten , was für die männlichen erwachsenen und gesunden Religionsangehörigen galt. Frauen, Kinder, Bettler und geistig beeinträchtige Menschen mussten keine ǧizya entrichten. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch lässt sich das Millet-System am besten als Minderheitenpolitik im Rahmen der Glaubens- und Religionsfreiheit übersetzen: Sowohl der Bau von Gotteshäusern als auch die religiöse Selbstverwaltung oblag den Religionsgemeinschaften. Das heißt, dass die Menschen auf den eroberten Gebieten im Osmanischen Reich nicht zur Konversion zum Islam gezwungen wurden. Allerdings waren ihre Freiheiten neben der zu leistenden Steuerzahlung zum Teil eingeschränkt: dhimmis durften keine höheren Verwaltungsämter – außer, sie konvertierter zum Islam - ausüben. Zudem gab es Restriktionen hinsichtlich der Bekleidungsvorschriften.

Fußnoten

  1. cizye, arabisch; جزية, ǧizya, was als Kopfsteuer oder auch übersetzt wird; weitere Übersetzungen beziehen sich auf die damit einhergehende Wohltat und dem Schutz sowie der Schonung des Lebens der so genannten Schriftbesitzer.

Bruchlinien im Übergang vom Osmanischen Reich zur Republik

Erste Änderungen im osmanischen Bildungssystem hatte die Tanzimat-Periode (die Reformperiode zwischen 1839 und 1876) hervorgebracht. In dieser Zeit wurde bereits die Alphabetisierung aller Kinder und Jugendlichen geplant. Das bezog sowohl Mädchen als auch Jungen mit ein. Die Tanẓīmāt, abgeleitet aus dem arabischen Begriff niẓām (نِظَام) für "Anordnung", "Regelung" oder "Vorschrift", lässt sich am besten als Konsolidierungsvorhaben beschreiben. In dieser Zeit wurde die Modernisierung der sozialen und politischen Grundlagen des Osmanischen Herrschaftsraums verfolgt.

Die Bildungspolitik befand sich in dieser Zeit in einem dynamischen Prozess: Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Mädchen und junge Frauen aus der bürgerlichen, wohlhabenden Oberschicht vermehrt auch von ausländischen Lehrkräften unterrichtet. Es etablierten sich verschiedene religiöse und säkulare Initiativen in und um Konstantinopel (dem heutigen Istanbul), die sich an Mädchen und Frauen richteten und die sich an einem bürgerlich gemäßigten Habitus orientierten. Eine kulturelle und politische Metropole wie Konstantinopel, bzw. Istanbul zeichnete sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine sich etablierende bürgerlich geprägte Bildungslandschaft aus. Armenische und jüdische Lehrkräfte spielten hierbei eine maßgebliche Rolle. Die Soziologin Arus Yumul und der Historiker Rıfat N. Bali weisen diesbezüglich darauf hin, dass sich vor allem im Konstantinopel, bzw. Istanbul des 19. Jahrhunderts in Kreisen der jüdischen und der armenisch-christlichen Bevölkerung eine breit angelegte Organisationsstruktur etabliert hatte. Diese besaß eigene konfessionell orientierte Bildungseinrichtungen, wie etwa Schulen und Stiftungen (wobei die Stiftungen sowohl konfessionelle als auch nicht-konfessionelle Ausrichtungen besaßen). Neben den bereits bestehenden konfessionell orientierten Schulen bildete sich auch ein säkular orientiertes Schulsystem aus.)

Als weiteres Beispiel für den damit einhergehenden Säkularisierungsprozess im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert seien zudem auch die veränderten und individualisierten Eheanbahnungsprozesse genannt: Frauen und Männer inserierten in Heiratsannoncen ihre Eheabsichten (Toprak 2014: 50 -57). Der Historiker Zafer Toprak bezeichnet diese Annoncen in seinen Untersuchungen als alafranga (ebd.), also westeuropäisch. Toprak führt das auch auf den heterogenen hohen Anteil von Migranten und Migrantinnen in Konstantinopel, bzw. Istanbul zurück. Folglich trugen diese bereits früh zur Modernisierung der Metropole am Bosporus bei.

Westorientierung und Modernisierung, beides später vor allem eng mit dem Namen des türkischen Staatsgründers verknüpft, spielten bereits im 19. Jahrhundert bei unterschiedlichen Intellektuellen und Bildungsträgern eine Rolle (Yumul/Bali 2001: 363 f.). Auch in Zentralanatolien, also außerhalb des modernen Konstantinopels, bzw. Istanbuls, wurden säkular orientierte Schulen insbesondere von der armenischen Minderheit gegründet. Die Angehörigen dieser zivilgesellschaftlichen und politischen Prozesse stammten aus unterschiedlichen Milieus und gehörten dem Bildungsbürgertum des ausgehenden Osmanischen Staates an. Sie waren eng in den Austausch mit Europa eingebunden – sei es durch eigens unternommene Reisen, durch Studienaufenthalte oder die Unterrichtskulturen europäischer Lehrkräfte.

Kinder und Jugendliche im Fokus der Bildungspolitik

Der politische Umsturz 1923 durch die Gründung der türkischen Republik hat in diesen Vorgeschichten eine seiner Ursprünge. Das gilt insbesondere für die Bildungspolitik und die bildungspolitischen Umbrüche in der Türkei. Atatürk rückte Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt des nationalstaatlichen Projekts. Zwei türkische Nationalfeiertage, der 23. April (Ulusal Egemenlik ve Coçuk Bayramı – Feiertag der Internationalen Volkssouveränität und des Kindes) und der 19. Mai, gehen konkret auf diese Rahmung zurück: Am 23. April 1920 wurde das türkische Parlament, die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi, TBMM) gegründet. Mit dem 19. Mai wird zum einen an Atatürks Ankunft in Samsun im so bezeichneten "türkischen Befreiungskrieg" von 1919 bis 1923 gegen Großbritannien sowie griechische und armenische territoriale Interessensbestrebungen erinnert. Zum anderen wurde diese Tag zum Feiertag der Jugend und des Sports (Atatürk´ü Anma, Gençlik ve Spor Bayramı; Feiertag der Jugend, des Sports und an das Gedenken an Atatürk), als er das erste Mal am 19. Mai 1926 in Samsun zelebriert wurde und in seiner Gestaltung an die Eröffnungsfeierlichkeiten von Olympischen Spielen erinnerte.

Beide Feiertage führen also unterschiedliche politische Ideen und Diskursstränge zusammen – und dieses durchaus mit Bezug zu ähnlichen Konstellationen im Sinne einer international wirksamen, postkolonialen Vision: Befreiung, Moderne, Volkssouveränität, Parlamentarismus, Jugend und nationaler Aufbau. Darüber hinaus erteilen diese Feiertage mittelbar Auskunft über Atatürks persönliche Einstellung gegenüber Kindern und Jugendlichen: Für ihn waren sie die Hoffnungsträgerinnen und -träger der Zukunft. Das mag auf den ersten Blick banal klingen, zumal die begrifflichen Kombinationen aus Kindern, Jugend und Zukunft zuweilen inflationär verwendet werden. In Anbetracht der Familiendynastie, auf der die Osmanische Regentschaft fußte, war diese neue gesellschaftspolitische Perspektive aber bedeutsam: Zum ersten Mal wurden alle Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer Ambitionen gestellt.

Kritik

Es gibt unterschiedliche Einschätzungen zu den Umsetzungen der bisher erläuterten Zielvorhaben in der jungen türkischen Republik. Kritikerinnen und Kritiker sprechen von einer Konstruktion der Stunde Null, die eng mit der Person des Politikers Mustafa Kemal Atatürk verwoben ist. Dadurch sei auf ihn allein die Modernisierung der Türkei zurückzuführen. Diese Sicht vernachlässige die bereits vorhandenen und früheren infrastrukturellen Bedingungen in der Bildungs-, Kultur- und Stiftungslandschaft für die Umsetzung des Modernisierungsvorhabens und haben daher zunächst keinen Eingang in die Gründungsnarrative gefunden.

Politikum: Imam Hatip Schulen

Ein besondere Schulform in der Türkei ist die "Imam-Hatip-Schule" (imam hatip liseleri – Imam-Hatip-Gymnasien). Zunächst waren sie als Ausbildungsschulen für die höhere Beamtenlaufbahn - für Religionsbeamte - konzipiert, und zwar mit Blick auf die im Jahr 1924 gegründete Religionsbehörde Diyanet. Das Ziel war es, "aufgeklärte Religionsbeamte" auszubilden. Diese Schulen wurden jedoch einige Jahre später (1929/1930) wegen zu geringer Schülerzahlen geschlossen. Erst ab dem Jahr 1949 wurden sie für (männliche) Schüler wieder geöffnet, die sich als Absolventen der Mittelschule in zehnmonatigen İmam-Hatip-Kursen zu Vorbetern und Predigern ausbilden lassen konnten. Der Schwerpunkt der damaligen Imam-Hatip-Schulen lag in der religiösen Ausbildung und Wissensvermittlung.

Im Jahr 1951, im Rahmen der Reformen des damaligen konservativen Ministerpräsidenten Adnan Menderes (DP: Demokrat Parti/Demokratische Partei), wurden sie als vollwertige Schulen wieder gegründet. Diese Wiedereröffnung ging mit einer Wiederherstellung religiöser Sichtbarkeiten in der Öffentlichkeit einher: So wurde etwa der Gebetsruf (Türkisch "ezan") ab dem 16. Juni 1950 erstmals wieder auf Arabisch anstelle von Türkisch gesprochen, was bislang verboten war. Die Mittelstufe der Imam-Hatip-Schulen wurde im Zuge dieser Reformen zudem um die Oberstufe erweitert, so dass das Abitur und ein Hochschulstudium angestrebt werden konnten. In den darauffolgenden nächsten zwei Jahrzehnte erfuhren die Imam-Hatip-Schulen sowohl einen größeren Zulauf als auch eine breitere Unterstützung durch die amtierenden Regierungen.

Nach dem Militätputsch im Jahr 1971 erfolgte eine Zäsur, indem die Sekundarstufen an den Imam-Hatip-Schulen geschlossen wurden und den Absolventinnen und Absolventen die Zugangsberechtigung zur Hochschule abgesprochen wurde. Die Wiedereröffnung erfolgte im Jahr 1974. Im Jahr 1976 wurden die Imam-Hatip-Schulen nach einer erfolgreichen Klage betroffener Eltern auch für Mädchen geöffnet. Auch in den folgenden Jahren rissen die Kontroversen um diese Schulform nicht ab. Im Jahr 1997 erfolgte eine weitere Zäsur: Der so genannte "sanfte" Militärputsch gegen die Regierung des damals amtierenden islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan (Refah Partisi, Wohlfahrtspartei) führte zur Abschaffung der Sekundarstufe in den Imam-Hatip-Schulen, was ihre Bedeutung deutlich schmälerte.

Mit der Schulreform der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan (AKP) im Jahr 2012/2013 wurde die Sekundarstufe nun wieder eingeführt. Dienten die Imam-Hatip-Schulen bis vor wenigen Jahren "nur" der Imamausbildung, erfuhren sie beginnend mit dem Schuljahr 2012/2013 eine Aufwertung. Zudem ist der Besuch einer Imam-Hatip-Schule seitdem schon ab der Mittelstufe (Türkisch "orta okul") möglich. Sie wurden durchlässiger, da sie nun auch für die Sekundarstufe I geöffnet (obere Mittelstufe) wurden.

Die Transformation der Imam-Hatip-Schulen, als Beispiel besonders religiös orientierten Schulen, steht für ideologische Konjunkturen in der Türkei (Tanrıkulu/Uçar: 2019, 20-21). Insgesamt dauern die Diskussionen um Eingriffe in diese Schulform bis heute an, zumal über die generelle Qualität der Imam-Hatip-Schulen Uneinigkeit besteht. Befürworterinnen und Befürworter loben die hochwertige strukturelle Ausstattung der Schulen. Kritikerinnen und Kritiker hingegen zweifeln an der Qualität des Unterrichts, da lediglich 38 Prozent (im Jahr 2018) der Schülerinnen und Schüler die Zulassung für ein Hochschulstudium erreichten (damit ist nicht das Abitur gemeint, sondern die erfolgreiche Teilnahme an der zentralen Prüfung für die Zulassung an eine Hochschule). Eine weitere Kritik wird dahingehend formuliert, dass durch eine Aufwertung der Imam-Hatip-Schulen religiöse Indoktrination zunehmen könnte. Angesichts der schlechten Ausstattung an den staatlichen Schulen, fungierten die Kontroversen über die Imam-Hatip-Schulen zuweilen als Stellvertreterdebatten über das Bildungssystem an sich. Trotz aller Kritik bilden die Imam-Hatip-Schulen heute eine eigene, wichtige, wenn auch nach wie vor umstrittene Schulform.

Zusammenfassung

Die Bildungspolitik war einer der wichtigsten Bestandteile im Modernisierungsprozess während der Gründung der Türkischen Republik. Die Grundlagen für die Neujustierungen in der Bildungs- und Kulturlandschaft fußten auf den bereits bestehenden strukturellen Veränderungsprozessen des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. Ein wesentlicher Schritt war dabei die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und die Vereinheitlichung des Schulwesens: Parallel auftretende Schulformen wurden zunächst verboten und erfuhren erst mit der Einführung des Mehrparteiensystems ab dem Jahr 1949 eine Aufwertung. Die Diskussionen um die Ausrichtungen sowie Effekte dieser Schulformen, zu denen auch die Imam-Hatip-Schulen und bis vor kurzem die Schulen und Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegung dazugehörten, dauern weiterhin an.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe dazu: Günay, Cengiz (2012): Geschichte der Türkei. Von den Anfängen der Moderne bis heute. Wien. UTB. 154–170.

  2. Fığlalı, Ethem Ruhi (1993): Atatürk and the Religion of Islam. Atatürk Araştırma Merkezi Dergisi, Sayı 26, Cilt: IX.

  3. Kuyaş, Ahmet (Hg.) (2002): Berkes, Niyazi: Türkiye’de Cağdaşlaşma. Istanbul: Yapı Kredi Yayınları, 229-244.

  4. Zafer: Türkiye’de kadın özgürlüğü ve feminizm (1908 – 1935), Istanbul, 153 – 202.

  5. Yumul, Arus/Bali, Rıfat N.: Ermeni ve Yahudi Cemmatlerinde Siyasal Düşünceler, in: Tanil, Bora/Gültengil, Murat (Hg.): Cumhuriyet’e Devreden Düşünce Mirası. Tanzimat ve Mesrutiyet’in Birikimi, Iletisim Yayincilik, 2001, 362 – 363.

  6. Als gesichert darf laut Yumul und Bali indes gelten, dass die hohe Dynamik in der türkischen Bildungslandschaft durch den Einfluss des westeuropäischen politischen und gesellschaftlichen Liberalismus verstärkt wurde. (An dieser Stelle sei angemerkt, dass es zwischen diesen Prozessen und der Etablierung bildungsbürgerlicher Ideale und bekenntnisfreier Schulen in Deutschland zu Zeiten der Weimarer Republik sehr interessante Parallelen gab; hier müsste noch einmal vertieft auf die damals in Berlin lebende türkische Diaspora geblickt werden.

  7. Akşin, Sina (2009): Atatürk Devrimin Felsefesi; Externer Link: https://bilimveutopya.com.tr/index.php/ataturk-devriminin-felsefesi; zuletzt geöffnet am 21.06.2020).

  8. Er folgte damit ähnlichen republikanischen und ursprünglich antikolonialen Narrativen anderer großer islamischer Gebiete, etwa etwa Indonesien.

  9. Siehe dazu: Externer Link: https://www.cnnturk.com/yasam/ataturkun-cocuklarla-ilgili-soyledigi-sozler?page=1; zuletzt geöffnet am 21. Juni 2020; die hier genannten Zitate stammen von Mustafa Kemal Atatürk, die er an die Kinder und Jugendlichen adressiert, Anm. d. Verf.).

  10. Hangi hükümet döneminde kaç tane İmam Hatip açıldı: Externer Link: https://odatv4.com/hangi-hukumet-doneminde-kac-tane-acildi-0301131200.html, 03.01.2013; zuletzt geöffnet am 20. Juli 2020.

  11. Karakaş, Burcu: İmam hatip okullarının sayısı kadar başarısı da artıyor mu?: https://www.dw.com/tr/imam-hatip-okullarının-sayısı-kadar-başarısı-da-artıyor-mu/a-49904849, 06.08.2019; zuletzt geöffnet am 20.07.2020.

Dr. Meltem Kulaçatan studierte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Islamische Religionspädagogik und Diplom Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Moderner Vorderer Orient. Sie war Gastprofessorin an der Universität Zürich und zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe Universität Frankfurt/Main. Frau Kulaçatan ist Mitglied im Rat für Migration und Sprecherin der Sektion Gender und forscht besonders zu den Themen Religion, Politik und Bildung in der zeitgenössischen Türkei.